Antworten zu finden, taten sich ihr ständig nur neue Fragen auf. Damit sollte nun Schluss sein. Dick Jones würde ihr Rede und Antwort stehen und zwar genau jetzt!
Nach dem Tod ihrer Großtante gehörte Sarah die Hälfte von ›Ivy-House‹. Sie hatte nicht vor, bei Dick die neue Herrin herauszukehren. Aber sie würde ihn notfalls daran erinnern, dass er ihr ebenso verpflichtet war wie früher Alice Tumbrill.
Rasch zog Sarah sich an und verließ ihre Räumlichkeiten. Im Haus war es still, alle schienen noch zu schlafen. Die junge Ärztin eilte die Freitreppe hinunter und betrat die Halle. Durch die Bleiverglasungen der Eingangstür sah man einen ersten Hauch des Morgenrots. Es wurde allmählich hell.
Der neue Tag vertrieb für Sarah die Nachtgespenster und sorgte dafür, dass sie zu ihrer gewohnten Selbstsicherheit zurückfand. Als sie über den Vorplatz auf das Verwalterhaus zusteuerte, lauschte sie auf das erste Lied des frühen Morgens, das ein Rotschwanz vom obersten Wipfel einer Blutbuche aus in die klare Morgenluft schmetterte.
Im Verwalterhaus brannte Licht. Sarah klopfte energisch an die Haustür und musste nicht lange warten, bis Dick ihr öffnete. Offenbar hatte er aber jemand anders erwartet, denn als er sie erblickte, zuckte er leicht zurück.
»Guten Morgen, Dick. Kann ich mit Ihnen reden?«, fragte sie.
»Es ist sehr früh, Miss Sarah. Was haben Sie denn auf dem Herzen?«, antwortete er mit einer Gegenfrage.
»So einiges. Und da es noch so früh ist, haben Sie wohl jetzt Zeit, mit mir zu reden, oder?«
Er zögerte, wirkte alles andere als begeistert, trat dann aber doch beiseite und machte eine einladende Geste, der Sarah sogleich folgte.
Das kleine Haus war gemütlich eingerichtet, aufgeräumt und sauber. Dick führte seinen frühen Gast in das schmale Wohnzimmer, das sie noch aus Kindertagen kannte. Der alte Schaukelstuhl, in dem Dicks Vater am Feierabend gern gesessen und ein Pfeifchen geschmaucht hatte, stand noch an seinem Platz. Ein Bild der Eltern stand auf dem Kaminsims, es trug eine schwarze Ecke. Dick hatte es wohnlich, doch man sah dem Raum auch an, dass er wenig benutzt wurde.
»Möchten Sie Tee? Ich habe gerade welchen gekocht«, bot er an.
»Gerne.« Sie setzte sich auf die Couch und blickte aus dem Fenster, hinter dem allmählich die Sonne aufging. Als Dick ihr einen Becher Tee reichte, bedankte sie sich.
Der junge Verwalter setzte sich ihr gegenüber in einen Sessel und schaute sie aufmerksam an. Seine Miene war allerdings verschlossen und gab nichts darüber preis, was er dachte.
»Sie haben mich gestern davor gewarnt, Dr. Lancaster zu vertrauen. Ich wüsste gern, warum«, erklärte sie direkt.
»Sie verlangen viel von mir, Miss Sarah. Dabei wissen Sie doch, dass es nicht meine Art ist, über anderen Leute zu reden. So bin ich nun mal erzogen.«
»Ich will ja gar nicht, dass sie klatschen. Ich habe nur das Gefühl, dass hier einiges nicht stimmt. Mein Bruder zum Beispiel ist offenbar verschwunden, jedenfalls kann ich ihn nicht erreichen. Und niemand scheint sich darüber zu wundern. Keiner macht sich Sorgen um David. Ich finde das jedenfalls nicht normal. Vielleicht sollte ich eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufgeben.«
»Das wird nichts nutzen«, brummte Dick und trank einen Schluck Tee. »Wenn David nicht gefunden werden will …«
»Aber wo könnte er denn sein? Ich begreife nicht, wieso er nicht zu Tante Alice Beerdigung gekommen ist.«
»Er ist unterwegs, nehme ich an.«
»Aber wo? Und was tut er?« Sie seufzte. »Ich habe die Nase voll von diesen schwammigen Behauptungen. Ich will endlich wissen, was hier los ist! Und wenn Sie mir nichts sagen, Dick, dann muss ich mich wohl oder übel an Dr. Lancaster halten.«
»Wenn Sie meinen, Miss …«
»Dick!« Sie stellte den Tee ab und erhob sich, er stand ebenfalls auf, für eine Weile standen sie sich wortlos gegenüber, schließlich fragte Sarah leise: »Was wissen Sie, Dick? Sie verschweigen mir doch etwas. Bitte, seien Sie ehrlich zu mir. Wem sonst kann ich hier trauen?«
Er verzog unwillig den Mund. »Wer sagt Ihnen, dass Sie mir trauen können? Sie müssen schon selbst dahinter kommen, was hier los ist. Ich kann es Ihnen nicht sagen.«
»Können oder wollen Sie es mir nicht sagen?«
Darauf antwortete der junge Verwalter nicht. Er drehte sich einfach um und ließ Sarah allein. Seine Reaktion aber war für sie schon Antwort genug. Ärgerlich verließ sie das Verwalterhaus und kehrte in ihre Räumlichkeiten zurück.
Sarah hatte wirklich gehofft, offen mit Dick Jones reden zu können. Auch wenn er ein verschlossener Sturkopf war, hatte sie doch das Gefühl, dass er im Grunde seines Herzens ehrlich und aufrichtig war, dass sie ihm trauen konnte. Aber er machte es ihr zu schwer. So blieb ihr nichts anderes übrig, als sich an James Lancaster zu halten, wollte sie hinter das Geheimnis von Harper-Island kommen. Und das wollte sie nicht nur, das musste sie. Schließlich ging es dabei auch um das Schicksal ihres Bruders, das ihr immer rätselhafter wurde.
*
Als Dr. Lancaster am nächsten Abend vorbeischaute, hatte Sarah ihn bereits erwartet. Sie saß an Gregory Tumbrills Schreibtisch und machte ein ratloses Gesicht.
»Die Unterlagen hier sind unvollständig und leider nicht sehr aussagekräftig«, beschwerte sie sich entnervt. »Wissen Sie, wer sich um Tante Alice schriftliche Angelegenheiten gekümmert hat? Wer immer es war, er hat ein mittleres Chaos hinterlassen.«
»Soweit ich weiß, hat sie das selbst gemacht. In letzter Zeit wurde wohl vieles vernachlässigt. Ich helfe Ihnen gern, Frau Kollegin. Ein bisschen was verstehe ich schon von Buchhaltung und diesen Dingen.«
»Aber das kann ich doch nicht von Ihnen verlangen, schließlich haben Sie jetzt Feierabend und sind Gast in diesem Haus.«
»Seien Sie nicht so umständlich.« Er lächelte ihr charmant zu, griff sich einen Stuhl und gesellte sich zu ihr. Sarah stellte fest, dass der Kollege tatsächlich ein Händchen für die Materie hatte. Bald kamen sie ein Stück voran und am späten Abend hatte die junge Frau schon einen ungefähren Überblick über die Finanzen von ›Ivy-House‹.
»Das sieht nicht so gut aus, wie ich erwartet habe«, gab sie offen zu. »Tante Alice scheint meinem Bruder mehr Geld gegeben zu haben, als vernünftig war. Und diese Summen fehlen nun beim Erhalt des Besitzes. Ich fürchte, das wird Probleme geben.«
»Denken Sie denn daran, ›Ivy-House‹ zu verkaufen?«
»Darüber habe ich mir, ehrlich gesagt, noch keine Gedanken gemacht. Eigentlich wollte ich diese Dinge zunächst mal mit David besprechen. Aber das scheint ja unmöglich zu sein. Deshalb weiß ich wirklich nicht, wie es hier weitergehen soll.«
»Ihr Bruder wird über kurz oder lang zurückkommen. Wenn Sie vorher abreisen sollten, kann ich Sie benachrichtigen. Hatten Sie vielleicht Streit miteinander?«
»Nein. Wie kommen Sie denn auf die Idee?«
»Nun, weil Sie erwähnten, dass Sie Ihrem Bruder Nachrichten hinterlassen haben. Ich wundere mich darüber, dass er nicht darauf reagiert hat.«
»Haben Sie einen bestimmten Verdacht?«
Dr. Lancaster hob die Schultern. »Ehrlich gesagt, nein.«
»Ich kann das Verschwinden meines Bruders jedenfalls nicht als normal betrachten. Sollte David nicht innerhalb dieser Woche hier auftauchen, werde ich eine Vermisstenanzeige aufgeben.« Sie behielt den Kollegen im Auge, während sie das sagte, doch er zuckte nicht mit dem Wimper. Im Gegensatz zu Dick Jones schien Dr. Lancaster tatsächlich nichts übers Davids Verbleib zu wissen. Er riet ihr: »Gehen Sie aber in Plymouth zur Polizei. Die Dorfpolizisten in Land’s End werden Ihnen kaum weiterhelfen können. Diese Gegend hier ist eben doch sehr ländlich.«
Sarah nickte, dann fiel ihr Blick auf die Uhr und sie erschrak. »Schon so spät? Sie haben mir den ganzen Abend geopfert, Herr Kollege. Wie kann ich das nur wieder gutmachen? Essen