Marco Polo

Beschreibung der Welt


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sich die Grenzen zwischen Wahrheit und Dichtung allzu leicht verschieben: Denn dass Niccolò und Maffeo Polo zur Belagerung von Xiangyang (= Sa-jan-fu) beispielsweise Katapulte, »wie man sie im Abendlande brauche«, konstruiert hätten, ist eine entschieden falsche Nachricht. Die Erbauer der Apparate hießen laut Auskunft chinesischer Quellen Ala-ud-din und Ismail und waren ergo Muslims (ganz zu schweigen davon, dass die Blockade schon 1274, ein Jahr vor dem Eintreffen der Polos in China, beendet worden war).

      Mag sein, dass Marco Polos Flunkerei ein Fingerzeig auf eine gewisse Überfütterung mit Eindrücken ist. Darum war es vielleicht auch die Furcht der Polos, den Bezug zur Realität zu verlieren, zu ihrer Wirklichkeit, ihrer Heimat, ihren Familien, die sie schon seit Langem daran denken ließ, den Großkhan um ihren Abschied zu bitten. Zweifellos maßgeblich aber war: Als Kaufleute konnten sie rechnen. Daher fürchteten sie, dass sie nach dem Tod ihres Wohltäters Kublai, der auf die achtzig zuging, in die Ränkespiele seiner Erben verstrickt werden könnten. Sie kannten schließlich die mongolische Historie und erinnerten sich an die Wirren nach dem Ende Cinghis Khans.

       Marco Polo in mongolischer Tracht, Darstellung von 1754

      Da ergab sich eine günstige Gelegenheit.

      Argon, der König eines in Persien ansässigen Tataren-Stamms, war kürzlich Witwer geworden. Deshalb hatte er sich an den Großkhan gewendet, er möge ihm eine Angehörige aus dem Clan seiner ersten Gemahlin schicken, auf dass er mit ihr eine zweite Ehe eingehen könne. Da Kublai bereit war, dieser Bitte zu entsprechen, übernahmen es die Polos, die junge Braut zu ihrem Gatten in spe zu geleiten.

      Die Reise von Quanzhou führte anfangs um das südostasiatische Festland herum, schlängelte sich dann durch die Malakkastraße zwischen Sumatra und Malaya, berührte die Nikobaren und Andamanen und daneben, im Westen des Golfs von Bengalen, Ceylon, arbeitete sich Hafen für Hafen die Malabarküste hinauf, überquerte das Arabische Meer und erreichte nach einundzwanzig Monaten die noch wohlvertraute Schiffbauerstadt Hormus. Dort stellte sich heraus, dass Argon in der Zwischenzeit selbst gestorben war, worauf die Braut von Nordchina kurzerhand dessen Filius angetraut wurde und die Polos befreit vom Ballast ihrer Entourage Kurs auf die Heimat nehmen konnten. Nach Stationen in Trabzon (= Trebisond) und Konstantinopel sowie auf der Insel Euböa (= Negropont) gelangten sie schließlich »frisch und gesund und mit großen Reichtümern« 1295 in Venedig an. Sie hatten ihre Familien seit vierundzwanzig Jahren nicht gesehen.

      Dass sich um eine Rückkunft nach derart langen Irrfahrten Legenden bilden mussten – wen wundert’s? Und so wurde um die Männer alsbald ein Szenario nach dem Motto ›Heimkehr des Odysseus‹ erfunden. Keine Commedia dell’Arte hätte eine frappantere Metamorphose von drei Zerlumpten aufführen können: Beim Finale begannen Niccolò, Maffeo und Marco Polo gestenreich ihre Kleider aufzutrennen, und hervorkollerten »kostbare Geschmeide in großer Zahl, als da sind Rubine, Saphire, Karfunkel, Diamanten und Smaragde«. Hinter solchen Phantasien verlor Marco Polo für die Zukunft jede Kontur.

      Was tat er nach seiner Rückkehr? Wo wohnte er? Und wie kam es, dass er sich 1298 in der Gefangenschaft der Genueser befand (aus der er am 28. August 1299 entlassen wurde)? Wo war er in solche Haft geraten? Und vor allem: wann? Schon kurz nach seiner Heimkehr, wie Giovanni Battista Ramusio im 16. Jahrhundert behauptet hat? Oder 1296, bei einem »der in die Geschichte nicht eingegangenen Scharmützel«, wie Dietmar Henze im vierten Band seiner Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde (2000) wähnte? Oder am 7. September 1298 in der Schlacht bei der Insel Korčula vor der dalmatinischen Küste, worauf Otto Emersleben in Rowohlts Monographie über Marco Polo (2002) beharrte? Wir wissen es nicht.

      Einmal, als er 1299 ein Haus im Stadtviertel San Giovanni Crisostomo erwarb, und ein andermal, als er sich 1300 mit Donata vermählte, der Tochter des Kaufmanns Vidal Badoer, die ihm im Lauf der Jahre drei Töchter schenken sollte, war er für einen Moment ins Rampenlicht gekommen. Doch dann trat er schon wieder zurück in die Tiefe des Weltbühnenraums.

      Gebürgt soll er haben, sagt eine Akte vom 10. April 1305. Eine andere hielt am 16. März 1306 fest, dass ihm sein Vetter Niccolò, der Sohn Marcos (des Älteren), »20 Großpfund«, »20 Lire di grossi«, schulde. Und im letzten Willen seines Onkels Maffeo vom 6. Februar 1310 wird er mit einem Edelstein bedacht. Aber was attestieren diese Rudimente anderes, als dass in Venedig ein Mann gelebt hat, der Marco Polo hieß?

      Hie und da taucht sein Name noch in pergamentenen Folianten von Archiven auf: Erbschaftssachen, Verwaltungssachen, Rechtssachen. Dann war es Zeit, die Bücher zu schließen.

      Am 9. Januar 1324 setzte Marco Polo sein Testament auf, »da es ein Geschenk der göttlichen Eingebung ist und die Entscheidung eines vorausdenkenden Verstandes, dass ein jeder Sorge trage, über seine Güter so zu verfügen, damit sie nicht schlecht geordnet zurückbleiben«. Den Tag, an dem er gestorben ist, kennen wir nicht.

      Sein Haus an der Ecke, an welcher der Rio di San Giovanni Crisostomo und der Rio di San Lio rechtwinklig aufeinanderstoßen, ist 1596 abgebrannt. Sein Grab in der Benediktinerkirche von San Lorenzo wurde am Anfang des 19. Jahrhunderts dem Erdboden gleichgemacht.

      So ist Marco Polo aus der Geschichte ebenso unauffällig entschwunden, wie er in sie eingetreten war.

      Unauffällig, ja. Doch nicht spurlos. Denn immerhin haben wir seine Beschreibung der Welt.

      Aber haben wir sie wirklich? Seine Beschreibung?

      Im »Prolog« lesen wir, dass Marco Polo alle Dinge, die er auf seiner Reise gesehen und gehört hatte, während seines Gewahrsams in Genua von einem Mitgefangenen namens »Rustigielo« niederschreiben ließ.

      Rustichello da Pisa war 1284 in der Schlacht von Meloria vor der Küste der Toskana in die Hände der Genueser gefallen und nach mehr als zehnjähriger Haft ohne Zweifel froh, auf einen den Geist beflügelnden Leidensgenossen zu treffen. Dies umso mehr, als Rustichello Schriftsteller war und sich unter anderem 1271 durch einen Verschnitt der heroisch-pittoresken Epik rund um den Artusstoff hervorgetan hatte, den Livre du roy Meliadus (»Band über König Meliadus«).

      Die Kompilation hatte mit dem Satz begonnen: »Ihr Kaiser, Könige, Prinzen, Herzöge, Grafen und Barone, Ritter und Vasallen und alle ihr Edelmänner dieser Welt, die ihr die Fähigkeit habt, euch an Romanen zu ergötzen – nehmt dieses Buch und lasst es euch Zeile für Zeile vorlesen […].«

      Das ist in seiner Diktion, seiner Syntax und seinem Appell-Charakter nahezu identisch mit dem Auftakt der Beschreibung: »Ihr Kaiser, Könige, Herzöge, Fürsten, Grafen und Ritter und alle anderen, die ihr den Wunsch habt, Kunde zu erlangen von den mannigfachen Rassen des Menschengeschlechts und den verschiedenen Königreichen, Provinzen und Ländern in den östlichen Teilen der Welt – lest dieses Buch […].«

      Schon angesichts der Nähe der ersten Wörter des Berichts zu Rustichellos Melange erheben sich zahlreiche Fragen: Ist die Beschreibung der Welt tatsächlich in einem Kerker entstanden? Und wo ist ihr Urtext? In welcher Sprache war er verfasst? Welchen Anteil hatten jeweils Marco Polo und Rustichello daran? Hat Marco Polo diktiert oder Rustichello lose Aufzeichnungen beziehungsweise einen Entwurf zur Verfügung gestellt? Besaß der Venezianer überhaupt so etwas wie eine Urheberschaft an dem Manuskript? Oder handelt es sich bei dem Text gar um eine Mystifikation der Art, die wir zum Beispiel aus Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe (1719) kennen, in dessen Vorrede genau wie im »Prolog« versichert wird: »Der Herausgeber hält das Ganze für den getreuen Bericht wirklicher Begebenheiten und kann keine Anzeichen einer freien Erfindung darin entdecken« – um dann eine von vorne bis hinten fiktive Story zu erzählen.

       Bilder, die zeigen, dass niemand weiß, wie er aussah: Marco Polo, Kupferstich von 1857 …

      Auch wenn die Literatur über Marco Polo inzwischen hohe Regalwände in den Bibliotheken füllt, gibt es nicht eine Antwort