Er freute sich über die neuentdeckte Abwechslung, konnte aber nichts anderes mehr finden. »Aber jetzt ist er tot«, war alles, was ihm einfiel. Und in den vorsichtigen Ausruf legte er ein beträchtliches Maß von Feindseligkeit. Frau Verloc griff beinahe fieberhaft nach seinem Arm. »So hast du also erraten, daß er tot ist«, flüsterte sie ganz außer sich. »Du! Du hast erraten, was ich tun mußte! Tun mußte!«
In dem unbestimmbaren Ton dieser Worte klang Frohlocken, Erlösung und Dankbarkeit mit. Ossipons Aufmerksamkeit wurde weit über die Grenze seines sonstigen Künstlerstolzes hinaus angespannt. Er fragte sich, was wohl mit ihr los war, warum sie sich in diesen Zustand wilder Erregung hineingesteigert hatte. Er begann sogar sich zu fragen, ob nicht die ganze Sache in Greenwich Park in der unglücklichen Ehe der Verlocs ihren Grund hatte. Er ging so weit, Herrn Verloc zu verdächtigen, daß er diese außergewöhnliche Art des Selbstmordes gewählt habe. Bei Gott, das konnte die völlige Sinnlosigkeit und Torheit des Anschlages erklären! Eine anarchistische Kundgebung war nach Lage der Dinge nicht erfordert. Ganz im Gegenteil; und Verloc wußte das so genau wie jeder andere Revolutionär seines Grades. Was mußte es für einen Spaß geben, wenn Verloc einfach ganz Europa zum Narren gehalten hatte, die revolutionäre Welt, die Polizei, die Presse und den griesgrämigen Professor noch dazu. Tatsächlich, dachte Ossipon verwundert, schien es fast sicher, daß er das getan hatte! Armer Teufel! Plötzlich leuchtete ihm auch die Möglichkeit ein, daß von den zwei Eheleuten vielleicht nicht gerade der Mann der Teufel gewesen war.
Alexander Ossipon, mit dem Spitznamen der Doktor; war von Natur zu nachsichtigem Urteil über seine Freunde geneigt. Er sah nach Frau Verloc, die an seinem Arm hing. Über seine Freundinnen urteilte er in erster Linie von praktischen Gesichtspunkten aus. Frau Verlocs Entzücken über sein Wissen um Herrn Verlocs Tod, der ja durchaus kein Rätselraten gebraucht hatte, beschäftigte ihn nicht übermäßig. Sie redeten oft wie die Narren. Er war aber neugierig, wie sie davon erfahren haben mochte. Die Zeitungen konnten ihr nichts gesagt haben, außer der blanken Tatsache: daß der in Greenwich Park zerrissene Mann nicht erkannt worden war. Es war auf keine Weise denkbar, daß Verloc ihr etwa seine Absicht – welche es auch gewesen sein mochte – angedeutet haben konnte. Diese Frage reizte den Genossen Ossipon ungemein. Er blieb kurz stehen. Sie hatten die drei Seiten von Brett Place abgeschritten und waren wieder nahe bei der Mündung der Brett Street.
»Wie hast du es zuerst erfahren?« fragte er, in einem Ton, den er den Enthüllungen der Frau anzupassen suchte.
Sie schauderte heftig, bevor sie mit klangloser Stimme antworten konnte: »Durch die Polizei. Ein Hauptinspektor kam. Hauptinspektor Heat nannte er sich. Er zeigte mir eine –«
Frau Verloc würgte. »O Tom, sie mußten ihn mit einer Schaufel zusammenkratzen.«
Ihre Brust bebte von trockenem Schluchzen. Im Augenblick fand Ossipon die Sprache wieder.
»Die Polizei! Willst du sagen, daß die Polizei schon da war? Daß Hauptinspektor Heat persönlich es dir sagen kam?«
»Ja«, bestätigte sie mit derselben klanglosen Stimme.
»Er kam. Gerade so. Er kam. Ich wußte nichts. Er zeigte mir einen Fetzen vom Überrock und – Gerade so. ›Kennen Sie das‹, sagte er.«
»Heat! Heat! Und was tat er?«
Frau Verloc ließ den Kopf sinken. »Nichts. Er tat nichts. Er ging weg. Der Mann hatte die Polizei auf seiner Seite«, murmelte sie trostlos. »Es kam auch noch ein anderer.«
»Ein anderer – ein anderer Inspektor?« fragte Ossipon in größter Erregung, ganz im Ton eines erschreckten Kindes.
»Ich weiß nicht. Er kam. Er sah wie ein Ausländer aus. Vielleicht war es einer von den Gesandtschaftsleuten.«
Genosse Ossipon brach unter dem neuen Schlag fast zusammen.
»Gesandtschaft! Weißt du denn, was du da sagst? Welche Gesandtschaft? Was in aller Welt meinst du mit Gesandtschaft?«
»Die in Chesham Square. Die Leute, die er so verfluchte. Ich weiß nicht. Was ist denn auch dabei?«
»Und der Mensch – was tat er oder sagte er dir?«
»Ich erinnere mich nicht … nichts … es ist mir gleich. Frage mich nicht«, bat sie müde.
»Schon gut. Ich will’s nicht mehr tun«, gab Ossipon zärtlich nach, und das war ehrlich gemeint, nicht etwa weil er von der bittenden Stimme gerührt war, sondern weil er den Boden unter seinen Füßen schwinden fühlte, angesichts der Abgrundtiefe dieser dunklen Geschichte. Polizei! Gesandtschaft! Teufel! Aus Angst, seinen Verstand Wege gehen zu lassen, die zu erhellen sein natürliches Licht vielleicht nicht ausreichen konnte, verbannte er gewaltsam alle Vermutungen, Annahmen und Grübeleien aus seinem Kopf. Da war die Frau, die sich ihm geradezu an den Hals geworfen hatte, und das war die Hauptsache. Nach allem, was er gehört, konnte ihn aber nichts mehr überraschen, und als ihn Frau Verloc, wie plötzlich aus einem schönen Traum geschreckt, wild anflehte, sofort mit ihr aufs Festland zu fliehen, da fuhr er durchaus nicht auf. Er sagte nur mit echtem Bedauern, daß vor dem nächsten Morgen kein Zug ginge, und blieb stehen. Im Scheine einer Gaslampe, die in einem Nebelschleier steckte, sah er gedankenvoll in ihr schwarz verschleiertes Gesicht.
Dicht neben ihm verlor sich ihre Gestalt in der Nacht, wie eine Figur, die aus einem schwarzen Steinblock halb herausgemeißelt ist. Es war unmöglich zu sagen, was sie wußte, wie weit sie mit Polizei und Gesandtschaft verbündet war. Wollte sie aber fort, so war es nicht seine Sache, ihr zu widersprechen. Er selbst wünschte sich fort. Er fühlte, daß dieser Laden, Hauptinspektoren und Mitgliedern fremder Gesandtschaften so vertraut, für ihn selbst nicht der rechte Platz war. Den mußte man fahren lassen. Aber da war ja noch das andere. Die Ersparnisse, das Geld!
»Du mußt mich bis zum Morgen irgendwo verstecken«, sagte sie furchtsam.
»Die Sache ist die, meine Liebe, daß ich dich nicht zu mir nehmen kann. Ich teile das Zimmer mit einem Freunde.«
Er fürchtete sich selbst ein wenig. Morgen würden die verdammten Kriminaler gewiß an allen Bahnhöfen stehen, und wenn die sie einmal in die Hände bekamen, aus dem oder jenem Grund, dann war sie ihm tatsächlich verloren.
»Du mußt aber. Hast du mich denn gar nicht lieb, gar nicht ein bißchen lieb?« fragte sie. »Woran denkst du?«
Das klang heftig, doch ließ sie ihre Hand entmutigt niedersinken. Sie schwieg, während der Nebel fiel und die Dunkelheit ungehemmt über Brett Place herrschte. Keine Seele, nicht einmal die irrende, verliebte Seele einer Katze, kam in die Nähe des Mannes und der Frau, die einander ansahen.
»Vielleicht wäre es möglich, irgendwo eine sichere Unterkunft zu finden«, sagte Ossipon schließlich. »Die Wahrheit ist aber, meine Liebe, daß ich nicht genug Geld habe, um es versuchen zu können – nur einige Pence. Wir Revolutionäre sind nicht reich.«
Er hatte fünfzehn Schillinge in der Tasche. Und nun fuhr er fort:
»Und dann haben wir die Reise vor uns – als erstes gleich am Morgen.«
Sie regte sich nicht, gab keinen Laut, und dem Genossen Ossipon sank der Mut. Augenscheinlich hatte sie keine Anregung zu geben. Plötzlich griff sie nach ihrer Brust, als hätte sie dort einen scharfen Schmerz empfunden.
»Aber ich,« hauchte sie, »ich habe Geld. Ich habe Geld genug. Tom! Komm fort von hier!«
»Wieviel hast du?« fragte er, ohne sich vom Fleck zu rühren; denn er war ein vorsichtiger Mann.
»Ich habe das Geld, sage ich dir, das ganze Geld.«
»Was meinst du damit? Das ganze Geld, das auf der Bank war? Oder was?« sagte er ungläubig, doch entschlossen, sich von keinem Glücksfall überraschen zu lassen.
»Ja, ja«, sagte sie zappelig. »Alles, was da war. Ich habe alles.«
»Wie zum Teufel hast du es fertiggebracht, es jetzt schon abzuheben«, wunderte er sich.
»Er gab es mir«, murmelte sie, mit einem Male zitternd ergeben.
Genosse