Джозеф Конрад

Gesammelte Werke von Joseph Conrad


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nach. Je tiefer er dachte, desto tiefer hing auch sein Unterkiefer nieder. Mit dem Ausdruck hoffnungsloser Unfähigkeit stellte er endlich sein Nachdenken ein.

      »Nicht dazu?« murmelte er, bei aller Fügsamkeit überrascht. »Nicht dazu?« Er hatte sich ganz für sich von der großstädtischen Polizei die Auffassung gebildet, sie sei eine Art Wohlfahrtseinrichtung zur Unterdrückung des Bösen. Besonders die Vorstellung von Wohlwollen war ihm unlöslich verknüpft mit der von der Machtvollkommenheit der Männer in Blau. Er hatte alle Polizisten zärtlich geliebt, mit unerschütterlichem Zutrauen. Und nun war er betrübt. Er ärgerte sich sogar bei dem Verdacht, die Angehörigen der Polizeimacht könnten doppelzüngig sein. Denn Stevie selbst war frei und offenherzig wie der Tag. Warum stellten sie sich denn so an? Ungleich seiner Schwester Winnie, die sich an der Oberfläche hielt, wünschte er den Dingen auf den Grund zu gehen. Er fuhr in seiner Untersuchung kampflustig fort:

      »Wozu sind sie denn da, Winn? Wozu denn eigentlich? Sag mir’s!«

      Winnie liebte keine Auseinandersetzungen. Da sie aber fürchtete, Stevie möchte im ersten Schmerz um seine Mutter einen der Anfälle tiefster Niedergeschlagenheit haben, so wollte sie das Gespräch nicht kurz abbrechen. Zwar lag ihr alle Ironie völlig ferne, doch antwortete sie in einem Tone, der vielleicht bei der Gattin des Herrn Verloc, Vertrauensmannes des Roten Zentralkomitees, persönlichen Freundes gewisser Anarchisten und Stimmführer der sozialen Revolution nicht überraschen konnte:

      »Du weißt nicht, wozu die Polizei da ist, Stevie? Die ist dazu da, damit die, die nichts haben, denen, die etwas haben, nichts wegnehmen können!«

      Sie vermied das Wort »stehlen«, weil es ihren Bruder immer traurig machte. Denn Stevie war grundehrlich. Gewisse einfache Grundsätze waren ihm so nachdrücklich beigebracht worden (eben wegen seiner Besonderheit), daß die bloße Erwähnung gewisser Übertretungen ihn mit Schreck erfüllte. Er hatte sich immer durch Worte leicht beeinflussen lassen. Das war auch jetzt gründlich der Fall, und sein Verständnis war überraschend schnell:

      »Wie,« fragte er sofort, »nicht einmal, wenn sie hungrig sind? Müssen sie dann nicht?«

      Die beiden waren stehengeblieben.

      »Nicht einmal dann«, sagte Frau Verloc mit dem Gleichmut eines Gemüts, das sich die Verteilung der irdischen Güter nicht nahe gehen läßt, und spähte dabei die Straße hinunter nach einem Omnibus der gewünschten Farbe. »Gewiß nicht. Aber wozu darüber reden? Du bist nicht einmal hungrig.«

      Sie warf einen raschen Blick auf den Jungen an ihrer Seite, der wie ein junger Mann aussah. Er war so liebenswürdig, anziehend, zärtlich und nur ein wenig, ein ganz klein wenig eigen. Sie konnte ihn nicht anders sehen, er war eng verbunden mit dem, was in ihrem würzelosen Leben von dem Salz der Leidenschaft war – mit leidenschaftlicher Entrüstung, mit Mut, Mitleid und sogar Selbstaufopferung. Sie fügte nicht hinzu: »und wirst es auch nicht sein, solange ich lebe.« Und doch hätte sie das recht gut tun können, denn sie hatte wirksame Schritte zu diesem Zwecke getan. Herr Verloc war ein ausgezeichneter Gatte; es war ihre aufrichtige Überzeugung, daß niemand umhin konnte, den Jungen gerne zu haben. Plötzlich rief sie aus:

      »Schnell, Stevie, halt den grünen Omnibus an!« Und Stevie, bebend vor Wichtigkeit, mit seiner Schwester Winnie an einem Arm, schwenkte den andern hoch über seinem Kopf, dem ankommenden Omnibus entgegen, mit vollkommenem Erfolg.

      Etwa eine Stunde später erhob Herr Verloc hinter dem Ladentisch seine Augen von einer Zeitung, in der er gelesen oder in die er doch hineingesehen hatte. Und während das Klappern der Türglocke verklang, sah er Winnie, seine Gattin, auf dem Weg nach oben den Laden durchschreiten, von Stevie, seinem Schwager, gefolgt. Der Anblick seiner Gattin war Herrn Verloc erfreulich. Dies gehörte zu seinen Eigenheiten. Dagegen kam ihm die Erscheinung seines Schwagers nicht zum Bewußtsein, auf Grund der krankhaften Nachdenklichkeit, die sich neuerdings wie ein Schleier zwischen Herrn Verloc und die dingliche Welt geschoben hatte. Er sah seiner Gattin starr und stumm nach, als wäre sie ein Geist. Seine Stimme für den Hausgebrauch war gedämpft und milde, jetzt aber war sie gar nicht zu hören, auch nicht beim Abendessen, zu dem ihn seine Gattin in der üblichen, kurzen Art rief: »Adolf.« Er setzte sich ohne wahre Überzeugung zum Essen nieder, den Hut weit in den Nacken zurückgeschoben. Es war durchaus nicht Neigung zum Zigeunerleben, sondern nur der häufige Besuch ausländischer Cafés, was ihm zu dieser Gewohnheit verholfen hatte und nun sein gewissenhaftes Verbleiben am häuslichen Herd doch so zwanglos vorübergehend erscheinen ließ. Zweimal erhob er sich beim Klang der heiseren Glocke, verschwand wortlos im Laden und kam schweigend zurück. Während dieser Abwesenheiten drängte sich Frau Verloc die Leere des Platzes an ihrer rechten Seite auf. Sie vermißte ihre Mutter schmerzlich, und ihr Blick wurde wie Stein; während Stevie aus demselben Grunde mit den Füßen scharrte, als wäre der Boden unter dem Tisch unerträglich heiß. So oft Herr Verloc auf seinen Platz zurückkehrte, wie die Verkörperung des Schweigens, vollzog sich ein feiner Wechsel in Frau Verlocs Blick, und Stevie hielt die Füße ruhig, aus tiefer Ehrfurcht vor dem Gatten seiner Schwester. Er warf ihm Blicke hochachtungsvollen Mitleids zu. Herr Verloc war betrübt. Seine Schwester Winnie hatte ihm (im Omnibus) eingeschärft, daß Herr Verloc zu Hause in tiefem Kummer sitze und nicht geärgert werden dürfte. Seines Vaters Jähzorn, die Reizbarkeit der Zimmerherren und Herrn Verlocs Neigung zu zügellosem Schmerz waren von jeher die Hauptantriebe für Stevies Selbstbeherrschung gewesen. Von diesen Gefühlen, die alle leicht hervorzurufen, aber nicht immer leicht zu verstehen waren, hatte das letztere die größte moralische Wirkung – denn Herr Verloc war gut. Diese Tatsache hatten Stevies Mutter und Schwester auf steinigem Grund verankert. Das war hinter Herrn Verlocs Rücken geschehen, aus Erwägungen heraus, die mit reiner Moral nicht unbedingt zu tun hatten. Und Herr Verloc wußte nichts davon. Es ist nicht mehr als gerecht, festzustellen, daß es ihm nicht bewußt war, in Stevies Augen als gut zu gelten. Und doch war es so. Er war sogar der einzige Mann, dem Stevie das Beiwort zugestand; denn die Zimmerherren waren zu vorübergehende und gleichgültige Erscheinungen gewesen, um ihm durch irgend etwas, außer vielleicht durch ihre Schuhe Eindruck zu machen; und was nun die Erziehungsmaßnahmen seines Vaters anbetraf, so hatten seine Mutter und seine Schwester nicht das Herz gehabt, dem Opfer einzureden, daß sie aus Güte stammten. Das wäre zu grausam gewesen. Und vielleicht sogar hätte Stevie ihnen gar nicht geglaubt. Bei Herrn Verloc nun stand Stevies Glauben nichts im Wege. Herr Verloc war ganz offenbar, wenn auch geheimnisvoll, gut, und der Kummer eines guten Mannes ist heilig.

      Stevie warf seinem Schwager Blicke hochachtungsvollen Mitleids zu. Herr Verloc war betrübt. Nie zuvor hatte Winnies Bruder so klar hinter das Geheimnis von diesen Mannes Güte zu blicken geglaubt. Es war ein verständlicher Schmerz. Und Stevie war selbst betrübt, sehr betrübt. Auf dieselbe Art. Und sobald seine Aufmerksamkeit auf diesen Punkt gelenkt war, begann Stevie mit den Füßen zu scharren. Seine Gefühle pflegten sich stets in Bewegungen seiner Glieder zu äußern.

      »Halte deine Füße ruhig, mein Lieber«, sagte Frau Verloc mit zärtlichem Nachdruck; dann wandte sie sich an ihren Gatten und wußte mit meisterhaftem Feingefühl ihrer Stimme einen gleichgültigen Klang zu geben: »Gehst du heute abend aus?« fragte sie.

      Die bloße Andeutung schien Herrn Verloc widerwärtig. Er schüttelte verdrießlich den Kopf, saß dann mit niedergeschlagenen Augen reglos da und sah eine volle Minute lang das Stück Käse auf seinem Teller an. Nach Ablauf dieser Zeit stand er auf und ging hinaus – ging geradenwegs hinaus, vom Klappern der Ladenglocke begleitet. So handelte er ganz unbewußt, nicht um unliebenswürdig zu sein, sondern aus unbezwinglicher Unruhe. Es hatte weiß Gott keinen Zweck, auszugehen. Nirgends in London konnte er finden, was er suchte. Aber er ging aus. Er führte seine trüben Gedanken durch dunkle Gassen, durch hellerleuchtete Straßen, in zwei Dielen hinein und wieder heraus, wie in dem schwachen Versuch, sich eine Nacht um die Ohren zu schlagen, und schließlich wieder zurück zu seinem bedrohten Heim, wo er sich erschöpft hinter den Ladentisch setzte; die Gedanken aber umdrängten ihn bissig, wie eine Meute hungriger Schweißhunde. Nachdem er das Haus geschlossen und das Gas abgedreht, nahm er sie mit sich hinauf – grausige Begleiter für einen Mann, der zu Bette will. Seine Frau war ihm vorausgegangen und bot ihm nun mit ihren üppigen Formen, die sich unter der Decke abzeichneten, das Haupt auf das Kissen und eine Hand unter die Wange gelegt, wie zur Zerstreuung, den Anblick rechtschaffener Schläfrigkeit,