die Bahngleise nicht verschüttet, sonst hätte Maja vermutlich erst am anderen Vormittag oder noch später eine vernünftige Gelegenheit gefunden, um in die bayerische Landeshauptstadt zu gelangen.
Während der gesamten Fahrt wurde Maja von der Sorge um ihre gerade mal etwas über fünfzig Jahre alte Lieblingstante Claudia Ritter geplagt. Sie hatte nichts gewusst von Claudias schon vor fast drei Wochen eingetretenem Schlaganfall, sonst hätte sie wahrscheinlich versucht, den Urlaub zu verschieben. Der Anruf von Jens hatte Maja sozusagen eiskalt erwischt. Sie hatte ihm deswegen auch Vorhaltungen gemacht, weil er ihr nicht umgehend Bescheid gegeben hatte.
Claudia war eine attraktive, seit über zehn Jahren verwitwete und sehr vermögende Dame und Mutter des besagten Studenten Jens, die sich um ihren Lebensunterhalt keine Sorgen zu machen brauchte. Sie reiste oft in ferne Länder und betrieb zum Zeitvertreib ein wenig Malerei und Töpfern in einer kleinen Werkstatt in der Nähe ihrer Wohnung in München-Schwabing.
Vom Verkauf ihrer »Kunst« zu leben brauchte sie auf keinen Fall; ihr Mann hatte ihr und Jens eine Menge an Geld und Sachwerten hinterlassen.
Sie joggte, spielte Golf und Tennis, segelte, schwamm und fuhr im Winter Ski. Sie trank kaum Alkohol, verzichtete aufs Rauchen und ernährte sich kalorienbewusst und vor allem »gesund«. Niemand, der die hübsche schlanke Frau kannte, wäre je auf den Gedanken gekommen, sie könnte eine mögliche Kandidatin für Schlaganfälle sein.
Mitten in ihren Überlegungen kam Maja der Gedanke, dass sie bereits längere Zeit verschont geblieben war von den Ereignissen in Tirol – an denen sie ja in Wahrheit gar nicht mehr teilhatte, die ihr aber dennoch so plastisch vor Augen gestanden hatten, als erlebe sie wahrhaftig alles mit … Darüber war Maja sehr froh. Es schien, als hätte in ihrem Kopf zum Glück erneut »Normalität« Einzug gehalten.
Zum wiederholten Male zog die junge Frau ihr Handy hervor, um ihren Cousin Jens, der längst nicht mehr bei seiner Mutter lebte, sondern in einer Schwabinger Studenten-WG, anzurufen. Er musste schließlich wissen, dass sie später als erwartet im Bahnhof ankäme. Sie wollte ihm auch sagen, dass sie sich sehr freue, wenn er sie – wie versprochen – abholen werde.
Sie könnte aber auch verstehen, wenn die Zugverspätung von etwa 45 Minuten seine Zeiteinteilung durcheinander gebracht hätte und er sie nicht persönlich begrüßen könne. Er sollte sich bloß melden, um ihr Bescheid zu geben, ob sie eventuell auf ihn warten oder gleich zur Schwabinger Wohnung fahren solle.
Falls er allerdings weg müsse, solle er den Schlüssel zur Wohnung seiner Mutter irgendwo hinterlegen, wo sie ihn leicht finden könne.
Alles das wollte Maja Jens mitteilen, aber leider ging nur die Mailbox dran – und ab Rosenheim gab es dann seltsamerweise gar keinen Empfang mehr.
»Komisch!«, murmelte Maja ärgerlich vor sich hin. »Er wird das verflixte Ding doch nicht etwa ausgeschaltet haben? Na, vermutlich hat der Schlauberger nur wieder mal vergessen, den Akku aufzuladen …«
Eine ältliche Mitreisende, die ihr seit Innsbruck gegenüber saß und immer wieder versuchte, mit der bildhübschen Blondine ein Gespräch anzufangen, beobachtete alles, was Maja tat, sehr genau. Auch jetzt erkundigte sie sich sogleich:
»Ach herrje, Sie Ärmste! Hat Ihr Freund sein Handy ausgeschaltet? Will er etwa nicht mehr mit Ihnen reden? Dann ist er ein Dummkopf! Aber machen Sie sich nichts daraus, meine Liebe! Eine so schöne Frau wie Sie findet leicht einen anderen!«
Um sich nicht noch tausend andere gute, aber unerbetene Ratschläge anhören zu müssen – und weil sie wirklich sehr besorgt und nervös war – reagierte Maja etwas schroffer, als es für gewöhnlich ihrer verbindlichen Art entsprach.
»Bitte, lassen Sie mich nur in Ruhe! Das richtet sich nicht gegen Sie persönlich«, schwächte sie jedoch umgehend ihre Zurückweisung ab. »Es geht um eine plötzlich schwer erkrankte Verwandte, die ich aufsuchen will und um die ich mir große Sorgen mache!«
Demonstrativ wandte Maja sich von der etwas aufdringlichen Frau – einer vollschlanken Person um die fünfzig – ab und blickte erneut nachdenklich und mit bangem Gefühl aus dem Zugfenster, an dem bereits die südlichen Vororte Münchens vorbei glitten. Bis zur Ankunft im Hauptbahnhof würde es nicht mehr allzu lange dauern.
Inständig hoffte Maja, dass Jens vor lauter Aufregung übertrieben hatte, als er den Zustand seiner Mutter als höchst besorgniserregend hingestellt hatte. Claudia, die im Allgemeinen einen vernünftigen Lebensstil pflegte und peinlich auf ihr Gewicht achtete, war bisher im Großen und Ganzen immer in guter körperlicher Verfassung gewesen.
Soweit Maja wusste zumindest. Allerdings hatte sie ihre Tante schon beinah ein halbes Jahr nicht mehr zu Gesicht bekommen. Auch der telefonische Kontakt hatte sich in allerletzter Zeit verringert, denn Claudia Ritter hatte drei Monate in Brasilien verbracht, um Verwandte ihres verstorbenen Mannes zu besuchen.
Und Maja hatte wiederum mit ihrer ein wenig schwierigen Schulklasse eine ganze Menge um die Ohren gehabt. Die wenige Freizeit war draufgegangen fürs Tennisspielen. Sie und ihr Verlobter Bernd hatten in diesem Jahr mit dem eleganten »weißen« Sport begonnen und übten auf dem Sandplatz in ihrer Wohnungsnähe, sooft es ihre Zeit erlaubte.
Dennoch verband beide Frauen seit vielen Jahren ein unwahrscheinlich herzliches Verhältnis, beinahe wie Mutter-Tochter! Maja wusste definitiv, falls sie ein wie auch immer geartetes Problem zu meistern hätte, bei Tante Claudia fände sie stets ein offenes Ohr. Die patente und lebenserfahrene Frau würde allezeit einen guten Rat für sie parat haben.
Selbst ihr Sohn Jens, mit fast einundzwanzig Jahren immer noch reichlich grün hinter den Ohren, schätzte mittlerweile durchaus die mütterlichen Ratschläge – und richtete sich sogar hin und wieder nach ihnen.
Kaum hielt der Zug in München, sprang Maja auf, schnappte sich ihren Rucksack, murmelte einen Gruß in Richtung ihrer etwas eingeschnappt wirkenden Mitreisenden und verließ das Erster-Klasse-Abteil. »Alles Gute für Ihre kranke Tante!«, rief ihr die Frau noch nach.
Erst als sie längst aus dem Zug ausgestiegen war, wunderte sich Maja: Ihres Wissens hatte sie nur von einer »Verwandten« gesprochen und das Wort »Tante« gar nicht in den Mund genommen … Merkwürdig! Na, wie auch immer. Maja vergaß die Episode umgehend.
Auf dem Bahnsteig stehend, hörte sie die quäkende und wie üblich kaum verständliche und seltsam blechern klingende Lautsprecherdurchsage, die den verehrten Fahrgästen erst auf Italienisch, dann in Deutsch verkündete, dass dieser Zug aus Italien hier in München endete. Es folgten die üblichen Ansagen über etwaige Anschlüsse zu verschiedenen Zielen auf anderen Bahnsteigen.
Aber da hörte die junge Frau schon lange nicht mehr hin. Sie spähte den Bahnsteig entlang, schulterte ihr Gepäck und marschierte langsam am Zug entlang in Richtung Bahnsteigkopf, und zu den verschiedenen Verkaufsständen, wo Andenken, Zeitschriften, Stadtpläne, Süßigkeiten, Kaffee, Cola, Bratwürste, Wurstsemmeln und Dosenbier verkauft wurden.
Von Jens war weit und breit nichts zu sehen, worüber Maja schon ein wenig enttäuscht war. Er hatte doch versprochen, seine Cousine abzuholen! Naja! Das war ja nicht so schlimm – sie kannte sich ja in München, ihrer Heimatstadt, bestens aus. Dennoch ärgerte sie sich über diesen neuen Beweis der Unzuverlässigkeit ihres jungen Verwandten.
»Jens, Jens«, dachte sie, ‚du hast noch eine ganze Menge zu lernen, falls du Wert darauf legst, als Erwachsener ernst genommen zu werden!’
Ein Blick auf die große runde Bahnhofsuhr über dem Durchgang zur Schalterhalle zeigte, dass ihre Verspätung um etwa zehn Minuten kürzer ausgefallen war, als befürchtet.
»Da hat es vor Ankunft des Zuges bestimmt eine entsprechende Durchsage gegeben! So lange hätte Jens schon auf mich warten können. Falls er sich überhaupt die Mühe gemacht hat, herzukommen!«, dachte Maja leicht verdrossen. Da sie auf einmal Hunger verspürte – im Zug hatte sie keinen Appetit gehabt und weil sie ihre letzte Mahlzeit bereits am vergangenen Abend im Hotel »Schwarzer Schwan« in Kufstein zu sich genommen hatte – beschloss sie, sich etwas an einem der Reiseproviantstände zu gönnen.
»Was soll’s denn