dann öffnete sie die Glastüre zum Laden und sagte ruhig: »Adolf«. Herr Verloc hatte seine Stellung nicht verändert. Er hatte anscheinend während anderthalb Stunden kein Glied gerührt. Er stand schwerfällig auf und kam zum Abendessen, im Überzieher, mit dem Hut auf dem Kopf und ohne ein Wort zu sagen. Sein Schweigen allein hatte nichts Verwunderliches, in diesem Haushalte, der tief in dem Schatten der schmutzigen Gasse, wohin kaum je die Sonne drang, verborgen war, hinter dem Laden mit seinem zweifelhaften Kram. Nur war Herrn Verlocs Schweigsamkeit an diesem Tage so auffallend nachdenklich, daß sich die beiden Frauen darüber Gedanken machten. Sie saßen selbst schweigend da und hatten ein wachsames Auge auf den armen Stevie, damit er nicht etwa in einen seiner Anfälle von Gesprächigkeit ausbreche. Er sah Herrn Verloc über den Tisch weg an und saß still und brav mit leerem Blick. Das ständige Bestreben, ihn davon abzuhalten, daß er sich dem Herrn des Hauses lästig bemerkbar machte, brachte in das Leben der beiden Frauen eine beträchtliche Sorge. »Der Junge«, wie sie ihn untereinander milde nannten, war fast vom Tage seiner Geburt an eine Quelle solcher Sorgen gewesen. Die Demütigung, die der selige konzessionierte Gastwirt bei dem Gedanken empfand, ein so ganz eigenartiges Geschöpf zum Sohn zu haben, hatte sich in eine Neigung zu übertriebener Strenge umgesetzt, denn er war feinfühlend in seiner Art, und sein Schmerz als Vater und Mann war durchaus echt. Späterhin mußte Stevie davon abgehalten werden, die Junggesellen, die zur Miete wohnten, zu behelligen, denn diese sind, wie man weiß, ein wenig querköpfig und leicht verärgert, und überdies blieb noch der ständige Kummer um sein nacktes Dasein. Der Gedanke, ihr Kind in einem Krüppelheim in Zwangserziehung zu haben, hatte die alte Frau in dem Frühstückszimmer des ehemaligen Hauses am Belgravia-Platz oft und oft schwer bedrückt. »Wenn du nicht einen so guten Mann gefunden hättest, meine Liebe,« pflegte sie zu ihrer Tochter zu sagen, »dann weiß ich nicht, was aus dem armen Jungen geworden wäre.«
Herr Verloc zeigte für Stevie einen Grad von Aufmerksamkeit, wie ihn etwa ein Mann, der Tiere nicht besonders mag, für die Lieblingskatze seiner Frau übrig haben könnte. Seine Aufmerksamkeit, wohlwollend und oberflächlich, war tatsächlich genau dieser Art. Beide Frauen gaben innerlich zu, daß man von Rechts wegen nicht viel mehr erwarten konnte. Es genügte auch, um Herrn Verloc die ehrerbietige Dankbarkeit der alten Frau zu sichern. In der ersten Zeit, mißtrauisch gemacht durch die Härte der freudlosen Jahre, fragte sie manchmal ängstlich: »Du glaubst nicht, mein Kind, daß Herr Verloc es satt bekommt, den kleinen Stevie unter Augen zu haben?« Darauf pflegte Winnie immer nur mit einem leichten Kopfschütteln zu antworten. Nur einmal gab sie mit fast ingrimmiger Entschlossenheit zurück: »Dann müßte er mich zuerst satt bekommen.« Ein langes Schweigen war gefolgt. Die Mutter hatte die Beine auf einem Stuhl gelagert und schien zu versuchen, diese Antwort zu ergründen, deren weibliche Tiefe ihr ans Herz gegriffen hatte. Sie hatte es niemals wirklich verstanden, warum Winnie Herrn Verloc geheiratet hatte. Es war sehr vernünftig gewesen und war auch zum besten ausgeschlagen, doch ihre Tochter hätte doch wohl Aussicht gehabt, einen Mann in jüngeren Jahren zu finden. Ein gesetzter junger Mann war dagewesen, der einzige Sohn eines Fleischers in der Nachbarstraße, der seinem Vater im Geschäft half und mit dem Winnie augenscheinlich gerne ausgegangen war. Allerdings war er von seinem Vater abhängig, aber das Geschäft war gut und seine Aussichten glänzend. Er hatte ihre Tochter mehrmals ins Theater geführt; als sie aber grade zu fürchten begonnen hatte, von der Verlobung der beiden zu hören (denn was hätte sie mit dem großen Haus anfangen sollen, allein und noch mit Stevie auf dem Hals), da fand die Idylle ein jähes Ende, und Winnie ging ganz verstört herum. Zugleich tauchte Herr Verloc auf, wie von der Vorsehung geschickt, mietete das Vorderzimmer im ersten Stock, und von dem jungen Fleischer war nicht mehr die Rede. Es war ganz offenbar eine Fügung.
III
»… jede Verklärung macht das Leben ärmer. Es verschönern, heißt ihm seine Vielgestaltigkeit nehmen, heißt: es zerstören. Überlassen Sie das den Moralisten, mein Junge; wohl wird die Geschichte von den Menschen gemacht, sie machen sie aber nicht in ihren Köpfen, die Gedanken, die in ihrem Bewußtsein auftauchen, spielen im Lauf der Ereignisse nur eine untergeordnete Rolle. Die Geschichte wird beherrscht und gelenkt durch Werkzeug und Arbeit – durch die Macht der wirtschaftlichen Verhältnisse. Der Kapitalismus hat den Sozialismus erzeugt, und die Gesetze, die der Kapitalismus zum Schutz des Eigentums erlassen hat, sind die Ursache des Anarchismus. Niemand kann sagen, welche Formen die Gesellschaft in der Zukunft annehmen wird. Warum also sich in Wahrsagereien verlieren, die doch bestenfalls nur die Meinung des Wahrsagers dartun und keinen tatsächlichen Wert haben können? Überlassen Sie diesen Zeitvertreib den Moralisten, mein Junge.«
Michaelis, der Bewährungsfristapostel, sprach mit gleichmäßiger Stimme, die nur etwas keuchend klang, als ob sie sich mühsam durch die Fettpolster auf seiner Brust durcharbeiten müßte. Er war aus einem höchst hygienischen Gefängnis gekommen, rund wie ein Kessel, mit ungeheurem Bauch und verquollenen Wangen von bleicher, halb durchsichtiger Färbung, als hätten fünfzehn Jahre lang die Diener einer beleidigten Gesellschaft ihren Ehrgeiz hineingesetzt, ihn in einem dumpfen und lichtlosen Keller mit nahrhaften Speisen zu mästen; und seither war es ihm nicht gelungen, auch nur eine Unze von seinem Gewicht zu verlieren.
Man erzählte sich, daß eine sehr reiche alte Dame ihn drei Badezeiten hintereinander zur Kur nach Marienbad geschickt hatte – wo er sich einmal in die öffentliche Aufmerksamkeit mit einem gekrönten Haupt teilen durfte. Doch hatte ihm die Polizei damals befohlen, innerhalb zwölf Stunden abzureisen. Seine Marter wurde noch verschärft, indem man ihm den weiteren Zutritt zu den heilkräftigen Wassern verbot; nun aber hatte er entsagt.
Seinen Ellenbogen, der keine Spur eines Gelenkes zeigte, sondern nur wie eine Biegung im Glied eines Strohmanns wirkte, hatte er über eine Sessellehne gelegt und beugte sich über seine kurzen und ungeheuren Schenkel leicht vor, um ins Feuer zu spucken.
»Jawohl, ich hatte Zeit, die Dinge ein wenig durchzudenken«, fügte er gleichmütig hinzu. »Die Gesellschaft hat mir Zeit genug zu Betrachtungen gegeben.«
Auf der anderen Seite des Kamins, in dem roßhaargepolsterten Lehnstuhl, in dem zu sitzen sonst Frau Verlocs Vorrecht war, kicherte nun Karl Yundt böse aus verzerrtem, zahnlosem Munde. Der Terrorist, wie er sich selbst nannte, war alt und kahl, mit einem schmächtigen, schneeweißen Ziegenbart, der lose von seinem Kinn baumelte. Ein ungewöhnlicher Ausdruck verhaltener Bosheit lebte noch in seinen erloschenen Augen. Als er sich mühsam erhob und dabei seine häutige Greifhand, durch Gichtknoten entstellt, vorschleuderte, da erinnerte diese Bewegung an die Anstrengung eines sterbenden Mörders, der den Rest seiner Kraft zu einem letzten Dolchstoß zusammennimmt. Er stützte sich auf einen dicken Stock, der in seiner anderen Hand zitterte.
»Ich habe immer geträumt«, bellte er, »von einer Schar von Männern, eiskalt entschlossen, keine Bedenken in der Wahl der Mittel gelten zu lassen; stark genug, sich selbst die Zerstörer zu nennen, und frei von der entsagenden Schwarzseherei, an der die Welt verfault. Kein Mitleid für irgend etwas auf Erden, sich selbst mit eingeschlossen, und den Tod von Rechts wegen in den Dienst der Menschheit gestellt – das hätte ich gern sehen mögen.«
Sein kleiner, kahler Kopf bebte und brachte den Zipfel des Geißbarts in lächerliche Schwingungen. Seine Auslassung wäre für einen Fremden wohl völlig unverständlich gewesen. Seine abgelebte Leidenschaft, die in ihrer kraftlosen Wut an die Erregung eines alten Wüstlings gemahnte, gewann nicht durch die trockene Kehle und die zahnlosen Kiefer, die seine Zungenspitze zu fangen schienen. Herr Verloc, der in der Ecke des Sofas an der anderen Zimmerwand lehnte, ließ zweimal ein herzhaftes Beifallsknurren hören.
Der alte Terrorist drehte langsam seinen häutigen Hals von Seite zu Seite.
»Und es ist mir nie gelungen, jemals auch nur drei solche Männer zusammen zu bringen. Soviel für deine verfaulte Schwarzseherei«, zischte er zu Michaelis hin, der seine dicken Beine, die wie Kissen aussahen, auseinander schlug und zum Zeichen der Verzweiflung seine Füße heftig unter den Stuhl schob.
Er, ein Schwarzseher! Unsinn! Er schrie auf, daß der Vorwurf Niedertracht sei. Schwarzseherei lag ihm so fern, daß er schon das Ende allen persönlichen