Джозеф Конрад

Gesammelte Werke von Joseph Conrad


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wird sich gar nicht freuen!« Der Gedanke an Herrn Verlocs Kummer und seine Freudlosigkeit hatte wie gewöhnlich die stärkste Wirkung auf Stevies im Grunde gelehrige Sinnesart. Er gab jeden Widerspruch auf und kletterte mit verzweifeltem Gesicht wieder auf den Bock hinauf.

      Der Kutscher wandte ihm drohend sein ungeheures rotes Gesicht zu: »Fang mir die Dummheit nicht noch einmal an, mein Junge!«

      Nachdem er sich so in gepreßtem, fast ersticktem Flüsterton verlautbart hatte, fuhr er weiter und grübelte feierlich vor sich hin. Der Sinn des Zwischenfalles blieb ihm verschlossen, doch fehlte es ihm nicht an gesundem Verstand, wenn ihm auch in den langen Jahren, in denen er sich der Unbill der Witterung ausgesetzt hatte, die geistige Beweglichkeit abhandengekommen war. So wies er ernsthaft die Meinung von sich, daß Stevie etwa ein junger Trunkenbold sein könnte.

      Im Wageninnern hatte Stevies Empörung den Bann des Schweigens gebrochen, der die beiden Frauen gefangen gehalten hatte, während sie Schulter an Schulter das Rumpeln, Rasseln und Klirren der Fahrt erduldet hatten. Winnie erhob die Stimme:

      »Sie haben Ihren Willen gehabt, Mutter. Sie werden sich nun bei sich selbst zu beklagen haben, wenn Sie nachher unglücklich werden. Und das, denke ich, wird wohl kommen. Wirklich. Hatten Sie’s bei uns nicht bequem genug? Was sollen nur die Leute von uns denken – wenn Sie jetzt so die Wohltätigkeit in Anspruch nehmen?«

      Die alte Frau suchte eindringlich den Lärm zu übertönen: »Meine Liebe, du warst mir die beste Tochter. Und Herr Verloc – nun –«

      Da ihr die Worte fehlten, um gebührend Herrn Verlocs Lob zu singen, so wandte sie ihre alten tränenvollen Augen zum Wagendache empor. Dann drehte sie unter dem Vorwand, zum Fenster hinauszusehen, den Kopf, als wollte sie sich von dem Fortschritt der Fahrt überzeugen. Der war unbedeutend und vollzog sich unter steter Berührung mit dem Randstein. Die Nacht, die frühe, trübe Nacht, die düstere, lärmende, hoffnungslose Nacht von Süd-London hatte sie während ihrer letzten Wagenfahrt überfallen. Im Schein der Gaslampen vor den niedrigen Läden glänzte ihre massige Wange orangefarben unter schwarzgelber Haube.

      Frau Verlocs Mutter hatte eine gelbe Hautfarbe bekommen, teils durch das Alter und teils durch ihre natürliche Veranlagung zum Gallenfieber, welch letztere durch die vielen Zwischenfälle ihres mühseligen Lebens erst als Frau, dann als Witwe, vertieft worden war. Es war eine Hautfarbe, die beim Erröten deutlich orangen wirkte. Und diese Frau, zwar bescheiden, doch an allerlei Widrigkeiten gestählt, überdies in einem Alter, wo das Rotwerden ungewöhnlich ist, war tatsächlich vor ihrer Tochter errötet. In der Enge einer Droschke, auf dem Weg zu einem Altersheim, das mit seinen spärlichen Ausmaßen und der bescheidenen Einrichtung gerne als eine Vorschule für die noch größere Enge des Grabes bezeichnet werden konnte – hier also sah sie sich gezwungen, vor ihrem eigenen Kinde ein Erröten voll Reue und Scham zu verbergen.

      Was würden die Leute denken? Sie wußte es sehr gut, was die Leute dachten, die Winnie im Sinn hatte – die alten Freunde ihres Mannes und auch andere, deren Anteilnahme sie mit so erfreulichem Erfolg zu erwecken bemüht gewesen war. Sie hatte nie zuvor gewußt, wie gut sie sich aufs Betteln verstand. Aber sie war sich völlig im Klaren darüber, welcher Beweggrund ihrer Bewerbung untergeschoben worden war. Das Zartgefühl, das in der männlichen Natur neben aufreizender Rohheit wohnt, hatte eine eingehende Untersuchung ihrer Lebensumstände verboten. Das hatte sie durch ein sichtliches Zusammenpressen der Lippen verhindert, und durch sonstige Anzeichen einer Erregung, die stumm-beredt wirken sollten. Und die Männer hatten plötzlich, nach der Art ihres Geschlechts, alle Neugier verloren. Sie hatte sich selbst öfter als einmal beglückwünscht, daß sie es nicht mit Frauen zu tun gehabt hatte, die, von Natur aus schlauer und begieriger auf Einzelheiten, zweifellos auf genauer Erklärung bestanden hätten, durch welche Lieblosigkeiten ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns sie zu diesem traurigen Schritt gedrängt worden sei. Nur in Gegenwart des Privatsekretärs, der als Vertreter seines Brotgebers, jenes großen Brauers, des Parlamentsmitgliedes und Stiftungsvorsitzenden, sich zu genauen Erkundigungen nach den wahren Verhältnissen der Bittstellerin verpflichtet gefühlt hatte –, nur da war sie in lautes Weinen ausgebrochen, wie eine Frau, die sich in die Enge getrieben sieht. Der magere und höfliche Herr hatte sie eine Weile betrachtet, mit einem Ausdruck, als wäre er »ganz über den Haufen geworfen«, und hatte dann die Aufgabe seines Vorhabens unter einigen tröstlichen Worten verborgen. Sie sollte sich nicht grämen. In den Satzungen sei nicht ausdrücklich von »kinderlosen Witwen« die Rede, sie sei also durchaus nicht als Bewerberin ausgeschlossen. Der Ausschuß müßte aber bei aller Nachsicht doch unterrichtet sein. Es sei leicht begreiflich, daß sie niemand lästig fallen wolle und so weiter, und so fort. Daraufhin hatte Frau Verlocs Mutter, zu seiner größten Enttäuschung, noch heftiger zu weinen begonnen.

      Die Tränen dieses massigen Weibes mit der dunklen, staubigen Perücke und dem altmodischen Seidenkleide mit Baumwollspitzen, waren Tränen ehrlichen Kummers. Sie hatte geweint, weil sie heldenmütig, unbekümmert und voll von Liebe war für ihre beiden Kinder. Mädchen werden häufig der Wohlfahrt von Jungen aufgeopfert. In diesem Fall nun opferte sie Winnie. Durch die Unterdrückung der Wahrheit gab sie sie preis. Natürlich, Winnie war ja unabhängig, und die Meinung von Leuten, mit denen sie nie zusammenkommen würde, brauchte sie nicht zu bekümmern; während der arme Stevie in der Welt nichts sein eigen nennen konnte außer dem Heldenmut und der Unbedenklichkeit seiner Mutter.

      Das Sicherheitsgefühl, das sie zunächst nach Winnies Verheiratung empfunden hatte, war bald geschwunden (denn nichts währt), und Frau Verlocs Mutter hatte sich in der Abgeschlossenheit ihres Hinterzimmers die bitteren Lehren der Erfahrung vor Augen geführt, die die Welt für eine Witwe bereit hält. Das war aber ohne unnötige Bitterkeit geschehen; das Maß ihrer Entsagung reichte fast an Würde hinan. Sie überlegte kühl, daß alles auf dieser Welt verweht, vergeht; daß man es dem Gütigen leicht machen sollte, gütig zu bleiben; daß ihre Tochter Winnie eine herzlich liebreiche Schwester war und als Frau von größter Selbstbeherrschung. Beim Gedanken an Winnies Schwesterliebe hielt ihre Kühle nicht stand. Sie nahm dieses Gefühl von dem Gesetz der Vergänglichkeit aus, dem alle menschlichen und einige göttlichen Dinge unterworfen waren. Sie konnte nicht anders; das Gegenteil wäre ihr zu schrecklich gewesen. In der Betrachtung der ehelichen Verhältnisse ihrer Tochter aber unterdrückte sie entschlossen alle Neigung zur Schönfärberei. Mit kalter Vernunft sagte sie sich, daß Herrn Verlocs Güte umso länger bestehen bleiben würde, je weniger man sie in Anspruch nähme. Dieser ausgezeichnete Mann liebte seine Frau natürlich, würde es aber zweifellos vorziehen, möglichst wenige ihrer Verwandten bei sich zu behalten, um die Auswirkung dieses Gefühls nicht zu hemmen. Es war besser, wenn diese Wirkung auf den armen Stevie beschränkt blieb, und die heldenmütige alte Frau entschloß sich, von ihren Kindern wegzugehen, aus einem Übermaß an Liebe und Lebensklugheit.

      Diese Lebensklugheit gipfelte darin (Frau Verlocs Mutter war gewisser Feinheiten sehr wohl fähig), daß Stevies moralische Ansprüche durch ihren Weggang an Kraft gewinnen mußten. Der arme Junge – ein guter, verwendbarer Junge, wenn auch ein bißchen eigen – hatte keine hinlänglich gefestigte Stellung. Er war zugleich mit seiner Mutter mitgenommen worden, sozusagen mit der Einrichtung der Belgravia-Pension, als ob er ausschließlich zu seiner Mutter gehörte. Was wird sein, fragte sie sich (denn Frau Verlocs Mutter hatte Einbildungskraft), wenn ich sterbe? – Und wenn sie sich diese Frage vorlegte, so geschah es mit Ängsten. Es war ja auch furchtbar, daß sie dann niemals wissen würde, was mit dem armen Jungen geschähe. Vermachte sie ihn aber solcherart seiner Schwester, indem sie wegging, so verschaffte sie ihm den Vorzug völliger Abhängigkeit. Dadurch bekam der bedenkliche Heldenmut von Frau Verlocs Mutter seine Weihe. Ihre Selbstaufgabe hatte tatsächlich nur den Zweck, ihrem Sohne eine lebenslängliche Versorgung zu sichern. Andere Leute bringen zu einem solchen Zweck Geldopfer, sie brachte dieses. Es war das einzig mögliche. Und überdies würde sie seine Wirkung beobachten können. Wohl oder übel würde sie so der furchtbaren Ungewißheit auf dem Totenbett entgehen. Aber es war hart, hart, grausam hart.

      Die Droschke rasselte, klirrte, rumpelte. Besonders das letztere in einem so ungewöhnlichen und großartigen Maße, daß es den Sinn für die Vorwärtsbewegung übertäubte; es erzeugte das Gefühl, daß man in einer mittelalterlichen, feststehenden Folterbank eingezwängt sei, oder in einem der neumodischen Apparate zur Behebung von Verdauungsstörungen. Alles war