den Ladentisch taumelte, griff sie darnach, ließ sich in den Stuhl fallen, riß das rosenrote Blatt quer durch bei dem Versuch, es zu öffnen, und warf es dann zu Boden. Jenseits der Tür sagte Hauptinspektor Heat zu Herrn Verloc, dem Geheimagenten:
»So werden Sie als ganze Verteidigung einfach ein volles Geständnis ablegen?«
»Jawohl. Ich will die ganze Geschichte erzählen.«
»Sie werden nicht so viel Glauben finden, wie Sie wohl denken.«
Der Hauptinspektor blieb in Gedanken versunken. Die Angelegenheit nahm eine Wendung, die notwendig so manches ans Licht bringen und weite Wissensgebiete brachlegen mußte, die, von einem fähigen Menschen bebaut, für den Einzelnen wie für die Gesellschaft von größtem Wert sein konnten. Es war traurige, traurige Stümperei. Michaelis würde unbehelligt bleiben; des Professors geheime Arbeit würde ans Licht kommen; das ganze Überwachungssystem würde leiden; dazu endloses Gewäsch in den Zeitungen, von denen er in plötzlicher Erleuchtung einsah, daß sie von Narren für Tolle geschrieben wurden. Innerlich stimmte er den Worten bei, die Herr Verloc als Antwort auf seine letzte Bemerkung fallen ließ.
»Vielleicht nicht. Aber es wird doch mit manchem ein Ende gemacht werden. Ich war ein gerader Mann und will nun auch hierin gerade bleiben –«
»Wenn man Sie läßt«, warf der Inspektor höhnisch ein. »Man wird Ihnen allerhand vorpredigen, bevor man Sie auf die Anklagebank setzt, natürlich, und schließlich kann es Ihnen doch geschehen, daß das Urteil ganz anders ausfällt, als Sie erwartet haben. Ich würde dem Herrn, der eben mit Ihnen gesprochen hat, nicht allzusehr vertrauen.«
Herr Verloc hörte stirnrunzelnd zu.
»Mein Rat ist, daß Sie sich davonmachen sollen, solange Sie es noch können. Ich habe keinen Befehl. Es gibt einige unter ihnen,« fuhr Inspektor Heat fort und betonte das Wort »ihnen«, »die glauben, daß Sie schon in der andern Welt sind.«
»Wirklich!« entfuhr es Herrn Verloc.
Obwohl er seit seiner Rückkehr aus Greenwich die meiste Zeit im Gastzimmer einer Winkelkneipe sitzend zugebracht hatte, war er auf eine so erfreuliche Neuigkeit nicht gefaßt.
»Das ist die Meinung über Sie.« Der Hauptinspektor nickte ihm zu. »Verschwinden Sie. Machen Sie sich davon.«
»Wohin?« brummte Herr Verloc. Er hob den Kopf und flüsterte weich, mit einem Blick auf die geschlossene Tür zum Laden: »Ich wollte nur, daß Sie mich heute abend mitnähmen. Ich ginge gerne mit.«
»Das glaube ich wohl«, stimmte der Inspektor spöttisch bei, mit einem Blick in gleicher Richtung.
Auf Herrn Verlocs Stirn brach leichter Schweiß aus. Er dämpfte angesichts der Unbeweglichkeit des Inspektors seine heisere Stimme zu vertrauensvollem Flüstertone.
»Der Junge war halb blöde, nicht verantwortlich. Jeder Gerichtshof hätte das ohne weiteres anerkannt. Reif für die Irrenanstalt. Und das wäre das Schlimmste gewesen, was ihm hätte geschehen können, wenn –«
Der Hauptinspektor, die Hand am Türgriff, zischelte Herrn Verloc ins Gesicht:
»Vielleicht war er halb blöde, aber Sie müssen ganz verrückt gewesen sein. Wie konnten Sie so den Kopf verlieren?«
Herr Verloc dachte an Herrn Vladimir und wählte seine Worte nicht.
»Ein hyperboreisches Schwein«, zischte er heftig. »Ein – wie Sie sagen würden – ein Gentleman.«
Der Hauptinspektor nickte mit ruhigem Blick kurz seine Zustimmung und öffnete die Tür. Frau Verloc hinter dem Ladentisch mochte seinen Aufbruch, von dem aufdringlichen Glockengerassel begleitet, vielleicht hören, sah ihn aber nicht. Sie saß reglos auf ihrem Platz hinter dem Ladentisch. Sie saß krampfhaft aufrecht im Stuhl – zwei schmutzige Fetzen roten Papiers lagen zu ihren Füßen. Sie hielt die Handflächen gegen das Gesicht gepreßt, die Fingerspitzen in die Stirnhaut verkrallt, als wäre diese Haut eine Maske, die sie nächstens wütend abreißen wollte. Die völlige Unbeweglichkeit ihrer Haltung drückte den Aufruhr von Wut und Verzweiflung, die ganze gebändigte Wut tragischer Leidenschaft besser aus, als es möglich gewesen wäre, wenn sie geschrien oder den Kopf gegen die Wand gehämmert hätte. Hauptinspektor Heat durchquerte den Laden in seinem geschäftig schwingenden Schritt und warf ihr nur einen flüchtigen Blick zu. Als die heisere Glocke an ihrem Stahlband zu zittern aufgehört hatte, rührte sich nichts mehr in Frau Verlocs Umgebung, als ginge ein Bann von ihrer Starrheit aus. Sogar die Schmetterlingsbrenner an dem T-förmigen Gasarm brannten lautlos. In diesem Laden voll anrüchiger Waren, mit den dunkelbraun gestrichenen Regalen, die das Licht zu verschlingen schienen, blitzte nur der goldne Reif des Eherings an Frau Verlocs linker Hand, aufdringlich, wie ein kostbares Geschmeide, das in den Müllkasten geraten ist.
X
Der Kommissar hatte die Strecke von Soho nach Westminster in einer schnell fahrenden Droschke zurückgelegt und stieg nun im wahren Mittelpunkt des Kaiserreichs aus, über dem nie die Sonne untergeht. Ein paar stämmige Schutzleute, denen die Pflicht, diesen erhabenen Ort zu bewachen, nicht sonderlich nahezugehen schien, grüßten ihn. Er durchschritt ein durchaus nicht erhabenes Tor, gelangte in das Innere des Hauses, das für viele Millionen Menschen das Haus par excellence ist, und traf schließlich mit dem munteren, umstürzlerischen Toodles zusammen. Dieser nette und gewitzte junge Mann verbarg sein Erstaunen über das frühzeitige Erscheinen des Kommissars, den er so um Mitternacht herum zu erwarten Weisung hatte. Da er nun so früh kam, so hielt Toodles das für ein Anzeichen, daß die Sache, welcher Art sie auch sein mochte, schief gegangen war. In schnell bereitem Mitleid, das bei netten Jungen oft sich mit fröhlicher Gemütsart paart, fühlte er sich betrübt für den Gewaltigen, den er den »Chef« nannte, und auch für den Kommissar, dessen Gesicht ihm hölzerner als je und ganz wunderbar lang erschien. »Was für ein sonderbarer, ausländischer Kauz das ist«, dachte er sich und lächelte aus einigem Abstand sein freundliches Bubenlächeln. Vom ersten Augenblick des Zusammentreffens an begann er zu reden, in der mildherzigen Absicht, die Bitterkeit des Fehlschlags unter einem Wortschwall zu begraben. Es hatte den Anschein, als sollte der für diesen Abend angesetzte große Angriff ins Wasser fallen. Ein unbedeutender Gefolgsmann »dieses Hammels Cheeseman« langweilte das schwach besuchte Haus erbarmungslos mit einer schandbar gefälschten Statistik. Er, Toodles, hoffte, daß diese Langeweile alle Augenblicke zu einer Abstimmung führen würde. Aber vielleicht schlug der Mensch auch nur die Zeit tot, um dem verdammten Cheeseman ungestörte Muße zu seinem Abendessen zu gönnen. Der Chef war jedenfalls nicht zum Heimgehen zu überreden gewesen.
»Er will Sie sofort sehen, glaube ich. Er sitzt ganz allein in seinem Zimmer und denkt an alle die Fische in der See«, schloß Toodles heiter. »Kommen Sie.«
Trotz seiner gutartigen Veranlagung war der junge (unbesoldete) Privatsekretär von menschlichen Schwächen nicht frei. Es lag ihm ferne, den Gefühlen des Kommissars nahezutreten; der schien ihm ganz ungewöhnlich danach auszusehen, als ob er einen Auftrag gründlich verpfuscht hätte. Aber seine Neugier war zu stark, um sich durch bloßes Mitgefühl eindämmen zu lassen. Er konnte sich nicht enthalten, im Weitergehen über die Schulter zurück die Frage hinzuwerfen:
»Und Ihr Fisch?«
»Ich habe ihn«, gab der Kommissar mit einer Kürze zurück, die durchaus nicht abweisend sein sollte.
»Gut. Sie glauben gar nicht, wie wenig es diese großen Männer lieben, in kleinen Dingen enttäuscht zu werden.«
Nach diesem tiefgründigen Ausspruch schien der erfahrene Toodles nachzudenken, zum mindesten sagte er während zwei voller Sekunden kein Wort. Dann:
»Ich bin froh. Aber – sagen Sie – ist es wirklich eine solche Kleinigkeit, wie Sie vorgeben?«
»Wissen Sie, was man mit kleinen Fischen manchmal tut?« fragte der Kommissar zurück.
»Man preßt sie mitunter in Sardinenbüchsen«, kicherte