es deine Zeit erlaubt, nicht wahr?«
»Natürlich«, gab Winnie kurz zurück und blickte starr geradeaus.
Die Droschke rumpelte an einem verräucherten, schmierigen Laden vorbei, wo es nach Gas und Bratfisch roch.
Wieder erhob sich die klagende Stimme:
»Und, meine Liebe, ich muß den armen Jungen jeden Sonntag sehen. Es wird ihm doch nichts ausmachen, den Tag mit seiner alten Mutter zu verbringen?«
Winnie schrie unbewegt:
»Ausmachen? Ich dächte nicht. Der arme Junge wird Sie sehr vermissen. Ich wollte, Sie hätten ein wenig daran gedacht, Mutter!«
Nicht daran gedacht! Die heldenmütige Frau schluckte an einem würgenden Brocken, der wie eine Billardkugel ihr aus der Kehle zu springen drohte. Winnie saß eine Weile stumm und schmollend da und warf dann schnippisch in einem bei ihr ungewöhnlichen Tone hin: »Er wird mir in der ersten Zeit nicht schlecht zu schaffen machen, er wird es schon so treiben –«
»Was du auch tust, laß ihn nur nicht deinem Manne lästig werden, meine Liebe.«
So sprachen sie vertraulich die neue Sachlage durch. Und die Droschke rumpelte weiter. Frau Verlocs Mutter äußerte einige Zweifel. Durfte man Stevie den ganzen Weg alleine gehen lassen? Winnie betonte, daß er nun weit weniger zerstreut sei; darin stimmten sie überein. Es war unleugbar. Weit weniger, fast gar nicht. Sie schrien einander durch das Getöse möglichst liebreich zu. Doch plötzlich brach die mütterliche Sorge nochmals durch. Er mußte zwei Omnibusse nehmen und dazu ein Stück gehen. Das war zu schwierig. Die alte Frau gab sich dem Schmerz und Kummer hin.
Winnie starrte voraus.
»Regen Sie sich nur nicht auf, Mutter. Natürlich müssen Sie ihn sehen.«
»Nein, meine Liebe, ich will versuchen, ob es ohne das geht? Du hast ja nicht die Zeit, ihn zu begleiten, und wenn er dann wieder zerstreut ist und den Weg verliert und irgend jemand spricht ihn schroff an, dann vergißt er vielleicht Namen und Adresse und bleibt Tage und Tage lang verloren –«
Die Vorstellung eines Krüppelheims für den armen Stevie – wenn auch nur für die Dauer der Untersuchung – drückte ihr das Herz ab. Denn sie war eine stolze Frau. Winnies Blick war scharf und nachdrücklich geworden.
»Ich kann ihn nicht jede Woche selbst zu Ihnen bringen,« rief sie, »aber sorgen Sie sich nicht, Mutter, ich will schon trachten, daß er nicht für lange verloren geht.«
Sie fühlten eine eigene Erschütterung; durch die klappernden Fenster sah man etwas wie einen Ziegelhaufen; das furchtbare Rumpeln und Klirren hörte mit einem Schlage auf, und die beiden Frauen waren bestürzt. Was war geschehen? Sie saßen reglos, erschreckt in der tiefen Stille, bis der Schlag geöffnet wurde und ein rauhes, krampfhaftes Flüstern sich hören ließ:
»Wir sind da.«
Eine Reihe kleiner Giebelhäuser, jedes mit einem trübe erleuchteten Fenster im Erdgeschoß, stand rings um die dunkle Fläche eines grasbewachsenen Platzes, der mit Büschen bepflanzt und durch ein Gitter von der Straße mit ihrem Lichtergewirr und Verkehrslärm getrennt war.
Vor der Tür eines dieser armseligen Häuschen – des einen, das kein Licht im Erdgeschoß zeigte – hatte die Droschke gehalten. Frau Verlocs Mutter stieg als erste aus, rücklings, mit einem Schlüssel in der Hand. Winnie blieb am Randstein stehen, um den Kutscher zu bezahlen. Stevie half zuerst eine Menge kleiner Pakete ins Haus tragen, kam dann heraus und blieb unter einer Laterne stehen, die dem Stift gehörte. Der Kutscher blickte auf die Silbermünzen, die in seiner grimmen Riesentatze ganz klein und wie ein Sinnbild des elenden Lohnes wirkten, den ein Menschenkind während der kurzen Zeit seines Erdenwallens für alle Mühe und Plage zu erwarten hat.
Er war anständig bezahlt worden – mit vier Schillingstücken –, die er nun unbeweglich betrachtete, als enthielten sie die überraschende Lösung eines traurigen Problems. Die langsame Unterbringung dieses Schatzes in seiner Innentasche erforderte umständliches Herumwühlen in den Tiefen schäbiger Gewänder. Der Mann war eckig von Gestalt und wenig schmiegsam. Stevie, schmächtig, die Schultern ein wenig hochgezogen, die Hände tief in den Taschen seines warmen Überrocks vergraben, stand auf dem Bürgersteig und gaffte.
Der Kutscher unterbrach seine planvollen Bemühungen, wie von einer nebelhaften Erinnerung gepackt.
»Oh, da bist du ja, mein Junge«, zischelte er. »Du wirst ihn wiedererkennen, nicht wahr?«
Stevie gaffte das Pferd an, dessen Hinterteil infolge seiner Magerkeit unglaublich steil erschien. Der kurze, steife Schwanz schien in herzlosem Scherz hineingesteckt; und am anderen Ende bog sich der dünne, flache Hals, wie ein mit altem Pferdefell bezogenes Brett, tief zu Boden unter dem Gewicht des ungeheuren, knochigen Schädels. Die Ohren hingen nachlässig in verschiedenen Winkeln herunter. Die ganze grausige Mißgestalt dieses stummen Erdenpilgers, von Rippen und Rückgrat scharf durchzogen, ragte in die dumpfe Abendstille.
Der Kutscher tupfte mit dem Eisenhaken, der aus seinem ausgefransten, schmierigen Ärmel hervorragte, Stevie leicht gegen die Brust.
»Schau mal her, mein Junge, könnte es dir Spaß machen, so bis zwei Uhr in der Frühe hinter dem Roß da zu sitzen?«
Stevie sah geistesabwesend in die funkelnden, kleinen Augen mit den rotgeränderten Lidern.
»Er ist nicht lahm,« fuhr der andere in scharfem Flüstertone fort, »er hat keine offenen Stellen auf sich. Da steht er. Könnte es dir Spaß machen – – –«
Seine ausgeschriene, klanglose Stimme gab seiner Äußerung den Klang tiefsten Geheimnisses. In Stevies leerem Blick schimmerte Furcht auf.
»Du kannst gut schauen! Bis drei und vier Uhr in der Frühe, kalt und hungrig, immer nach Fahrgästen ausschauen und nach einem Schluck zu trinken.«
Seine lustigen, roten Wangen starrten von weißen Stoppeln, und wie Virgils Silen, mit den Flecken des Rebensafts im Gesicht, mit sizilischen Hirten von den olympischen Göttern sprach, so sprach nun er zu Stevie von der Häuslichkeit und dem Leben von Männern, deren Leiden groß sind, und die nicht unbedingt auf Unsterblichkeit rechnen können.
»Ich bin eine Nachtdroschke, das bin ich«, flüsterte er, zwischen Ruhmredigkeit und Verzweiflung. »Ich muß nehmen, was ich kriege. Ich habe ein Weib mit vier Kindern zu Hause.«
Die Ungeheuerlichkeit dieses Bekenntnisses zur Vaterschaft schien die Welt zu verblüffen. Ein Schweigen fiel ein. Die Flanken des alten Gauls, der für den apokalyptischen Reiter gemacht schien, schickten den Dampf hinauf in den Lichtkreis der wohltätigen Gaslaterne. Der Kutscher grunzte und fügte in geheimnisvollem Flüstertone hinzu:
»Man hat’s nicht leicht in dieser Welt!«
Stevies Gesicht hatte schon einige Zeit gezuckt; nun machte er seinen Gefühlen wie gewöhnlich in knappster Form Luft.
»Schlecht! Schlecht!« Sein Blick blieb starr auf die Rippen des Pferdes gerichtet, düster und eindringlich, als fürchtete er sich, ringsum die Schlechtigkeit der Welt zu treffen. Sein schmächtiger Wuchs, die rosigen Lippen und die blasse, reine Haut gaben ihm das Aussehen eines zarten Knaben, trotz dem goldigen Flaum auf den Wangen. In seinem Gaffen lag Furchtsamkeit, wie bei einem kleinen Kinde. Der Kutscher, kurz und breit, maß ihn mit dem Blick seiner wilden, kleinen Augen, die in einer wasserhellen Säure zu schwimmen schienen.
»Hart für Pferde, aber noch verdammt härter für arme Kerle wie mich«, ächzte er, gerade noch vernehmlich.
»Arm, arm!« stammelte Stevie, und stieß im Übermaß seines Mitleids die Hände tief in die Taschen. Er konnte nichts sagen; denn seine Zärtlichkeit für alle Mühseligen und Beladenen, seine Sehnsucht, die Pferde glücklich und den Kutscher glücklich zu machen, hatte sich bis zu dem lächerlichen Wunsch gesteigert, sie mit in sein Bett zu nehmen. Und er wußte, daß das unmöglich war. Denn Stevie war nicht verrückt. Es war sozusagen eine symbolische Sehnsucht. Dabei aber doch sehr deutlich, da sie aus der Erfahrung kam, der Mutter der Weisheit. Wenn er nämlich als Kind in einem dunklen Winkel gehockt hatte,