Du mir Bedingungen stellen?“ rief Reinhold auflodernd. „Habe ich es nicht jahrelang getragen, dieses Joch, das die sogenannten Wohlthaten Deines Vaters mir aufzwangen, das meine Kindheit verbittert, meine Jugend vernichtet hat und mich jetzt an der Schwelle des Mannesalters zwingt, mir das erst in endlosen Kämpfen zu erobern, was ein Jeder als sein natürliches Recht beansprucht, die freie Selbstbestimmung? Ihr habt mich losgelöst von Allem, was Anderen Freiheit und Glück heißt, habt mich festgekettet an eine verhaßte Lebenssphäre mit allen nur möglichen Banden und glaubtet nun Eures Eigenthums sicher zu sein. Aber endlich ist doch für mich die Stunde gekommen, wo es beginnt, zu tagen, und wenn es dann auf einmal wie ein Blitz in die Seele niederschlägt und in flammender Klarheit das Ziel zeigt und den Preis am Ziele, dann erwacht man aus dem jahrelangen dumpfen Traume und findet sich – in Fesseln.“
Es war ein Ausbruch der wildesten Leidenschaftlichkeit, des glühendsten Hasses, der schrankenlos hervorbrach, ohne danach zu fragen, ob er sich über Schuldige oder Unschuldige ergoß. Das ist ja eben das furchtbar Dämonische der Leidenschaft, daß sie den Haß gegen Alles kehrt, was sich ihr entgegenstellt, und träfe dieser Haß auch die nächsten und heiligsten, träfe er auch die selbstgeknüpften Bande.
Es folgte eine lange, todtenstille Pause. Reinhold hatte sich, überwältigt von der Aufregung, in einen Sessel geworfen und die Hand über die Augen gelegt. Ella stand noch an demselben Platze wie vorhin; sie sprach nicht, regte sich nicht; selbst das Beben, das so oft während der Unterredung sie durchzitterte, hatte aufgehört. So vergingen mehrere Minuten, da endlich näherte sie sich langsam ihrem Gatten.
„Das Kind läßt Du mir doch wohl?“ sagte sie mit zuckender Lippe. „Dir würde es nur eine – Last sein in Deinem neuen Leben, und ich habe ja sonst nichts weiter auf der Welt.“
Reinhold sah auf und sprang dann plötzlich empor. Es waren nicht die Worte, die ihn so seltsam erschütterten, auch nicht die todtenstarre Ruhe ihres Gesichtes; es war der Blick, der sich auch ihm jetzt so unerwartet und überraschend entschleierte, wie einst seinem Bruder. Zum ersten Male sah auch er in dem Antlitze seiner Gattin die „schönen blauen Märchenaugen“, die er so oft an seinem Knaben bewundert, ohne je danach zu fragen, woher sie stammten, und diese Augen waren jetzt groß und voll auf ihn gerichtet. Es stand keine Thräne darin, auch keine Bitte mehr, aber ein Ausdruck, dessen er Ella nie für fähig gehalten, ein Ausdruck, vor dem sein Auge zu Boden sank.
„Ella,“ sagte er ungewiß. „Wenn ich zu heftig war – was hast Du, Ella?“
Er wollte ihre Hand ergreifen; sie wich zurück.
„Nichts. Wann gedenkst Du zu reisen?“
„Ich weiß nicht,“ antwortete Reinhold immer mehr betreten. „In einigen Tagen – oder Wochen – es eilt nicht.“
„Ich werde die Eltern benachrichtigen. Gute Nacht!“ Sie wandte sich, um zu gehen. Er that ihr heftig einen Schritt nach, als wolle er sie zurückhalten. Ella blieb.
„Du hast mich mißverstanden.“
Die junge Frau richtete sich hoch und fest auf. Sie schien auf einmal eine Andere geworden zu sein; diesen Ton und diese Haltung hatte Ella Almbach nie gekannt.
„Die ‚Fessel‘ soll Dich nicht länger drücken, Reinhold. Du wirst ungehindert Dein Ziel erreichen und Deinen – Preis. Gute Nacht!“
Sie öffnete rasch die Thür und trat hinaus. Das Mondlicht fiel hell auf die schlanke Gestalt ist dem dunklen Kleide, auf das starre blasse Antlitz und die blonden Flechten. Im nächsten Augenblicke schon war sie verschwunden. Reinhold stand allein.
6
„Das ist jetzt ein Elend hier im Hause!“ sagte der alte Buchhalter im Comptoir, indem er die Feder hinter das Ohr steckte und das Rechnungsbuch zuklappte. „Der junge Herr seit drei Tagen fort, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben, ohne nach Frau und Kind zu fragen – der Herr Capitain setzt den Fuß nicht mehr über die Schwelle – der Principal geht in einer Wuth herum, daß man es kaum wagt, ihm nahe zu kommen, und die junge Frau Almbach sieht aus, daß Einem das Herz in der Brust weh thut, wenn man sie nur anschaut. Weiß der Himmel, was aus dieser unglückseligen Geschichte noch werden wird!“
„Aber wie ist denn der Bruch nur so plötzlich gekommen?“ fragte der erste Commis, der gleichfalls – es war der Schluß der Comptoirstunde – seine Schreibereien bei Seite legte und sein Pult verschloß.
Der Buchhalter zuckte die Achseln. „Plötzlich? Ich glaube kaum, daß er Einem von uns unerwartet kam. Das hat ja wochen- und monatelang gewühlt in der Familie; es fehlte nur noch der Funke in all dem Zündstoffe, und der ist schließlich auch gekommen. Frau Almbach brachte aus einer Damengesellschaft die Neuigkeit mit nach Hause und so erfuhr denn auch ihr Mann, was bereits die halbe Stadt weiß, und was nun freilich Keiner gern von seinem Schwiegersohne hört. Sie kennen ja den Principal und wissen, mit welchem Widerwillen er von jeher diese ganze Künstlergeschichte angesehen, wie er dagegen gekämpft hat, und nun noch diese Entdeckung! Er ließ den jungen Herrn rufen, und da gab es einen Auftritt – ich habe ihn theilweise im Nebenzimmer mit angehört. Hätte Herr Reinhold sich wenigstens noch vernünftig benommen und nachgegeben, hier, wo er doch wahrhaftig nicht schuldlos war, die Sache wäre vielleicht noch beigelegt worden, statt dessen aber setzte er seinen ärgsten Trotzkopf auf, sagte dem Schwiegervater in’s Gesicht, er wolle nicht länger Kaufmann bleiben, wolle nach Italien gehen, Musiker werden, er habe die Sclaverei hier lange genug ausgehalten, und was dergleichen Dinge mehr waren. Der Principal kannte sich nicht mehr vor Wuth; er verbot, drohte, beleidigte endlich, und da freilich war’s aus. Der junge Herr brach los mit einer Wildheit, daß ich glaubte, es würde ein Unglück geben. Wie wahnsinnig stampfte er mit dem Fuße und rief: ‚Und wenn die ganze Welt sich dagegen setzt, es geschieht doch. Ich lasse mich nicht länger knechten, lasse mir mein Denken und Fühlen nicht vorschreiben.‘ Und in dem Tone ging es fort; eine Stunde darauf stürmte er aus dem Hause und hat noch nichts wieder von sich hören lassen. Gott bewahre einen Jeden vor solchen Familienscenen!“
Der alte Herr legte die Feder bei Seite, verließ seinen Sitz und wünschte den übrigen Herren einen guten Abend, während er zugleich Anstalt machte, das Comptoir zu verlassen. Er hatte aber kaum einige Schritte in den Hausflur hinaus gethan, als er dort mit Hugo Almbach zusammentraf, der rasch von der Straße her einbog. Der Buchhalter schlug im freudigen Schreck die Hände zusammen.
„Gott sei Dank, daß wenigstens Sie sich wieder sehen lassen, Herr Capitain!“ rief er. „Es thut uns wahrlich Noth hier im Hause.“
„Steht das Thermometer immer noch auf Sturm?“ fragte Hugo, mit einem Blicke nach dem oberen Stock hinauf.
Der Buchhalter seufzte. „Auf Unwetter! Vielleicht bringen Sie uns Sonnenschein.“
„Schwerlich!“ sagte Hugo ernst. „Augenblicklich suche ich Frau Almbach. Sie ist doch zu Hause?“
„Ihre Frau Tante ist mit dem Herrn Principal ausgegangen,“ berichtete Jener.
„Nicht doch. Ich meine meine Schwägerin.“
„Die junge Frau? Du lieber Gott, die haben wir in den drei Tagen kaum zu Gesichte bekommen. Sie wird wohl oben im Kinderzimmer sein; sie geht jetzt kaum eine Minute mehr weg von dem Kleinen.“
„Ich werde sie aufsuchen,“ erklärte Hugo, mit flüchtigem Gruße die Treppe hinaufeilend. „Guten Abend!“
Der Buchhalter sah ihm kopfschüttelnd nach. Er war es so gar nicht gewohnt, daß der junge Capitain ohne irgend einen Scherz, ohne eine Neckerei an ihm vorüberging, und er hatte auch die Wolke bemerkt, die heute auf der sonst so hellen Stirn des jungen Mannes lag. Er schüttelte noch einmal den Kopf und wiederholte seinen Stoßseufzer von vorhin. „Weiß der Himmel, wie die Geschichte enden wird!“
Hugo hatte inzwischen die Wohnung seiner Schwägerin erreicht. „Ich bin’s, Ella,“ sagte er eintretend. „Habe ich Sie erschreckt?“