kein Glitzern; er floß im Verborgenen. Doch seine Barke schien ein geräumiges Fahrzeug, und seine schweigsame Großmut nahm die Gegenwart von Fahrgästen als selbstverständlich hin.
Frau Verloc überdachte die sieben Jahre Sicherheit für Stevie, für die sie selbst treulich bezahlt hatte; eine Sicherheit, die zum Vertrauen geworden war, zu einem Heimatgefühl, still und tief wie ein ruhiger Weiher, dessen geschützte Oberfläche kaum je beim gelegentlichen Auftauchen des Genossen Ossipon erschauerte, des muskelstarken Anarchisten mit den schamlos lockenden Augen; diese lasterhaften Augen redeten eine so deutliche Sprache, daß jede nicht völlig verblödete Frau sie verstehen mußte.
Wenige Sekunden erst waren vergangen, seitdem das letzte laute Wort in der Küche gefallen war, und Frau Verloc folgte schon mit starrem Blick der Vision eines Vorfalls, der nicht länger als vierzehn Tage zurücklag. Mit Augen, deren Pupillen krankhaft erweitert waren, folgte sie der Vision ihres Mannes, wie er mit dem armen Stevie durch die Brett Street davonging. Das war das letzte Bild eines Daseins, das Frau Verlocs Kraft geschaffen hatte; ein Dasein ohne Anmut und Liebreiz, unschön und kaum noch schicklich, und dennoch wunderbar durch die Beharrlichkeit des grundlegenden Gefühls. Dies letzte Bild schien so greifbar nahe gerückt, so sprechend in allen Einzelheiten, daß es Frau Verloc ein schwaches, ängstliches Murmeln erpreßte, als Ausdruck ihrer innigsten Hoffnung, ein Murmeln, das schreckhaft auf ihren bleichen Lippen erstarb.
»Sie könnten Vater und Sohn sein.«
Herr Verloc hielt inne und sah mit vergrämtem Gesicht auf.
»Wie? Was sagst du?« fragte er. Da er keine Antwort bekam, nahm er sein finsteres Herumwandern wieder auf. Plötzlich hob er drohend die dicken, fleischigen Fäuste und brach los:
»Ja! Die Gesandtschaftsleute! Eine nette Gesellschaft, nicht? Ehe eine Woche ‘rum ist, soll mehr als einer davon sich zwanzig Fuß unter die Erde wünschen, dafür will ich Sorge tragen. Wie? Was?«
Er schoß mit gesenktem Kopf einen Seitenblick. Frau Verloc starrte auf die weißgetünchte Wand. Eine leere Wand – völlig leer. Eine Leere, die einen verleiten konnte, mit dem Kopf dagegen zu rennen. Frau Verloc blieb unbeweglich sitzen. Sie blieb reglos, wie in verzweifeltem Staunen, wie die Bevölkerung der halben Erde reglos bleiben müßte, wenn plötzlich am Sommerhimmel, durch eine böse Laune der angebeteten Vorsehung, die Sonne verlöschen wollte.
»Die Gesandtschaft!« hob Herr Verloc wieder an, nach einer einleitenden Grimasse, die wolfsartig sein Gebiß entblößte. »Ich wollte, ich bekäme dort einmal für eine halbe Stunde freies Spiel, mit einem Knüppel in der Hand! Dann wollte ich zuschlagen, bis der ganzen Bande kein gerader Knochen mehr bliebe! Aber laß nur, ich will ihnen schon zeigen, was es heißt, einen Mann wie mich einfach auf die Straße setzen zu wollen. Ich habe eine Zunge im Kopf. Die ganze Welt soll wissen, was ich für sie getan habe. Ich fürchte mich nicht. Mir liegt nichts dran. Alles muß herauskommen. Jede verdammte Kleinigkeit. Die sollen nur aufpassen!«
In solche Worte kleidete Herr Verloc seinen Rachedurst. Es war eine durchaus passende Rache, in völliger Übereinstimmung mit Herrn Verlocs Sinnesrichtung. Sie hatte auch den weiteren Vorteil, in der Reichweite seiner Macht zu liegen und sich seinem Lebensberuf einzufügen, der ja gerade im Verrat geheimer und ungesetzlicher Pläne seiner Mitmenschen bestanden hatte. Anarchisten und Diplomaten waren für ihn eins. Herrn Verlocs Temperament verbot ihm die Achtung vor Einzelwesen. Seine Geringschätzung verteilte sich gleichmäßig auf sein ganzes Arbeitsfeld. Als Mitglied des revolutionären Proletariats aber – und das war er zweifellos – nährte er eher feindliche Empfindungen gegen gesellschaftliche Erhabenheit.
»Nichts auf der Welt kann mich jetzt aufhalten«, fügte er hinzu und sah seine Frau starr an, die ebenso starr die leere Wand ansah.
Das Schweigen in der Küche hielt weiter an, und Herr Verloc fühlte sich enttäuscht. Er hatte erwartet, daß seine Frau irgend etwas sagen würde. Doch Frau Verlocs Lippen zeigten dieselbe bildhafte Unbeweglichkeit wie ihr übriges Gesicht, und Herr Verloc war enttäuscht. Und doch, das erkannte er an, verlangte der Anlaß eigentlich kein Wort von ihr. Sie war eine sehr wortkarge Frau. Aus Gründen, auf denen seine ganze Psychologie aufgebaut war, neigte Herr Verloc dazu, jeder Frau zu vertrauen, die sich ihm ergeben hatte. Darum vertraute er seiner Gattin. Ihre Übereinstimmung war vollkommen, aber nicht begründet. Es war ein stillschweigendes Übereinkommen, das aus Frau Verlocs Mangel an Neugier herrührte, und aus Herrn Verlocs Haupteigenschaften, der Faulheit und Geheimnistuerei. Beide hielten sich zurück, den Tatsachen und Gefühlen auf den Grund zu gehen.
Diese Zurückhaltung bezeugte einerseits zwar ihr gegenseitiges Vertrauen, brachte aber auch eine Art Ziellosigkeit in ihre engsten Beziehungen. Keine eheliche Verbindung ist vollkommen. Herr Verloc nahm an, daß seine Frau ihn verstanden habe, hätte sie aber gerne ihre Meinung gerade in diesem Augenblick aussprechen hören. Es wäre ihm ein Trost gewesen.
Es gab mehrere Gründe, aus denen ihm dieser Trost versagt wurde. Einen körperlichen: Frau Verloc hatte ihre Stimme nicht hinlänglich in der Gewalt. Ihr blieb nur die Wahl zwischen Schreien und Schweigen, und sie wählte unwillkürlich das Schweigen. Hinzu kam das lähmende Grauen des Gedankens, der sie erfüllte. Ihre Wangen waren bleich, ihre Lippen aschfarben, ihre Reglosigkeit erschreckend. Und sie dachte, ohne Herrn Verloc anzusehn: »Dieser Mensch nahm den Jungen mit sich, um ihn zu morden. Nahm den Jungen aus seinem Heim, um ihn zu morden. Nahm den Jungen von mir fort, um ihn zu morden.«
Frau Verlocs Wesen war durch diesen Gedanken zuinnerst aufgerührt, der sie bei aller Formlosigkeit zum Irrsinn trieb und sie ganz erfüllte, bis in die Adern, die Knochen und die Haarwurzeln hinein. Innerlich nahm sie die biblische Haltung der Trauernden ein – verhülltes Gesicht, zerfetzte Gewänder; der Klang von Jammern und Wehklagen erfüllte ihr Ohr. Doch ihre Zähne waren wütend zusammengebissen, und in ihren tränenlosen Augen brannte die Wut, denn sie war nicht unterwürfig. Der Schmerz um ihren Bruder war von Anfang an nicht frei von stolzer Entrüstung. Sie hatte ihn mit wahrhafter Liebe geliebt. Sie hatte für ihn gekämpft, sogar gegen sich selbst. Sein Verlust hatte die Bitterkeit einer Niederlage, zugleich mit der Qual betrogener Leidenschaft. Das war kein gewöhnlicher Todesfall. Überdies hatte ja auch nicht der Tod Stevie von ihr genommen. Herr Verloc war es, der ihn genommen hatte. Sie hatte ihn gesehen. Sie hatte, ohne eine Hand zu rühren, zugesehen, wie er den Jungen wegführte. Und sie hatte ihn gehen lassen, wie – wie eine Närrin – eine blinde Närrin! Und nachdem er den Jungen umgebracht hatte, war er nun heimgekommen, zu ihr. Einfach heimgekommen, wie jeder andere Mann zu seiner Frau heimkam.
Zwischen zusammengebissenen Zähnen murmelte Frau Verloc gegen die Wand:
»Und ich dachte, er hätte sich erkältet!«
Herr Verloc hörte dieses Wort und griff es auf.
»Es war nichts,« meinte er verdrießlich, »ich war außer mir, deinetwegen.«
Frau Verloc wandte langsam den Kopf und richtete ihren Blick von der Wand weg auf ihren Gatten. Herr Verloc hielt die Fingerspitzen zwischen den Lippen und sah zu Boden.
»Nicht zu ändern«, murmelte er und ließ die Hand sinken. »Du mußt dich zusammennehmen. Du wirst deinen ganzen Witz brauchen. Du warst es, die uns die Polizei auf den Hals gehetzt hat. Macht nichts. Ich will kein Wort weiter darüber verlieren«, fuhr Herr Verloc großmütig fort. »Du konntest es nicht wissen.«
»Ich konnte es nicht wissen«, hauchte Frau Verloc. Es war, als hätte ein Leichnam gesprochen. Herr Verloc nahm den Faden seiner Rede wieder auf.
»Ich mache dir keinen Vorwurf. Ich will sie schon kitzeln! Wenn ich einmal hinter Schloß und Riegel sitze, dann kann ich in aller Sicherheit reden – du verstehst. Du mußt dich darauf einrichten, daß ich zwei Jahre weg von dir bin«, fuhr er ehrlich betrübt fort. »Das wird für dich leichter sein, als für mich.
Du wirst etwas zu tun haben, während ich – – Schau einmal, Winnie, deine Hauptaufgabe wird es sein, diesen Laden zwei Jahre lang weiter zu führen. Du verstehst genug davon. Du hast einen guten Kopf. Ich werde es dich wissen lassen, wenn die Zeit gekommen sein wird, den Verkauf einzuleiten. Dann wird doppelte Vorsicht nötig sein. Die Genossen werden dich die ganze Zeit über im Auge behalten. Du wirst so verschlagen sein