dessen in allen Ecken drohend vor sich hin. Auf die Frage: »Was sagst du da, Stevie?« pflegte er nur den Mund zu öffnen und seine Schwester anzuschielen. An schlimmen Tagen ballte er auch ohne ersichtliche Ursache die Fäuste und konnte mitunter dabei ertappt werden, wie er finster auf die Wand starrte, während Bleistift und Papier, die man ihm gegeben hatte, damit er Kreise zeichne, unbenützt auf dem Küchentisch lagen. Das war ein Wechsel, aber es war keine Besserung. Frau Verloc, für die alle diese Anzeichen unter das Gesamtbild der Aufregung fielen, begann zu fürchten, daß Stevie mehr von den Unterhaltungen ihres Gatten mit dessen Freunden hörte, als gut für ihn war. Während seiner »Spaziergänge« traf Herr Verloc natürlich mit unterschiedlichen Leuten zusammen und redete mit ihnen. Es konnte kaum anders sein. Seine Spaziergänge waren ein Hauptteil seiner Außenbeschäftigung, die seine Frau niemals zu ergründen versucht hatte. Frau Verloc fand die Sachlage etwas heikel, nahm sie aber mit derselben undurchdringlichen Ruhe auf, die von den Ladenkunden stets bewundert wurde und auch die anderen Besucher dazu brachte, etwas erstaunt ihren Abstand zu wahren. Nein! Sie fürchtete, daß es Dinge gab, die Stevie besser nicht hören sollte, sagte sie ihrem Gatten. Es regte den armen Jungen nur auf, weil er ja doch nichts daran ändern konnte. Niemand konnte das.
Es war im Laden. Herr Verloc erwiderte nichts. Er widersprach nicht, wenn die Versuchung dazu auch nahe lag. Aber er unterließ es, seine Frau darauf hinzuweisen, daß der Gedanke, Stevie zum Begleiter seiner Spaziergänge zu machen, von ihr und von niemand sonst ausgegangen war. In diesem Augenblick wäre einem unparteiischen Beobachter Herr Verloc übermenschlich erschienen in seiner Großmut. Er nahm eine kleine Pappschachtel von einem Bord, sah nach, ob der Inhalt in Ordnung sei, und setzte sie bedächtig auf den Ladentisch. Erst als dies geschehen war, brach er das Schweigen mit der Feststellung, daß es Stevie zweifellos gut tun würde, für eine Zeit aus der Stadt hinaus zu kommen; nur vermute er, daß seine Frau ohne ihn nicht fertig werden würde.
»Nicht fertig werden ohne ihn,« wiederholte Frau Verloc langsam, »ich sollte ohne ihn nicht fertig werden, wenn es zu seinem Besten ist! Was für ein Einfall! Natürlich kann ich ohne ihn fertig werden. Aber er kann ja doch nirgends hin.«
Herr Verloc zog Packpapier und eine Rolle Bindfaden heraus und murmelte dabei, daß Michaelis in einem kleinen Häuschen auf dem Land lebte. Michaelis würde gerne einen Schlafraum an Stevie abtreten. Dort gab es keinen Besuch und keine Gespräche. Michaelis schrieb an einem Buch.
Frau Verloc erklärte ihre Zuneigung für Michaelis; erwähnte ihre Abneigung gegen Karl Yundt, den »ekligen alten Mann«; und von Ossipon sagte sie nichts. Stevie selbst würde sich natürlich sehr freuen. Herr Michaelis war ja immer so nett und freundlich zu ihm. Er schien den Jungen so gerne zu haben. Nun, der Junge war ja auch ein guter Junge.
»Auch du scheinst ihn in letzter Zeit richtig liebgewonnen zu haben«, fügte sie nach einer Weile mit ihrer unerschütterlichen Selbstsicherheit hinzu.
Herr Verloc, der eben die Pappschachtel postfertig einpackte, riß durch eine heftige Bewegung den Bindfaden ab und murmelte verschiedene Flüche insgeheim vor sich hin. Dann erhob er seine Stimme zum üblichen heiseren Flüsterton und kündigte seine Bereitwilligkeit an, Stevie selbst aufs Land hinaus zu bringen und ihn Michaelis in Obhut zu geben.
Schon am nächsten Tag führte er diese Absicht aus. Stevie machte keinen Einwand. Er schien eher erfreut, wenn auch etwas erstaunt. Er ließ seinen kindlichen Blick wiederholt forschend auf Herrn Verlocs wuchtigen Zügen ruhen, besonders dann, wenn seine Schwester ihn eben nicht ansah. Sein Ausdruck war stolz, gelehrig und gespannt, wie der eines kleinen Kindes, dem man zum erstenmal eine Schachtel Zündhölzer anvertraut hat mit der Erlaubnis, Licht zu machen. Und Frau Verloc, entzückt von ihres Bruders Fügsamkeit, empfahl ihm, sich auf dem Lande nicht unnötig die Kleider zu beschmutzen. Daraufhin sah Stevie seine Schwester, Wärterin und Gönnerin mit einem Blick an, in dem zum erstenmal in seinem Leben die kindliche Vertrauensseligkeit zu fehlen schien. Ein Schimmer von Überlegenheit lag darin. Frau Verloc lächelte.
»Du lieber Gott! Du brauchst nicht beleidigt zu sein. Du weißt ja doch, daß du dich bei jeder Gelegenheit recht schmutzig machst, Stevie.«
Herr Verloc war bereits einige Schritte vorausgegangen.
So sah sich Frau Verloc öfter als gewöhnlich allein, nicht nur im Laden, sondern auch im Haus, infolge der Heldentat ihrer Mutter und Stevies Sommerfrische. Denn Herr Verloc mußte seine Gänge machen. Noch länger als sonst war sie an dem Tage allein, an dem der Bombenanschlag in Greenwich Park geschah, denn damals war Herr Verloc frühmorgens weggegangen und erst in der Dämmerung zurückgekehrt. Es machte ihr nichts aus, allein zu sein. Sie hatte auch keine Sehnsucht, auszugehen. Das Wetter war zu schlecht, und der Laden war gemütlicher als die Gasse. Sie saß mit einer Näharbeit hinter dem Ladentisch und sah nicht davon auf, als Herr Verloc unter dem schrillen Klappern der Glocke eintrat. Sie hatte seinen Schritt schon auf dem Pflaster draußen erkannt.
Sie sah nicht auf. Als aber Herr Verloc schweigend, den Hut in die Stirne gezogen, zur Wohnzimmertür ging, sagte sie heiter:
»Was für ein abscheulicher Tag. Hast du vielleicht Stevie besucht?«
»Nein«, antwortete Herr Verloc leise und schlug die Glastür des Wohnzimmers unerwartet heftig hinter sich zu.
Frau Verloc blieb einige Zeit ruhig sitzen, mit der Arbeit im Schoß, bevor sie diese unter den Ladentisch legte und aufstand, um das Gas anzuzünden. Als dies geschehen war, durchquerte sie auf dem Wege zur Küche das Wohnzimmer. Herr Verloc würde seinen Tee haben wollen. Da sie sich der Macht ihrer Reize voll bewußt war, so erwartete Winnie von ihrem Gatten im täglichen Verkehr ihres ehelichen Lebens keinerlei übertriebene Höflichkeit oder Liebenswürdigkeit; leere und veraltete Formen, heutzutage auch in den höchsten Kreisen aufgegeben, und ihrer eigenen Klasse von jeher fremd. Sie erwartete keine Ritterlichkeiten von ihm. Aber er war ein guter Gatte, und sie achtete seine Rechte gebührend.
Frau Verloc wollte durch das Wohnzimmer in die Küche gehen, um sich dort ihren häuslichen Pflichten zu widmen, mit der vollendeten Seelenruhe einer Frau, die sich der Macht ihrer Reize bewußt ist. Aber ein leises, ganz leises, klapperndes Geräusch traf ihr Ohr. Sonderbar und unverständlich, nahm es Frau Verlocs Aufmerksamkeit gefangen. Sobald ihr seine Ursache klar wurde, blieb sie erstaunt und betroffen stehen. Sie strich an der Schachtel, die sie in der Hand hielt, ein Zündholz an und entzündete einen der beiden Gasbrenner über dem Wohnzimmertisch, der schadhaft war und darum erst wie erstaunt pfiff und dann wie eine Katze schnurrte.
Herr Verloc hatte gegen seine sonstige Gewohnheit seinen Überrock abgeworfen. Er lag auf dem Sofa. Sein Hut, den er gleichfalls abgeworfen haben mußte, lag, umgedreht, unter dem Sofa. Er selbst hatte sich einen Stuhl vor den Kamin gezogen, hatte die Füße innerhalb des Gitters gestellt, hielt den Kopf in beiden Händen und beugte sich tief zu der schwachen Glut hinunter. Seine Zähne klapperten mit unwiderstehlicher Heftigkeit, so daß sein gewaltiger Rücken mitzitterte. Frau Verloc war erschreckt.
»Du bist naß geworden«, sagte sie.
»Nicht sehr«, brachte Herr Verloc mit einem Schaudern mühsam heraus.
Mit größter Anstrengung unterdrückte er das Zähneklappern.
»Du solltest dich in meine Hände geben«, sagte sie ehrlich besorgt.
»Ich denke nicht daran«, bemerkte Herr Verloc und schnaufte schwer.
Sicherlich habe er es fertig gebracht, sich zwischen sieben Uhr früh und fünf Uhr nachmittag böse zu erkälten. Frau Verloc sah auf seinen gebeugten Rücken.
»Wo bist du heute gewesen?« fragte sie.
»Nirgends«, antwortete Herr Verloc leise. Er sprach durch die Nase, wie erstickt. Seine Stellung deutete auf übelste Laune oder auf schwere Kopfschmerzen. Die Kürze und Unaufrichtigkeit seiner Antwort kam in dem toten Schweigen des Zimmers peinlich zur Geltung. Er schnaufte entschuldigend und verbesserte sich:
»Ich war auf der Bank.«
Frau Verloc wurde aufmerksam.
»Was?« sagte sie gleichmütig. »Wozu denn?«
Herr Verloc murmelte sichtlich widerwillig, das