da, oder -«
»Unsinn, lieber Freund, Unsinn«, suchte ihn der Leichenbestatter, der mit dem Elend in allen Gestalten wohl vertraut war, zu beruhigen. »Unsinn, sage ich Ihnen, Unsinn.«
»Und ich sage Ihnen«, rief der Mann, ballte die Fäuste und stampfte wie ein Rasender auf den Boden, »ich sage Ihnen: ich will nicht, dass Ihr sie einscharrt. Sie könnte keine Ruhe dort finden. Die Würmer würden sie quälen und plagen – fressen wohl nicht – sie ist nur noch Haut und Knochen.«
Mr. Sowerberry gab weiter keine Antwort, sondern zog ein Band aus seiner Tasche und kniete einen Augenblick neben der Leiche nieder.
»Ja«, rief der alte Mann und brach in Tränen aus, »kniet nur nieder, kniet alle nieder; ich sag Euch, man hat sie hungern lassen, bis sie gestorben ist. Ich hab’ ja nicht geahnt, wie schlimm es mit ihr stand, bis sie das Fieber bekam. Und da stachen ihr auch schon die Knochen durch die Haut. Nicht einmal ein Licht brannte hier, als sie starb. In der Dunkelheit hat sie sterben müssen. Nicht einmal das Gesicht ihrer Kinder hat sie sehen können; nur ihre Namen hat sie stammeln dürfen. Ich hab’ für sie auf der Straße gebettelt, aber da haben sie mich ins Gefängnis gesteckt. Und als ich freikam, lag sie schon im Sterben. Mein Herzblut ist ausgedörrt bis auf den letzten Tropfen. Man hat sie verhungern lassen! Ich schwöre bei Gott, dass es wahr ist. Sie haben sie verhungern lassen!«
Der Mann raufte sich das Haar und sank stöhnend mit stieren Augen und Schaum vor dem Mund zusammen.
Die entsetzten Kinder jammerten und weinten, aber die Alte, die bisher stumm geblieben, als ob sie taub sei gegen alles, was rings um sie her vorging, wies sie zur Ruhe. Dann löste sie dem Mann, der noch immer ausgestreckt auf dem Boden lag, das Halstuch und taumelte auf den Leichenbestatter zu.
»Sie war meine Tochter«, krächzte sie und nickte mit dem Kopf nach der Leiche hin. Das blödsinnige Grinsen, mit dem sie ihre Worte begleitete, wirkte grauenhafter als selbst die Gegenwart des Todes an einem solchen Ort. »Gott, Gott«, ächzte sie, »es ist so merkwürdig, dass ich, ihre Mutter, noch sprechen und lachen kann, während sie hier liegt – kalt und starr. Gott Gott, es ist wie eine Komödie, es ist die reinste Komödie.« Dann kicherte die Arme wieder wie eine Irrsinnige. Der Leichenbestatter wandte sich zum Gehen. »Warten Sie, warten Sie«, rief ihm die Alte nach. »Wird sie morgen begraben oder erst übermorgen oder schon heut abend? Ich hab’ sie doch geboren; da muss ich doch mitgehen; verstehen Sie? Schicken Sie mir doch einen großen Mantel – einen recht warmen Mantel, es ist so kalt hier. Wir müssen auch Kuchen und Wein bekommen, ehe wir gehen. Oder besser: schicken Sie Brot her, einen Laib Brot und einen Krug Wasser. Werden wir auch Brot bekommen, lieber Herr?« fragte sie gierig und klammerte sich an den Leichenbestatter, als dieser zur Türe gehen wollte.
»Gewiss, gewiss«, antwortete Mr. Sowerberry, »natürlich alles, was Sie wollen.« Dann befreite er sich von dem Griff der Alten, zog Oliver hinter sich her und eilte hinaus.
Am nächsten Tag – man hatte die Familie inzwischen mit einem halben Viertellaib Brot und einem Stück Käse gelabt, was alles Mr. Bumble in eigener Person gebracht hatte – kehrte Oliver mit seinem Herrn in die elende Höhle zurück, wo Mr. Bumble bereits angekommen war, von vier Armenhäuslern, die das Amt der Leichenträger besorgen sollten, gefolgt. Ein alter schwarzer Mantel war der Greisin und einer dem Mann über die Schultern geworfen worden; der einfache Sarg wurde zugeschraubt und auf die Straße hinuntergetragen. »Schreiten Sie schnell aus, alte Dame«, flüsterte Sowerberry der Greisin ins Ohr, »wir sind etwas spät daran und dürfen den Herrn Pfarrer nicht warten lassen. Vorwärts, Leute! So schnell wie möglich!«
Ihre Bürde auf den Schultern, trotteten die Träger des Wegs. Die beiden Leidtragenden hielten sich, so gut sie konnten, in ihrer Nähe, und Mr. Bumble und Mr. Sowerberry trabten eilig voraus. Oliver atemlos neben ihnen.
Die Eile war überflüssig gewesen, denn als sie den finstern trübseligen Armenkirchhof erreichten, in dem die Brennesseln nur so wucherten, war der Geistliche noch nicht gekommen, und der Küster in der Sakristei glaubte, dass es noch gut eine Stunde dauern könnte, bevor er erscheinen werde. Die Bahre wurde am Rand des Grabes niedergesetzt, und die beiden Leidtragenden warteten geduldig auf dem feuchten Lehmboden und in dem kalten Regen, der in Schauern herniederfegte, während die zerlumpten Gassenjungen, die das Schauspiel auf den Friedhof gelockt, schreiend und lärmend zwischen den Leichensteinen Verstecken spielten oder zur Abwechslung einmal über den Sarg hin und hersprangen. Mr. Sowerberry und Mr. Bumble, die beide persönliche Freunde des Herrn Küsters waren, setzten sich zu ihm ans Feuer und studierten die Zeitung.
Endlich nach mehr als einer Stunde sah man Mr. Bumble und Mr. Sowerberry zum Grabe laufen, und gleich darauf erschien der Geistliche, sich unterwegs hastig den Talar anziehend. Mr. Bumble prügelte noch rasch ein paar Gassenbuben durch, und dann hielten seine Hochwürden eine Grabrede, die ein paar Minuten dauerte, übergaben dem Küster seinen Talar und verfügten sich wieder nach Hause.
»Also los, Bill«, befahl Mr. Sowerberry dem Totengräber, »losgeschaufelt!«
Das war bald geschehen, denn die Gruft war bereits so voll, dass der Sarg nur wenige Fuß unter der Erdoberfläche zu liegen kam.
Der Totengräber schaufelte die Schollen hinein und stampfte sie oberflächlich mit den Füßen fest.
Die Gassenbuben murrten, dass der Spaß so bald zu Ende war.
»Kommen Sie, lieber Freund«, sagte Mr. Bumble und klopfte dem alten Mann auf den Rücken. »Der Kirchhof wird gleich geschlossen werden.«
Nicht ein einziges Mal hatte sich der Mann, so lange er neben dem Grabe gestanden, gerührt, aber jetzt schreckte er zusammen, stierte den Kirchspieldiener an, taumelte ein paar Schritt vorwärts und sank dann ohnmächtig zu Boden. Die irrsinnige Alte jammerte fortwährend, dass man ihr den Mantel wieder abgenommen habe, und fand gar keine Zeit, sich mit dem Bewusstlosen abzugeben. Man schüttete daher eine Kanne kalten Wassers über ihn, worauf er wieder zum Bewusstsein kam, und dann wurde das Tor verriegelt und jeder ging seines Weges.
»Na, Oliver«, fragte Mr. Sowerberry den Lehrjungen auf dem Heimweg, »wie hat’s dir gefallen?«
»Ich danke, Sir, soweit ganz gut«, antwortete Oliver stockend. »Eigentlich nicht so besonders.«
»Du wirst dich schon dran gewöhnen«, tröstete Sowerberry. »Es wird schon ganz gut gehen, wenn du dich nur erst mal dran gewöhnt hast, Bursche.«
Oliver dachte darüber nach, wie lange es wohl gebraucht haben möchte, bis sich Mr. Sowerberry an dergleichen gewöhnt habe. Er unterdrückte jedoch