in dieser Pause. Er änderte den Ton. »Komm, das bringt ihn nicht zurück«, sagte er liebreich, bereit, sie an seine Brust zu ziehen, wo Ungeduld und Mitleid nebeneinander wohnten. Doch abgesehen von einem kurzen Schauder blieb Frau Verloc von der Gewalt dieses fürchterlichen Gemeinplatzes scheinbar unberührt. Vielmehr war Herr Verloc selbst davon bewegt. In seiner Einfalt fühlte er sich gedrängt, Mäßigung anzuraten, indem er seine eigenen Rechte geltend machte.
»Sei vernünftig, Winnie. Wie wäre es denn gewesen, wenn du mich verloren hättest?«
Er hatte verschwommen gehofft, sie aufschreien zu hören; aber sie rührte sich nicht. Sie saß ein wenig zurückgelehnt, in völlige, unfaßbare Reglosigkeit versunken. Herrn Verlocs Herz begann schneller zu schlagen, aus Erbitterung und etwas wie Bestürzung. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: »Sei keine Närrin, Winnie.«
Sie rührte sich nicht. Es war undenkbar, vernünftig mit einer Frau zu reden, deren Gesicht man nicht sehen konnte. Herr Verloc faßte sie bei den Handgelenken. Doch ihre Hände schienen festgewachsen. Ihr ganzer Leib folgte dem Zug, und sie wäre fast vom Stuhl gestürzt. Erschreckt, sie so hilflos schlaff zu sehen, versuchte er, sie in den Stuhl zurückzusetzen; da wurde sie plötzlich wieder spannkräftig, riß sich aus seinen Händen los und rannte aus dem Laden hinaus, durch das Wohnzimmer in die Küche. Das ging blitzschnell. Er hatte einen Streifen ihres Gesichts und gerade soviel von ihren Augen gesehen, um feststellen zu können, daß sie ihn nicht angesehen hatte.
Das Ganze erschien wie ein Streit um eine Sitzgelegenheit, denn Herr Verloc nahm sofort den Platz seiner Frau ein. Herr Verloc bedeckte nicht sein Gesicht mit den Händen, doch lag über seinen Zügen der Schleier tiefer Nachdenklichkeit. Ein Verhaftungsbefehl war unvermeidlich. Er wünschte ihn auch gar nicht zu vermeiden. Das Gefängnis war ein Ort, wo man vor gewissen ungesetzlichen Racheanschlägen so sicher war wie im Grab, mit dem Vorteil, daß im Gefängnis noch Raum für die Hoffnung blieb. Was er nun vor sich sah, war: Verhaftung, rasche Freilassung, und dann ein Leben irgendwo im Ausland, wie er es für den Fall eines Fehlschlags schon in Betracht gezogen hatte. Nun gut, es war ein Fehlschlag, wenn auch nicht ganz der Art, wie er ihn befürchtet hatte. Er streifte so hart an Erfolg, daß angesichts der traurigen Wirkung Herrn Vladimir der Spott wohl vergehen konnte. So wenigstens erschien es jetzt Herrn Verloc. Sein Ansehen bei der Gesandtschaft wäre ins Ungemessene gestiegen, wenn – wenn sein Weib nicht die unglückliche Idee gehabt hätte, in Stevies Überrock die Adresse einzunähen. Herr Verloc, der durchaus kein Dummkopf war, hatte bald seinen ungewöhnlichen Einfluß auf Stevie erkannt, allerdings ohne dessen Anlaß zu ergründen, – das Märchen von seiner überlegenen Weisheit und Güte, das zwei besorgte Frauen ersonnen hatten. Bei allen vorhergesehenen Möglichkeiten hatte Herr Verloc Stevies richtig erkannte Treue und blinde Ergebenheit in Rechnung gestellt. Die unvorhergesehene Möglichkeit hatte ihn als Menschen und liebenden Gatten getroffen. Von jedem anderen Gesichtspunkt betrachtet, war sie eher vorteilhaft. Nichts reicht an das ewige Schweigen des Todes heran. Während Herr Verloc bestürzt und ratlos verängstigt im kleinen Schankzimmer des Cheshire Cheese saß, konnte er nicht umhin, sich das einzugestehen, denn seine Urteilskraft war durch seine Empfindsamkeit nicht gehemmt. Daß Stevie so gründlich auseinandergeraten war, machte – so unerfreulich es auch sein mochte, daran zu denken – den Erfolg nur sicherer; denn natürlich hatte Herr Vladimir mit seiner Drohung nicht unbedingt die Niederlegung einer Mauer bezwecken wollen, sondern eine moralische Wirkung. Und diese Wirkung konnte als vollbracht gelten, wenn auch mit viel Mühe und Sorge für Herrn Verloc. Als aber höchst unerwartet die Fährte in die Brett Street hinein aufgespürt wurde, da nahm Herr Verloc, der wie ein Mann in einem bösen Traum um seine Stellung gekämpft hatte, den Schlag mit der Ruhe des überzeugten Fatalisten hin. Die Stellung war tatsächlich ohne jemandes Schuld verloren. Ein kleiner, lächerlicher Umstand hatte sie verwirkt; es war, wie wenn man im Dunklen über ein Stück Orangenschale ausgleitet und sich einen Fuß bricht.
Herr Verloc holte tief Atem. Er trug seiner Frau nichts nach. Er dachte: sie wird nach dem Laden sehen müssen, während ich eingesperrt bin. Und bei dem weiteren Gedanken, wie grausam sie zunächst Stevie vermissen würde, empfand er Sorge um ihre Gesundheit und Gemütsruhe. Wie würde sie die Einsamkeit ertragen? So ganz allein im Hause? Sie würde doch nicht zusammenbrechen während seiner Haft? Was sollte dann aus dem Laden werden? Der war ihre Rettung. Denn wenn auch Herrn Verlocs Fatalismus seine Absetzung als Geheimagent hinnahm, so lag es ihm – und zwar, wie gesagt werden muß, hauptsächlich mit Rücksicht auf seine Frau – doch ferne, sich dabei einfach zugrunde zu richten.
Es erschreckte ihn, wie sie nun schweigend und ihm unsichtbar in der Küche saß. Wäre nur die Mutter dagewesen! Aber das dumme, alte Weib – – Ein böser Zorn erfüllte Herrn Verloc. Er mußte mit seiner Frau sprechen. Er konnte ihr gewiß sagen, daß ein Mann unter gewissen Umständen verzweifeln muß. Aber er ging nicht unmittelbar daran, ihr diese Eröffnung zu machen. Zunächst einmal sagte er sich, daß an diesem Abend an kein Geschäft zu denken war. Darum ging er hin, um die Haustür zu schließen und die Gasflamme im Laden abzudrehen.
Nachdem er so die Einsamkeit an seinem Herd gesichert hatte, ging Herr Verloc ins Wohnzimmer zurück und sah in die Küche hinunter. Frau Verloc saß an dem Platz, wo der arme Stevie des Abends gewöhnlich zu sitzen pflegte, wenn er zum Zeitvertreib mit Bleistift die endlos sich schneidenden Kreise auf das Papier zeichnete, die an Chaos und Ewigkeit gemahnten. Sie hatte die Arme auf dem Tisch gekreuzt und das Haupt darauf gelegt. Herr Verloc betrachtete eine Zeitlang ihren Rücken und ihre Frisur und trat dann von der Küchentüre weg. Frau Verlocs philosophischer, fast verächtlicher Mangel an Neugier, die Grundlage ihres häuslichen Zusammenlebens, erschwerte es nun ungemein, angesichts dieser traurigen Notwendigkeit mit ihr in Fühlung zu kommen. Herr Verloc empfand diese Schwierigkeit auf das Schmerzlichste. Er wanderte rings um den Wohnzimmertisch, mit dem ihm eigenen Ausdruck eines großen Tieres in einem Käfig. Da die Neugierde eine der Formen der Selbstentblößung ist, so muß ein Mensch, der sich der Neugierde bewußt enthält, immer irgendwie geheimnisvoll bleiben. Sooft Herr Verloc an der Küchentüre vorbeikam, warf er seiner Frau einen queren Blick zu. Nicht, daß er sie gefürchtet hätte. Herr Verloc glaubte sich ja von dieser Frau geliebt. Doch hatte sie ihn nicht daran gewöhnt, Geständnisse zu machen. Und das Geständnis, das er nun zu machen hatte, war groß und schwer. Wie sollte er ihr mangels jeglicher Übung etwas sagen, was er selbst nur unklar empfand: daß es ein schicksalhaftes Zusammenwirken von Umständen gibt; daß mitunter ein Gedanke in einem Hirn wachsen kann, bis er selbständige Form annimmt, aus sich selbst Kraft gewinnt, und sogar Stimme? Er konnte ihr nicht beibringen, daß ein Mann von einem fetten, lustigen, glattrasierten Gesicht verfolgt werden kann, bis ihm selbst das verzweifeltste Mittel, es loszuwerden, tausendmal willkommen erscheint.
Bei dieser Erinnerung an den Ersten Sekretär einer großen Gesandtschaft blieb Herr Verloc im Türrahmen stehen, sah zornig, mit geballten Fäusten, in die Küche hinunter und redete seine Frau an:
»Du weißt nicht, mit was für einem Vieh ich es zu tun hatte.«
Er begann eine neue Wanderung um den Tisch; als er wieder zur Tür kam, blieb er stehen und sah von der Höhe der zwei Stufen hinunter.
»Ein dummes, höhnisches, gefährliches Vieh, mit nicht mehr Verstand als – – Nach all den Jahren! Gegen einen Mann wie mich! Und ich habe meinen Kopf dabei aufs Spiel gesetzt! Du wußtest nichts davon. Ganz mit Recht. Warum hätte ich dir auch sagen sollen, daß ich während all der sieben Jahre, die wir nun verheiratet sind, ständig Gefahr lief, ein Messer in die Brust zu bekommen? Ich bin nicht der Mann, der einer Frau, die ihn liebt, Sorgen macht. Du brauchtest es nicht zu wissen.«
Herr Verloc machte wieder schnaubend einen Rundgang.
»Ein giftiges Vieh«; hob er von der Türschwelle nochmals an. »Möchte mich in eine Sackgasse treiben und da verrecken lassen – so zum Spaß. Ich konnte ja sehen, daß ihm der Spaß verdammt gut gefiel. Gegen einen Mann wie mich! Schau einmal her! Einige der Höchsten auf dieser Welt haben es mir zu danken, daß sie heute noch auf ihren zwei Beinen herumgehen können! Das ist der Mann, den du geheiratet hast, mein Mädel!«
Er bemerkte, daß seine Frau sich aufgerichtet hatte. Frau Verlocs Arm blieb ausgestreckt auf dem Tisch liegen. Herr Verloc beobachtete ihren Rücken, als könnte er dort die Wirkung seiner Worte