längst da?«
Anne seufzte. »Merlin hat etwas vor. Das Seelenmosaik war der letzte Schlüssel. Es war ihm so wichtig, dass er sogar die Enthüllung Chloes akzeptiert und die Blutnacht eingeleitet hat. Bevor du fragst: Ich kann dir nicht sagen, worum es dabei geht.«
Einmal mehr bereute Tomoe, sich in der Holding eingekapselt zu haben. Sie war davon ausgegangen, dass Johanna, Leonardo, Kleopatra, Einstein und Edison alles im Griff hatten.
»Wieso tötet er uns nicht? Uns Unsterbliche.«
»Tja, er hat wohl Angst vor der Zitadelle. Denn erlischt das Leben eines Unsterblichen, wird ein Nachfolger ernannt. Auf diesen Kreislauf hat auch er keinen Einfluss.«
Zum ersten Mal kam Tomoe ein Gedanke. »Er glaubt, dass die Veränderungen geheim bleiben, solange niemand in die Zitadelle zurückkehrt?«
»Falls die Zitadelle ihre Informationen über die Rückkehr von Unsterblichen erhält, würden die Mächtigen so lange nichts erfahren, bis wieder einer seine Wacht beendet.«
Ungläubig schüttelte Tomoe den Kopf. »Sie werden es längst wissen.«
»Aber greifen sie auch ein?« Anne schenkte ihr einen fragenden Blick. »Letztlich wissen wir gar nichts. Die Zitadelle ist ein Bauwerk irgendwo im Nichts zwischen den Welten. Keiner weiß, ob sie überhaupt noch existieren, die Mächtigen.«
»Ich hoffe, du irrst dich.«
»Was uns zu dir führt.« Anne machte eine auffordernde Handbewegung. »Leg los.«
Tomoe beschloss, der Unsterblichen eine Chance zu geben, aber auf der Hut zu bleiben. »Auf meiner Flucht habe ich lange darüber nachgedacht, wie Merlin besiegt werden kann.«
»Du hast eine mystische Waffe gefunden?« Anne grinste wie ein Kind am Weihnachtsmorgen.
»Ganz so ist es nicht, geht aber in diese Richtung. Ich habe einen alten Freund aufgesucht, der mir Zugang zur Traumebene verschafft hat.«
»Was soll das sein?«
Tomoe rief sich ins Gedächtnis, dass Anne erst vor wenigen Monaten ihre Wacht begonnen hatte. In ihrem ersten Leben als Nimag hatte sie vermutlich nichts über den Traumkrieg oder die Traumebene an sich erfahren. Mit wenigen Worten setzte sie die Piratin ins Bild.
»Und in diesem stabilen Bereich gibt es das gesamte Wissen der Menschheit?«
»Ganz so einfach ist es nicht, aber man kann sagen, dass die Bücher dort Informationen aufnehmen. Manche wurden bewusst angefertigt, andere chaotisch erschaffen. Das Wissen der Träumer, konserviert für die Ewigkeit. Ich wollte eine Waffe finden, die Merlin aufhalten kann. Doch wie es scheint, benötige ich dafür das Blut des ersten und des letzten Sehers.«
Anne schnippte mit den Fingern. »Warte, davon habe ich gehört. Der letzte Seher war dieser Joshua.«
Tomoe nickte. »Das reicht aber nicht. Es geht hier nicht um die Blutlinie oder irgendwelche Nachfahren, es geht um die Seher selbst.«
»Ich bin ja grundsätzlich ein Sonnenschein, was meinen Optimismus angeht.«
»Ach?«
»Absolut. Jeder Feind lässt sich aufschlitzen, man muss es nur hart genug wollen. Aber in diesem Fall bin ich pessimistisch. Wie willst du an das Blut gelangen?«
»Genau dafür habe ich nach einer Lösung gesucht und in einem alten Buch etwas dazu gefunden. Einen verborgenen Ort, der die Barriere der Zeit aufhebt.«
»Eine Möglichkeit, durch die Zeit zu reisen? Ich dachte, dafür hat es einmal ein Portal gegeben, das kollabiert ist – und seitdem ist das unmöglich.«
Womit Anne im Großen und Ganzen recht hatte. »Das Tor war eine stabile Verbindung, aber es gibt andere Schlupflöcher. H. G. Wells und seine Zeitmaschine beispielsweise. Aber ich konnte ihn nicht finden. Die Insel scheint eine Möglichkeit zu sein.«
»Aha, eine Insel.«
Innerlich fluchte Tomoe über diesen Anfängerfehler. »Ja, der Ort ist eine Insel.«
»Wo genau liegt sie?«
»Es gibt einen Zauber, der sie aufspüren kann, und ich bin die Einzige, die diesen kennt.«
»Schon verstanden. Ich hatte zwar nicht vor, dich über die Planke zu schicken, aber wenn du diese Rückversicherung brauchst, sei es dir gegönnt. Solange du uns den Kurs mitteilst.«
Tomoe erhob sich und trat an den Messingglobus. Sie ließ die Kugel unter den gewölbten Messingbögen, die sie umgaben, hindurchgleiten und tippte schließlich auf einen Punkt. »Erst einmal dorthin. Von da geht es dann weiter.«
»So sei es. Samuel kann dir deine Kajüte zeigen. Lass uns heute Abend gemeinsam essen und Geschichten austauschen.«
»Ich freue mich darauf.«
Die Tür öffnete sich und Samuel bedeutete ihr, ihm zu folgen. Ein letzter Blick zurück zeigte Anne, deren Blick auf einem der Gemälde ruhte. Es war die Lichtung, umgeben von grünen Blättern. Die Traurigkeit im Gesicht der anderen Unsterblichen war nicht zu übersehen.
Mit einem dumpfen Laut fiel die Tür ins Schloss.
Tomoe hätte es niemals zugegeben, doch die Zeit auf der Faust von Anne tat ihr gut. Ihre Kabine erwies sich als überraschend luxuriös, und selbst nach akribischer Suche waren keine Beobachtungszauber zu entdecken. Die gesamte Front war verglast, ihr bot sich ein atemberaubender Blick auf das Meer. Die Wellen wogten, Gischt spritzte, sie genoss es, die gewaltigen Stürme von hier aus zu betrachten. Wenn der Horizont sich zuzog, sank sie in den Schneidersitz, entzündete eine Kerze und ließ ihren Geist treiben.
Obendrein war die Einrichtung überraschend modern. Das Bad war mit warmen Steinfliesen ausgekleidet, es gab eine riesige Wanne, das Bett bot problemlos fünf Menschen Platz.
Allabendlich speiste sie mit Anne, sie tranken einen Absacker an der Reling und berichteten einander von ihren Leben als Nimags. Dabei erzählte die Piratin recht freimütig über ihre Zeit auf dem Meer, nicht jedoch, wie es zur Gefangenschaft kam. Wo die Geschichte sie aus den Augen verloren hatte, stoppte sie auch ihre Erzählung. Tomoe hatte natürlich direkt nach Annes Auftauchen recherchiert. Die letzte überlieferte Information war die Gefangenschaft der Piratin gewesen. Während all ihre Mitgefangenen hingerichtet worden waren, hatte sie überlebt und war angeblich von ihrem Vater befreit und nach Hause geholt worden. Wieder andere Quellen besagten, dass sie aus dem Kerker verschwunden war. Spurlos.
Natürlich behielt auch Tomoe Details über ihr Leben als Nimag für sich. Die Kämpfe, die sie als Kriegerin bestritten hatte, ihre Ehe, schließlich ihr Tod. Um Letzteres rankten sich keine Mythen, obschon niemand zugegen gewesen war. Mit 91 Jahren hatte sie losgelassen, um dem Weg der Ahnen zu folgen. Wie hätte sie auch wissen können, dass dieser sie in die Zitadelle führte.
»Kannst du dich an etwas erinnern?«, fragte sie Anne einmal.
»Nein«, erwiderte die ehemalige Piratin versonnen. »Seltsam, nicht wahr? Wir alle wissen, dass es die Zitadelle gibt, dass wir von den Mächtigen dort zurückgeschickt werden, doch keiner weiß, wie es dort ist.«
Tomoe betrachtete die Bücher in der Bibliothek, las darin, trank guten Wein und beobachtete die Mannschaft. Die Männer und Frauen schienen sich wohlzufühlen auf der Faust von Anne. Samuel war abgestellt worden, Tomoes Wünsche zu erfüllen. War ihr Weinglas leer, füllte er es auf. Suchte sie nach einem Buch, half er ihr dabei.
Natürlich gab sie sich keinerlei Illusionen hin, er beobachtete sie. Anne mochte gastfreundlich sein, aber sie wusste, dass dies nur ein vorübergehender Waffenstillstand war. Der gemeinsame Feind schweißte sie zusammen.
Immer wenn sie ein Ziel erreicht hatten, führte Tomoe den alten Zauber abermals aus und nannte den neuen Kurs. Am Morgen des dritten Tages wurden Anne und sie von einem aufgeregten Samuel an Deck gerufen. Selbst ohne Fernglas oder Weitblick war der grüne