Charles Dickens

Oliver Twist


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da, oder -«

      »Un­sinn, lie­ber Freund, Un­sinn«, such­te ihn der Lei­chen­be­stat­ter, der mit dem Elend in al­len Ge­stal­ten wohl ver­traut war, zu be­ru­hi­gen. »Un­sinn, sage ich Ih­nen, Un­sinn.«

      »Und ich sage Ih­nen«, rief der Mann, ball­te die Fäus­te und stampf­te wie ein Ra­sen­der auf den Bo­den, »ich sage Ih­nen: ich will nicht, dass Ihr sie ein­scharrt. Sie könn­te kei­ne Ruhe dort fin­den. Die Wür­mer wür­den sie quä­len und pla­gen – fres­sen wohl nicht – sie ist nur noch Haut und Kno­chen.«

      Mr. So­wer­ber­ry gab wei­ter kei­ne Ant­wort, son­dern zog ein Band aus sei­ner Ta­sche und knie­te einen Au­gen­blick ne­ben der Lei­che nie­der.

      »Ja«, rief der alte Mann und brach in Trä­nen aus, »kniet nur nie­der, kniet alle nie­der; ich sag Euch, man hat sie hun­gern las­sen, bis sie ge­stor­ben ist. Ich hab’ ja nicht ge­ahnt, wie schlimm es mit ihr stand, bis sie das Fie­ber be­kam. Und da sta­chen ihr auch schon die Kno­chen durch die Haut. Nicht ein­mal ein Licht brann­te hier, als sie starb. In der Dun­kel­heit hat sie ster­ben müs­sen. Nicht ein­mal das Ge­sicht ih­rer Kin­der hat sie se­hen kön­nen; nur ihre Na­men hat sie stam­meln dür­fen. Ich hab’ für sie auf der Stra­ße ge­bet­telt, aber da ha­ben sie mich ins Ge­fäng­nis ge­steckt. Und als ich frei­kam, lag sie schon im Ster­ben. Mein Herz­blut ist aus­ge­dörrt bis auf den letz­ten Trop­fen. Man hat sie ver­hun­gern las­sen! Ich schwö­re bei Gott, dass es wahr ist. Sie ha­ben sie ver­hun­gern las­sen!«

      Der Mann rauf­te sich das Haar und sank stöh­nend mit stie­ren Au­gen und Schaum vor dem Mund zu­sam­men.

      Die ent­setz­ten Kin­der jam­mer­ten und wein­ten, aber die Alte, die bis­her stumm ge­blie­ben, als ob sie taub sei ge­gen al­les, was rings um sie her vor­ging, wies sie zur Ruhe. Dann lös­te sie dem Mann, der noch im­mer aus­ge­streckt auf dem Bo­den lag, das Hals­tuch und tau­mel­te auf den Lei­chen­be­stat­ter zu.

      »Sie war mei­ne Toch­ter«, krächz­te sie und nick­te mit dem Kopf nach der Lei­che hin. Das blöd­sin­ni­ge Grin­sen, mit dem sie ihre Wor­te be­glei­te­te, wirk­te grau­en­haf­ter als selbst die Ge­gen­wart des To­des an ei­nem sol­chen Ort. »Gott, Gott«, ächz­te sie, »es ist so merk­wür­dig, dass ich, ihre Mut­ter, noch spre­chen und la­chen kann, wäh­rend sie hier liegt – kalt und starr. Gott Gott, es ist wie eine Ko­mö­die, es ist die reins­te Ko­mö­die.« Dann ki­cher­te die Arme wie­der wie eine Irr­sin­ni­ge. Der Lei­chen­be­stat­ter wand­te sich zum Ge­hen. »War­ten Sie, war­ten Sie«, rief ihm die Alte nach. »Wird sie mor­gen be­gra­ben oder erst über­mor­gen oder schon heut abend? Ich hab’ sie doch ge­bo­ren; da muss ich doch mit­ge­hen; ver­ste­hen Sie? Schi­cken Sie mir doch einen großen Man­tel – einen recht war­men Man­tel, es ist so kalt hier. Wir müs­sen auch Ku­chen und Wein be­kom­men, ehe wir ge­hen. Oder bes­ser: schi­cken Sie Brot her, einen Laib Brot und einen Krug Was­ser. Wer­den wir auch Brot be­kom­men, lie­ber Herr?« frag­te sie gie­rig und klam­mer­te sich an den Lei­chen­be­stat­ter, als die­ser zur Türe ge­hen woll­te.

      »Ge­wiss, ge­wiss«, ant­wor­te­te Mr. So­wer­ber­ry, »na­tür­lich al­les, was Sie wol­len.« Dann be­frei­te er sich von dem Griff der Al­ten, zog Oli­ver hin­ter sich her und eil­te hin­aus.

      Am nächs­ten Tag – man hat­te die Fa­mi­lie in­zwi­schen mit ei­nem hal­b­en Vier­tel­laib Brot und ei­nem Stück Käse ge­labt, was al­les Mr. Bum­ble in ei­ge­ner Per­son ge­bracht hat­te – kehr­te Oli­ver mit sei­nem Herrn in die elen­de Höh­le zu­rück, wo Mr. Bum­ble be­reits an­ge­kom­men war, von vier Ar­men­häus­lern, die das Amt der Lei­chen­trä­ger be­sor­gen soll­ten, ge­folgt. Ein al­ter schwar­zer Man­tel war der Grei­sin und ei­ner dem Mann über die Schul­tern ge­wor­fen wor­den; der ein­fa­che Sarg wur­de zu­ge­schraubt und auf die Stra­ße hin­un­ter­ge­tra­gen. »Schrei­ten Sie schnell aus, alte Dame«, flüs­ter­te So­wer­ber­ry der Grei­sin ins Ohr, »wir sind et­was spät dar­an und dür­fen den Herrn Pfar­rer nicht war­ten las­sen. Vor­wärts, Leu­te! So schnell wie mög­lich!«

      Ihre Bür­de auf den Schul­tern, trot­te­ten die Trä­ger des Wegs. Die bei­den Leid­tra­gen­den hiel­ten sich, so gut sie konn­ten, in ih­rer Nähe, und Mr. Bum­ble und Mr. So­wer­ber­ry trab­ten ei­lig vor­aus. Oli­ver atem­los ne­ben ih­nen.

      Die Eile war über­flüs­sig ge­we­sen, denn als sie den fins­tern trüb­se­li­gen Ar­men­kirch­hof er­reich­ten, in dem die Bren­nes­seln nur so wu­cher­ten, war der Geist­li­che noch nicht ge­kom­men, und der Küs­ter in der Sa­kris­tei glaub­te, dass es noch gut eine Stun­de dau­ern könn­te, be­vor er er­schei­nen wer­de. Die Bah­re wur­de am Rand des Gra­bes nie­der­ge­setzt, und die bei­den Leid­tra­gen­den war­te­ten ge­dul­dig auf dem feuch­ten Lehm­bo­den und in dem kal­ten Re­gen, der in Schau­ern her­nie­der­feg­te, wäh­rend die zer­lump­ten Gas­sen­jun­gen, die das Schau­spiel auf den Fried­hof ge­lockt, schrei­end und lär­mend zwi­schen den Lei­chen­stei­nen Ver­ste­cken spiel­ten oder zur Ab­wechs­lung ein­mal über den Sarg hin und her­spran­gen. Mr. So­wer­ber­ry und Mr. Bum­ble, die bei­de per­sön­li­che Freun­de des Herrn Küs­ters wa­ren, setz­ten sich zu ihm ans Feu­er und stu­dier­ten die Zei­tung.

      End­lich nach mehr als ei­ner Stun­de sah man Mr. Bum­ble und Mr. So­wer­ber­ry zum Gra­be lau­fen, und gleich dar­auf er­schi­en der Geist­li­che, sich un­ter­wegs has­tig den Talar an­zie­hend. Mr. Bum­ble prü­gel­te noch rasch ein paar Gas­sen­bu­ben durch, und dann hiel­ten sei­ne Hoch­wür­den eine Grab­re­de, die ein paar Mi­nu­ten dau­er­te, über­ga­ben dem Küs­ter sei­nen Talar und ver­füg­ten sich wie­der nach Hau­se.

      »Also los, Bill«, be­fahl Mr. So­wer­ber­ry dem To­ten­grä­ber, »los­ge­schau­felt!«

      Das war bald ge­sche­hen, denn die Gruft war be­reits so voll, dass der Sarg nur we­ni­ge Fuß un­ter der Erd­ober­flä­che zu lie­gen kam.

      Der To­ten­grä­ber schau­fel­te die Schol­len hin­ein und stampf­te sie ober­fläch­lich mit den Fü­ßen fest.

      Die Gas­sen­bu­ben murr­ten, dass der Spaß so bald zu Ende war.

      »Kom­men Sie, lie­ber Freund«, sag­te Mr. Bum­ble und klopf­te dem al­ten Mann auf den Rücken. »Der Kirch­hof wird gleich ge­schlos­sen wer­den.«

      Nicht ein ein­zi­ges Mal hat­te sich der Mann, so lan­ge er ne­ben dem Gra­be ge­stan­den, ge­rührt, aber jetzt schreck­te er zu­sam­men, stier­te den Kirch­spiel­die­ner an, tau­mel­te ein paar Schritt vor­wärts und sank dann ohn­mäch­tig zu Bo­den. Die irr­sin­ni­ge Alte jam­mer­te fort­wäh­rend, dass man ihr den Man­tel wie­der ab­ge­nom­men habe, und fand gar kei­ne Zeit, sich mit dem Be­wusst­lo­sen ab­zu­ge­ben. Man schüt­te­te da­her eine Kan­ne kal­ten Was­sers über ihn, wor­auf er wie­der zum Be­wusst­sein kam, und dann wur­de das Tor ver­rie­gelt und je­der ging sei­nes We­ges.

      »Na, Oli­ver«, frag­te Mr. So­wer­ber­ry den Lehr­jun­gen auf dem Heim­weg, »wie hat’s dir ge­fal­len?«

      »Ich dan­ke, Sir, so­weit ganz gut«, ant­wor­te­te Oli­ver sto­ckend. »Ei­gent­lich nicht so be­son­ders.«

      »Du wirst dich schon dran ge­wöh­nen«, trös­te­te So­wer­ber­ry. »Es wird schon ganz gut ge­hen, wenn du dich nur erst mal dran ge­wöhnt hast, Bur­sche.«

      Oli­ver dach­te dar­über nach, wie lan­ge es wohl ge­braucht ha­ben möch­te, bis sich Mr. So­wer­ber­ry an der­glei­chen ge­wöhnt habe. Er un­ter­drück­te je­doch