auch zahlreiche Inseln mit ein, die hinter Illusionierungen verborgen sind. Doch die hier ist anders.«
Schweigend nickte Tomoe. Auch sie konnte es spüren, je näher sie kamen. Die Insel schien nicht hierherzugehören.
Die Faust von Anne ging vor Anker, gemeinsam mit der Piratin, Samuel und einer Handvoll Männer setzten sie in einer Schaluppe über. Die Wellen waren hier in Inselnähe nur flach.
»Siehst du das?«, fragte Anne.
»Sind das Trümmer?«
Als sei ein riesiges Gebäude eingestürzt, ragten gewaltige Steinfragmente aus dem hellen Sand.
Die Schaluppe erreichte festen Untergrund. Mit gezogenem Essenzstab betrat Tomoe die Insel.
»Ausfächern, Sicherheitskreis bilden«, befahl Anne. »Du bleibst bei uns, Samuel.«
Die anderen kamen der Aufforderung nach, doch Tomoe achtete kaum auf sie. Die Steinbrocken zogen sie wie magisch an, wenngleich kein Zauber von ihnen ausging. Es war etwas anderes, Vertrautes. Ehrfürchtig streckte sie die Hand aus und berührte eines der Fragmente. Anne und auch Samuel schien es ähnlich zu gehen, sie erkannten beide die Erhabenheit, das Geheimnisvolle, das die Trümmerstücke umfing.
»Was für ein Zauber ist das?«, hauchte Samuel.
»Keiner«, stellte Anne klar. »Du kannst es nicht wissen, doch Tomoe spürt es. Und ich auch. Das Gefühl ist mir sehr vertraut.«
»Du kannst es einordnen?« Verwirrt blickte Tomoe zwischen der Piratin und den Trümmerstücken hin und her.
»Du nicht?«
»Es ist … vertraut, aber doch fremd.«
»Vermutlich liegt es daran, dass mein Kontakt erst wenige Monate zurückliegt.« Die Piratin atmete tief ein und wieder aus. »Es sind Teile der Zitadelle.«
Tomoe zuckte zurück. »Aber wie ist das möglich?«
Die Antwort war ein Schulterzucken. »Das kann ich dir nicht sagen. Aber wenn die Insel so alt ist, müssen diese Teile schon lange hier liegen. Es hat also nichts mit Merlin zu tun.« Auf Tomoes Blick hin lächelte Anne. »Natürlich hast du gedacht, dass er etwas damit zu tun hat. Aber da überschätzt du seine Macht. Er mag mit dem Wall verbunden sein, aber vergiss nicht, dass die Zitadelle die Erschaffung des Walls eingeleitet hat.«
Zugegeben, die Erinnerung an die Blutnacht und die vollständige Zerstörung der Ordnung ließ Merlin wie einen unbesiegbaren Gott erscheinen. Dabei wusste Tomoe, dass selbst die angeblich Allmächtigen gestürzt werden konnten. Auch bei der Schattenfrau hatte es hoffnungslos ausgesehen.
»Es gibt immer einen Weg.«
»Das klingt schon besser.« Anne blickte mit verschränkten Armen zu den Baumwipfeln. »Also, wir haben eine verborgene Insel, Trümmerstücke der Zitadelle und ziemlich viel Gestrüpp. Das ist die Nummer mit der Dschungelexpedition, richtig?«
Lächelnd folgte Tomoe ihrem Blick. »Sieht so aus.«
»Ich hoffe wirklich, das alles ist nicht irgendeinem Traum entsprungen, der mit einem Joint eingeleitet wurde.«
Abrupt lachte Tomoe auf. Ein seltsamer Laut. Sie hatte schon lange nicht mehr gelacht, das Gefühl dahinter tat gut. »Die Schriften haben uns hierhergeführt, oder nicht?«
»Solange kein alter Mann mit Bart in einer Hütte sitzt und mit uns philosophische Diskussionen über den Sinn des Daseins führt … Was? Glaub mir, ich war auf mehr als einer Schatzsuche, und manche hatten ein sehr enttäuschendes Ende.«
»Wie ich sehe, hast du mir noch viel zu wenig erzählt.«
Die Lippen der Piratin kräuselten sich. »Wenn dieser Dschungel so groß ist, wie ich befürchte, haben wir ausreichend Zeit, das nachzuholen. Aber du weißt, wie es ist: eine Geschichte für eine Geschichte.«
Damit stapfte sie davon, um die Bäume zu begutachten. Samuel folgte ihr umgehend. Einstweilen blieb Tomoe zurück und betrachtete das Gestein. Es verströmte einen Hauch von Alter und Schicksal. Wie lange mochten die Trümmer hier bereits liegen? Und wie waren sie hierhergelangt?
Noch einmal strich sie sanft über die raue Oberfläche, auf eine weitere Eingebung hoffend. Eine Erinnerung vielleicht? Doch es geschah nichts. Ihr unsterbliches Leben währte bereits so lange, es schienen keine Echos der Zitadelle mehr in ihrem Geist zu haften. Wie gerne hätte sie die Präsenz der Trümmer gänzlich erfasst, wie Anne es konnte.
In ihrem Leben hatte Tomoe viele Stadien des Glaubens durchschritten. Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie an das Schicksal und Vorherbestimmung geglaubt hatte, doch ihre Gefangenschaft bei den Schattenkriegern hatte das zunichtegemacht. Eine Ewigkeit in allumfassender Schwärze, gefühlt Jahre, in Wahrheit eine vergleichsweise kurze Zeit. Hätte sie nicht über die Fähigkeit zur Meditation verfügt, sie wäre wahnsinnig geworden. Trotz der Anwendung jeder Technik in ihrem Köcher hatte es dennoch ihren Geist zerrüttet, ihre Seele an den Rand des Abgrunds getrieben.
Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie den Weg zurück zu ihrem wahren Ich nicht mehr gänzlich gefunden. Stattdessen war sie zur Geschäftsfrau geworden.
Doch wenn es so etwas wie das Schicksal gab, war es eindeutig nicht zufrieden mit diesem Weg.
»Wir stellen die Ordnung wieder her.« Sie nickte nachdrücklich. »Und danach …«
Wer konnte schon ahnen, was dann kam.
Langsam folgte sie Anne und Samuel zum Rand des Dschungels.
Contego!«, rief Jen und riss Wesley in einer schnellen Bewegung zur Seite.
Damit rettete sie ihn, denn Chloe kannte kein Erbarmen. Wie auch immer sie den Schlafzauber hatte neutralisieren können, der wuchtige Schlag hätte Wesley die Nase zertrümmert.
Chloe formte mit ihren Händen die Luft zu verfestigten Bällen und schleuderte sie ihnen entgegen. Doch nicht, wie Jen vermutet hätte, gegen die Contego-Sphäre. Stattdessen jagte sie die verdichtete Kraft in den Boden. Splitter spritzten in die Höhe und donnerten gegen den Schutz.
»Wenn ihr glaubt, …«
Der Schlag von Max traf sie gegen die Schläfe. Mit verdrehten Augen kippte Chloe hintenüber.
»Kann bitte jemand den Schlafzauber neu manifestieren?«, bat Max.
Da sein eigener Essenzstab von Chloe vernichtet worden war, konnte er keine Zauber mehr im Inneren von Gegenständen oder Körpern wirken. Jen kam der Aufforderung nach, als Alex gerade mit Kyra neben ihnen eintraf.
»Was ist passiert, geht es dir gut?«, fragte er.
»Alles bestens«, beschwichtigte Jen. »Chloe hat es nur irgendwie geschafft, den Schlafzauber zu neutralisieren.«
»Wie?«, hakte Wesley sofort nach.
Sicherheitshalber blickte er auf den winzigen, tränenförmigen Anhänger, der an einem Lederband um seinen Hals hing. Das Wasser darin war von Alana Franke magifiziert worden. Es zeigte an, ob sie aktuell den guten oder bösen Wesley vor sich hatten.
»Also, ich habe den Zauber nicht destabilisiert«, erklärte er.
»Niemand hat das«, beschwichtigte Jen. »Schaut her. Agnosco!«
Um Chloe herum entstand eine Lohe aus glitzernder Essenz, in der ein Symbol schwebte.
»Geschickt«, beschied Max. »Ein Zauber in den Knochen eingeritzt, der durch bestimmte Trigger-Magie ausgelöst wird. Als wir sie in den Schlaf versetzten, hat ihre Essenz automatisch das auf dem Knochen aufgebrachte Symbol ausgelöst. Das wiederum war dazu geschaffen, den Zauber zu neutralisieren.«
»Lass mich raten, solche hast du auch?«, hakte Alex sofort nach.
»Ein paar davon, stimmt.«
»Cool. Kann ich auch welche haben?«