zur Zeit nicht besonders gut, denn sie hatte sich vor kurzem von ihrem Freund getrennt.
Der attraktive Kollege, der ihr Herz im Sturm erobert hatte, war leider ebenso charmant wie untreu. Sarah hatte viel zu lange die Augen vor der Wirklichkeit verschlossen, weil sie nicht sehen wollte, was allzu offensichtlich war.
Erst als sie ihren Liebsten in den Armen einer Lernschwester erwischt hatte, war kein Ausweichen mehr möglich gewesen. Obwohl sie unterschwellig längst geahnt hatte, was sich hinter ihrem Rücken abspielte, war ihr Herz nun doch gebrochen und Sarah fühlte sich schrecklich allein und unglücklich.
Ihre Freunde, allen voran Rita, gaben sich große Mühe, sie zu trösten und auf andere Gedanken zu bringen. Ganz allmählich ebbte der Trennungsschmerz ein wenig ab. Trotzdem verspürte Sarah noch längst keine Lust auf etwas Neues. Sie ging jedem Flirt aus dem Weg, denn sie wollte unter gar keinen Umständen noch einmal dermaßen enttäuscht werden.
Auch an diesem Abend hielt sie sich im Kreise der Kollegen sehr zurück. Sarah mochte das »Chill-Out«, ein angesagtes Lokal am Themseufer, wo immer eine entspannte und lockere Atmosphäre herrschte. Doch sie wich jedem Blickkontakt aus und gab allen Männern, die mit ihr tanzen wollten, einen Korb.
»Sei nicht so albern, Sarah«, mahnte Rita sie schließlich. »Du kannst Ted nicht ewig hinterher heulen. Er ist es nicht wert.«
»Ich weiß. Und er verschwendet bestimmt keinen Gedanken mehr an mich. Aber das macht es auch nicht einfacher«, seufzte sie.
»Hast du mal wieder was von deinem Bruder gehört?«, wechselte Rita nun das Thema. David, Sarahs Zwillingsbruder, hatte die Schwester einige Male in London besucht. Er gefiel Rita und sie hatte jedes Mal heftig mit ihm geflirtet. David, der ein lockerer Typ war, ging gerne darauf ein, was Sarah allerdings nicht gut fand. Und das sagte sie ihrer Freundin nun auch noch einmal.
»Keine Ahnung, wo David herumhängt. Ehrlich gesagt, bin ich froh, wenn er sich nicht bei mir meldet. Das tut er sowieso nur, wenn er in Schwierigkeiten ist oder Geld braucht. Meistens beides. Und was seine Einstellung zu Frauen angeht, die ist wirklich unmöglich!«
»Ich weiß, ihr streitet immer. Aber ich mag ihn.«
»Du meinst, er gefällt dir. Das ist was anderes. David gefällt allen Frauen. Das ist ja das Dilemma. Wäre er nicht so umwerfend jungenhaft und charmant, hätte vielleicht noch was aus ihm werden können. Aber mittlerweile habe ich die Hoffnung schon fast aufgegeben. Und ich glaube, Tante Alice auch.«
»Er hat eben noch nicht den idealen Job gefunden, so was kommt vor. Er muss erst zu sich selbst finden«, sinnierte Rita.
Sarah bedachte die Freundin mit einem schrägen Blick. »Und das von einer Frau, die immer Jahrgangsbeste und die Jüngste war? Ich finde, so viel Nachsicht passt gar nicht zu dir.«
»Einer muss ja Nachsicht zeigen, wenn du so streng mit deinem kleinen Bruder ins Gericht gehst.«
»Dass er zehn Minuten jünger ist als ich, hat er schon als Junge ausgenutzt«, scherzte die junge Ärztin. »Aber im Ernst. Manchmal denke ich, dass er den frühen Tod unserer Eltern und vor allem Tante Alice Gutherzigkeit schamlos ausnutzt, um all den Unfug zu rechtfertigen, den er immer noch treibt.«
»Er wird sich noch fangen. Bei manchen dauert das eben etwas länger. Nicht jeder weiß schon mit zwölf, was er werden will.«
»Aber wir gehen beide auf die dreißig zu. Ich finde, David hatte wirklich genug Zeit, etwas Sinnvolles mit seinem Leben anzufangen. Tante Alice kommt langsam in die Jahre. Es wäre jetzt eigentlich an ihm, sich zu kümmern und ein wenig von dem zurückzugeben, was er so lange ohne Zögern genommen hat. Aber daran denkt er nicht mal im Traum.«
»Du bist zu streng mit ihm. Nimm ihn lieber, wie er ist. Schließlich heißt es doch immer, dass Zwillinge ein Herz und eine Seele und vielleicht sogar ein Verstand sind.«
Sarah lachte trocken. »Wir sind zweieiig …«
Der Abend klang dann doch noch recht harmonisch aus, und als Sarah sich von ihren Freunden verabschiedete, dankte sie Rita für die Einladung.
»Komm doch wieder öfter mit, wenn wir losziehen«, bat die Freundin und umarmte sie herzlich. »Du wirst sehen, das ist das beste Mittel gegen Herzschmerz.«
»Ich dachte, das ist Arbeit.«
Rita lachte. »Arbeit ist deine Leidenschaft, Liebes, das ist ganz was anderes …«
Als Sarah dann ihr kleines, schick eingerichtetes Appartement im nahen Clerkenwell betrat, war sie hundemüde. Sie ging rasch unter die Dusche und schlief sofort ein, als ihr Gesicht das Kopfkissen berührte.
Die junge Ärztin hatte einen ruhigen und tiefen Schlaf, der meist traumlos verlief. Zumindest konnte sie sich am nächsten Morgen nicht an ihre Träume erinnern. Und das war Sarah nur recht, denn sie lebte nach dem Motto »Träume sind Schäume“. Sie war eine knochenharte Realistin, für die nur Fakten zählten. Romantik und Träumereien hatte sie aus ihrem Leben verbannt. Und seit sie in der Liebe Schiffbruch erlitten hatte, sah sie sich in dieser Einstellung zudem bestätigt. In dieser Nacht aber durchlebte Sarah im Schlaf eine wahre Hölle. Als sie am nächsten Morgen von ihrem Wecker aus Morpheus’ Armen gerissen wurde, blieb sie, ganz entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten, noch eine Weile im Bett liegen. Sie fühlte sich zerschlagen und fertig. Und sie hatte ein übles Gefühl in der Magengegend, wie eine böse Vorahnung, ein Fanal kommenden Unheils …
Sarah fand sich im Traum auf Harper-Island wieder, der kleinen Kanalinsel, auf der sie den größten Teil ihrer Kindheit verbracht hatte. Alles war ihr noch so vertraut, als habe sie es erst gestern verlassen.
Das schöne, alte Herrenhaus, die Freigehege mit den Pfauen, die ihre Tante Alice gezüchtet hatte. Ganz besonders stolz war sie auf die überaus edlen weißen Exemplare gewesen. Die großen Stallungen, die Onkel Gregorys Zucht eleganter Rennpferde beherbergt hatte. Die vielen Nebengebäude, das Wohnhaus für das Personal und, und, und …
Sarah wanderte im Traum durch diesen ihr im Herzen noch immer so nahen Ort, mit dem sie eigentlich nur positive Erinnerungen verband. Und doch war nun alles anders. Das Haus war leer. Die Fenster glichen dunklen Höhlen, die Tür stand weit offen, welkes Laub war in die großzügige Halle geweht worden. Bleigraue Wolken hingen über dem Kanal, ein kalter Wind trieb sie vor sich her. Dichter Regen, der einem düsteren Vorhang glich, ging nieder, es wurde so dunkel, dass die Konturen verschwammen, alles in einem diffusen Schiefergrau zu versinken schien. Und jemand flüsterte ihren Namen.
»Sarah, komm nicht nach Harper-Island zurück, bleib fort!«
Sie blickte sich in alle Richtungen um, doch niemand hielt sich in ihrer Nähe auf. Die Stimme schien aus dem Nichts zu kommen. Unvermittelt stand Sarah im Schlafzimmer ihrer Tante. Es war dunkel, vor dem Fenster ballte sich die Finsternis der Nacht. Der Raum war so eingerichtet, wie Sarah ihn kannte. Und doch war alles anders. Die Möbel waren mit einer dicken Staubschicht bedeckt, der Teppich schmutzig, Schimmel überzog die Tapeten. Es war, als sei hier sehr lange niemand mehr gewesen, als sei das Haus aufgegeben und sich selbst überlassen worden.
Sarah konnte die Bilder dieses Traums nicht verstehen. Sie wusste, dass ihre Tante und David noch in ›Ivy-House‹ lebten, ebenso die Bediensteten. Was also hatte das alles zu bedeuten? Sie konnte es sich nicht erklären. Doch etwas stimmte nicht, etwas ging vor, heimlich, im Schutz der Dunkelheit, im Verborgenen. Und als sie bereits wach war, da meinte sie, noch immer das unheimliche Flüstern zu hören.
»Sarah, komm nicht nach Harper-Island zurück, bleib fort!«
Doch was hatte diese Warnung zu bedeuten?
*
»Dr. Blake, ein Anruf für Sie!« Die Schwester reichte Sarah, die gerade aus dem Zimmer eines Patienten kam, das Telefon. »Und Dr. Mason wollte Sie sprechen.«
»Danke, ich komme gleich.« Auf dem Weg zum Ärztezimmer nahm Sarah den Anruf entgegen. Am anderen Ende meldete sich eine ihr unbekannte männliche Stimme. »Hier James Lancaster. Spreche ich mit Dr. Sarah Blake?«
Sie bejahe. »Was kann