Джозеф Конрад

Gesammelte Werke von Joseph Conrad


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waren gemessen. Gemessen genug, daß Herr Verloc das Glied und die Waffe erkennen konnte.

      Sie waren gemessen genug, um ihm die volle Erkenntnis der Gefahr zu ermöglichen und den Geschmack der Todesangst in seinen Mund zu bringen. Sein Weib war wahnsinnig geworden – tollwütig. Sie waren gemessen genug, um die erste lähmende Wirkung der Entdeckung vorübergehen und eine schnelle Überlegung reifen zu lassen, wie er aus dem Kampf mit der bewaffneten Irren siegreich hervorgehen könnte. Sie waren gemessen genug, daß Herr Verloc einen Plan ausarbeiten konnte, wie er hinter den Tisch springen und das Weib mit einem schweren Holzstuhl zu Boden schlagen würde. Und doch waren sie nicht gemessen genug, als daß Herr Verloc noch Zeit gehabt hätte, Hand oder Fuß zu rühren. Das Messer stak schon in seiner Brust, es traf auf keinen Widerstand. Der Zufall konnte so spielen.

      In diesen wuchtigen, über die Lehne des Sofas weg geführten Stoß hatte Frau Verloc alles gelegt, was von ihren unbekannten, niedrigen Vorfahren her in ihr lebte; die tierische Rohheit der Höhlenzeit und die nervöse Hemmungslosigkeit dieses Zeitalters der Schenkdielen. Herr Verloc, der Geheimagent, drehte sich unter dem Stoß leicht zur Seite und verschied, ohne ein Glied zu rühren, mit einem halb geflüsterten »Nicht!« auf den Lippen.

      Frau Verloc hatte das Messer fahren lassen und ihre außergewöhnliche Ähnlichkeit mit ihrem verstorbenen Bruder war bis auf das gewöhnliche Maß verschwunden. Sie holte tief Atem, leicht und frei zum ersten Male, seit Hauptinspektor Heat ihr den Fetzen von Stevies Überrock gezeigt hatte. Sie lehnte sich mit gekreuzten Armen auf die Lehne des Sofas. Diese bequeme Stellung nahm sie nicht ein, um Herrn Verlocs Leichnam zu betrachten oder gar sich daran zu weiden, sondern nur wegen der wellenförmigen Bewegung des Wohnzimmers, als stünde es in einem Unwetter auf hoher See. Sie war schwindlig, aber ruhig. Sie war ein freies Weib geworden, von einer so vollendeten Freiheit, daß ihr nichts zu wünschen und gar nichts mehr zu tun blieb, da Stevies berechtigte Ansprüche auf ihre Liebe aufgehört hatten zu sein. Frau Verloc, die in Bildern dachte, hatte nun nicht mehr unter Gesichten zu leiden, weil sie überhaupt nicht dachte. Sie regte sich nicht. Sie war eine Frau, die sich einfach ihrer völligen Unverantwortlichkeit und Muße erfreute, fast in der Art eines Leichnams. Sie regte sich nicht. Sie dachte nicht, ebensowenig wie die sterbliche Hülle des verblichenen Herrn Verloc auf dem Sofa. Abgesehen von der Tatsache, daß Frau Verloc atmete, befanden sich die beiden in schöner Übereinstimmung: in der Übereinstimmung, die auf kluger Zurückhaltung, ohne überflüssige Worte und Gebärden, aufgebaut und die Grundlage ihrer ehrbaren Häuslichkeit gewesen war. Denn sie war ehrbar gewesen und hatte mit schicklichem Schweigen die Fragen übergangen, die sich bei der Übung eines Geheimerwerbs und dem Handel mit unsauberen Waren ergeben mögen. Bis zum letzten Augenblick war die äußere Form gewahrt und unziemliches Geschrei und sonstige offenherzige Aufführung vermieden worden. Und nachdem der Streich gefallen war, setzte sich diese Ehrbarkeit in Reglosigkeit und Schweigen fort.

      Nichts rührte sich, bis Frau Verloc langsam den Kopf hob und mißtrauisch nach der Uhr sah. Ihr war ein Ticken im Zimmer zum Bewußtsein gekommen. Es tönte ihr immer aufdringlicher ins Ohr, während sie sich doch gut erinnerte, daß die Uhr an der Wand stumm war, ohne hörbaren Gang. Was sollte es nun heißen, daß sie plötzlich so laut zu ticken begann? Die Zeiger zeigten zehn Minuten vor neun. Frau Verloc kümmerte sich nicht um die Zeit, und das Ticken hielt an. Sie kam zu dem Schluß, daß es nicht die Uhr sein könne, und ihr träger Blick glitt über die Wand, flatterte und wurde leer, während sie sich anstrengte, zu bestimmen, woher das Geräusch käme. Tick, tick, tick.

      Nachdem sie eine Zeitlang gelauscht hatte, senkte Frau Verloc ihren Blick langsam auf den Körper ihres Mannes. Seine Ruhestellung war so bequem und vertraut, daß sie das tun konnte, ohne sich durch die peinliche Neuheit der Erscheinung beunruhigt zu fühlen. Herr Verloc hielt sein gewöhnliches Schläfchen. Ihm schien wohl zu sein.

      Infolge der Lage des Körpers war Herrn Verlocs Gesicht für Frau Verloc, seine Witwe, nicht sichtbar. Ihre schönen trägen Augen, die auf der Fährte des Klanges langsam herunter wanderten, wurden sinnend, als sie auf ein flaches Stück Horn trafen, das ein wenig über die Sofakante hervorragte. Es war der Griff ihres Vorlegemessers, an dem weiter nichts auffiel, als daß er im rechten Winkel aus Herrn Verlocs Brust hervorstand, und daß irgend etwas davon heruntertropfte. Dunkle Tropfen fielen auf den Bodenbelag, einer nach dem anderen, mit einem Ticken, das lauter und schneller wurde, wie der Gang einer verdorbenen Uhr. Auf seinem Höhepunkt ging dieses Ticken in ein beständiges Tröpfeln über. Frau Verloc beobachtete diese Veränderung, und der Schatten der Angst kam und ging auf ihrem Gesicht. Es war ein Tröpfeln, düster, schnell, dünn, – Blut.

      Angesichts dieses unvorhergesehenen Umstandes gab Frau Verloc die Haltung von Muße und Unverantwortlichkeit auf.

      Mit einem jähen Griff nach ihren Röcken und einem leisen Aufschrei rannte sie nach der Tür, als wäre das Tröpfeln das erste Anzeichen einer Springflut. Als sie den Tisch in ihrem Weg fand, gab sie ihm, als lebte er, mit beiden Händen einen Stoß von solcher Kraft, daß er ein Stück weit auf seinen vier Beinen mit lautem Scharren wegrutschte, während die große Schüssel mit dem Rindsbraten krachend zu Boden stürzte.

      Dann wurde alles still. Frau Verloc war stehengeblieben, sobald sie die Tür erreicht hatte. Ein runder Hut, der frei im Zimmer lag, nachdem der Tisch weggerückt worden war, schaukelte leise auf seiner Rundung, in dem Luftzug, den ihre Flucht erzeugt hatte.

      XII

       Inhaltsverzeichnis

      Winnie Verloc, die Witwe von Herrn Verloc, die Schwester des seligen Stevie (der in Stücke gerissen worden war im Stande der Unschuld und in der Überzeugung, an einem Unternehmen zum Nutzen der Menschheit teilzunehmen), Winnie Verloc rannte nicht über die Vorzimmertür hinaus. Auch so weit war sie nur vor ein wenig tröpfelndem Blut geflohen, in einer Bewegung triebhafter Abwehr. Doch nun war sie stehen geblieben, mit stieren Augen und gesenktem Kopf. Als hätte ihre Flucht durch das enge Wohnzimmer lange Jahre gewährt, war die Frau Verloc an der Türe eine wesentlich andere Frau, als jene, die sich über das Sofa gelehnt hatte, ein wenig schwindlig, sonst aber frei, die tiefe Ruhe ihrer müßigen Unverantwortlichkeit genießend. Frau Verloc war nicht länger schwindlig. Ihr Kopf war klar. Sie war auch nicht länger ruhig. Sie fürchtete sich.

      Wenn sie es vermied, in der Richtung nach ihrem ruhenden Gatten hin zu sehen, so war es nicht, weil sie sich vor ihm gefürchtet hätte. Herr Verloc war durchaus nicht furchtbar anzusehen. Ihm schien ganz wohl zu sein. Überdies war er tot. Frau Verloc gab sich keinen Hirngespinsten über die Toten hin. Nichts bringt sie zurück, weder Liebe noch Haß. Sie können einem nichts tun. Sie sind nichtig. In ihrem Innern herrschte eine Art erhabene Verachtung für den Mann dort, der sich so leicht hatte töten lassen. Er war das Haupt eines Haushalts gewesen, der Gatte einer Frau und der Mörder ihres Stevie. Und nun war er in jeder Hinsicht ohne alle Bedeutung. Er kam noch weit weniger in Betracht, als die Kleider auf seinem Leibe, als sein Überrock, seine Stiefel – als der Hut, der dort auf dem Boden lag. Er war nichts. Er war nicht wert, daß man hinsah. Er war auch nicht länger mehr der Mörder des armen Stevie. Der einzige Mörder, der im Zimmer gefunden werden mußte, wenn Leute kamen, um nach Herrn Verloc zu sehen, war – sie selbst!

      Ihre Hände flogen so, daß sie zweimal vergeblich versuchte, ihren Schleier wieder umzubinden. Die müßige Unverantwortlichkeit war ihr vergangen. Sie fürchtete sich. Herrn Verlocs Tötung war mit einem Stoß geschehen. Damit hatte sie sich von den angesammelten Schreien befreit, die in ihrer Kehle staken, von den ungeweinten Tränen in ihren heißen Augen, von der irren Wut über die grausame Rolle, die dieser Mann gespielt hatte (der nun weniger als nichts war), als er sie ihres Jungen beraubte. Der Stoß war ohne klares Bewußtsein geführt worden. Das Blut aber, das von dem Messergriff auf den Boden niedertropfte, hatte einen klaren Mordfall daraus gemacht. Frau Verloc, die es immer vermieden, den Dingen auf den Grund zu sehen, war nun gezwungen, dieser Sache ganz auf den Grund zu gehen. Dabei sah sie kein vorwurfsvolles Gesicht, keinen mahnenden Schatten, kein Sinnbild der Reue oder Verklärung. Sie sah einen Gegenstand. Und das war der Galgen. Frau Verloc fürchtete sich vor dem Galgen.

      Sie machte sich ein besonderes