Charles Dickens

Oliver Twist


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und Be­neh­men gli­chen de­nen ei­nes Er­wach­se­nen. Ziem­lich klein für sein Al­ter, hat­te er höchst ku­rio­se Bei­ne und klei­ne scharf­bli­cken­de Rat­ten­au­gen. Der Hut saß ihm so lose auf dem Kopf, dass er jede Mi­nu­te her­un­ter­zu­fal­len droh­te, wohl auch schon des öf­te­ren her­un­ter­ge­fal­len wäre, wenn sein Herr es nicht vor­treff­lich ver­stan­den hät­te, ihn, wenn er rutsch­te, mit ei­nem ge­schick­ten Ruck mit dem Kopf wie­der in die rich­ti­ge Lage zu brin­gen. Der Bur­sche trug einen Rock, der für einen Er­wach­se­nen groß ge­nug ge­we­sen wäre und ihm fast bis an die Knö­chel reich­te. Die Är­mel trug er bis zur Hälf­te auf­ge­krem­pelt, um die Hän­de frei zu ha­ben. Kurz und gut, der Jun­ge sah so selt­sam und win­dig aus, wie wohl je nur ein Bür­sch­chen von vier Fuß, sechs Zoll oder noch we­ni­ger in Stul­pens­tie­feln aus­se­hen konn­te.

      »Hal­lo, Spatz, auf der Wal­ze?« frag­te der selt­sa­me jun­ge Gent­le­man Oli­ver aber­mals.

      »Ich bin furcht­bar hung­rig und müde«, ant­wor­te­te Oli­ver, wäh­rend ihm die Trä­nen in die Au­gen tra­ten. »Ich habe einen lan­gen Marsch hin­ter mir, einen Marsch von sie­ben Ta­gen.«

      »Was? Sie­ben Tag auf der Wal­ze?« rief der jun­ge Gent­le­man. »Aha, weiß schon. Wir ha­ben was ge­ro­chen auf der Po­li­zei, was? Der Bal­ho­ch­em hat was ge­ro­chen. Du weißt wohl nich, was ’n Bal­ho­ch­em is, was, du Green­horn?« setz­te er hin­zu, als er Oli­vers ver­wun­der­ten Blick be­merk­te. Oli­ver ver­nein­te.

      »Na ja, du Green­horn«, rief der jun­ge Gent­le­man, »’n Bal­ho­ch­em ist doch ’n Po­li­zis­te. Mir scheint, du bist noch nie in der Müh­le ge­we­sen.«

      »In was für ei­ner Müh­le?« frag­te Oli­ver.

      »In was für ner Müh­le? Na, die Müh­le, in der die Leu­te um­sonst ar­bei­ten – na, das Ge­fäng­nis mein’ ich.« Als er be­merk­te, dass Oli­ver nicht ver­stand, fuhr er fort: »Aber mir scheint, du hast Hun­ger, Me­si­nung hab’ ich zwar sel­ber keins, aber wir werd’ns schon ma­chen. Steh auf und komm.« Hier­auf brach­te der wack­re jun­ge Herr Oli­ver, nach­dem er ihm hat­te auf­ste­hen hel­fen, vor einen Krä­mer­la­den, in dem er Brot und Schin­ken kauf­te und Oli­ver da­von es­sen ließ.

      »Nach Lon­don?« frag­te er, nach­dem Oli­ver sich ein we­nig ge­sät­tigt.

      »Ja.«

      »Hast du eine Stran­zen?«

      »Was ist das?«

      »Na, ne Woh­nung.«

      »Nein.«

      »Me­sum­mes?«

      Oli­ver mach­te ein fra­gen­des Ge­sicht.

      »Geld mein’ ich.«

      »Nein.«

      Der jun­ge Gent­le­man ver­senk­te sei­ne Hän­de in sei­ne Ta­schen und pfiff durch die Zäh­ne.

      »Woh­nen Sie in Lon­don«, frag­te Oli­ver.

      »Ja, wenn ich da­heim bin. Aber mir scheint, du weißt gar nicht, wo du heut nacht schla­fen willst.«

      »Nein«, gab Oli­ver zu. »Ich hab’ schon seit sie­ben Näch­ten kein Dach über dem Kopf ge­habt.«

      »Mach’ dir kei­ne Sor­gen des­halb«, trös­te­te ihn der jun­ge Herr. »Ich geh’ heut abend auch nach Lon­don. Ich kenn’ da einen ehr­ba­ren al­ten Herrn, der wird dir bald ne gute Stel­le ver­schaf­fen, – das heißt na­tür­lich, wenn dich ’n Schentl­man, wo ihn kennt, ein­führt bei ihm. Auf mir hält er große Stücke«, setz­te der jun­ge Gent­le­man lä­chelnd hin­zu.

      Das Aner­bie­ten war so ver­lo­ckend, dass Oli­ver kei­nen Au­gen­blick zö­ger­te, ein­zu­schla­gen. Er wur­de bald zu­trau­li­cher und er­fuhr, dass sein neu­er Freund Jack Dawkins hei­ße und der aus­ge­spro­che­ne Lieb­ling des er­wähn­ten al­ten Gent­le­mans sei. Jacks Äu­ße­res frei­lich sprach nicht zu­guns­ten der Lieb­lin­ge des er­wähn­ten al­ten Ehren­man­nes, aber da er sehr groß­mäu­lig tat und selbst von sich be­haup­te­te, man ken­ne ihn weit und breit als einen »ver­dammt ge­ris­se­nen Bal­do­we­rer«, schloss Oli­ver, der alte Herr sprä­che in die­sem Fal­le wohl gute Ratschlä­ge in den Wind. Un­ter die­sem Ein­druck fass­te er heim­lich den Ent­schluss, sich bei dem al­ten Phil­an­tro­pen so bald wie mög­lich in ein bes­se­res Licht zu set­zen und, falls Jack Dawkins, wie er be­fürch­te­te, ei­ner Bes­se­rung nicht zu­gäng­lich sein soll­te, auf die Ehre wei­te­rer Be­kannt­schaft mit ihm zu ver­zich­ten.

      Da Jack sich un­be­dingt wei­ger­te, Lon­don vor Ein­bruch der Nacht zu be­tre­ten, schlug es elf Uhr, als sie den Schlag­baum von Is­ling­ton er­reich­ten. Vom »En­gel« aus gin­gen sie nach St. Jo­nes Road, die klei­ne Gas­se, die bei Sad­lers Walls Thea­ter en­digt, hin­ab und ge­lang­ten durch Ex­mouth Street und Cop­pi­le Row in den klei­nen Hof ne­ben dem Ar­beits­haus. Dann schrit­ten sie über den klas­si­schen Grund und Bo­den, der einst­mals den Na­men Hock­ley-in-the-Hole führ­te, und ge­lang­ten nach Litt­le und Gre­at Saf­fron Hill, von wo aus der ku­rio­se jun­ge Gent­le­man sich in einen Ga­lopp ver­setz­te, wo­bei Oli­ver ihm auf den Fer­sen fol­gen muss­te.

      Von dem un­ge­wohn­ten An­blick ei­ner großen Stadt ganz und gar in An­spruch ge­nom­men, muss­te Oli­ver sein Mög­lichs­tes tun, um sei­nen Füh­rer nicht aus dem Ge­sicht zu ver­lie­ren. Ei­nen schmut­zi­ge­ren und ver­kom­me­ne­ren Platz hat­te Oli­ver noch nie ge­se­hen. Die Stra­ße war eng und voll Schmutz und die Luft ge­sät­tigt von den wi­der­lichs­ten Gerü­chen. Klei­ne La­den gab es hier in Men­ge, aber gan­ze Hau­fen von Kin­dern, die jetzt selbst zur Nacht­zeit noch bei den Tü­ren aus- und ein­kro­chen oder drin­nen in den Häu­sern quiek­ten und schri­en, schie­nen der ein­zi­ge In­halt der Ge­schäf­te zu sein. Die ein­zi­gen Un­ter­neh­mun­gen, die wirk­lich zu ge­dei­hen schie­nen, wa­ren die Schen­ken, denn dort prü­gel­te sich iri­scher Pö­bel, was das Zeug hal­ten woll­te. Ge­deck­te Tor­we­ge und Höfe, die da und dort von den Haupt­stra­ßen ab­zweig­ten, lie­ßen Knäu­el von Häu­sern se­hen, wo sich be­trun­ke­ne Män­ner und Frau­en nur so wälz­ten. Aus den Tor­we­gen ka­men scheubli­cken­de In­di­vi­du­en her­aus­ge­schli­chen und ver­lo­ren sich gleich dar­auf wie­der im Dun­kel. Eben über­leg­te Oli­ver noch, ob es nicht am bes­ten sei, weg­zu­lau­fen, da ge­lang­te er mit sei­nem Beglei­ter vor ei­ner An­hö­he an und wur­de von ihm am Är­mel ge­fasst. Dann stieß Jack eine Hau­stü­re auf, nicht weit von Field Lane, zog Oli­ver in einen Kor­ri­dor und schloss gleich dar­auf das Tor wie­der hin­ter sich zu.

      »Wer da?« rief eine Stim­me von un­ten als Ant­wort auf einen Pfiff, den der jun­ge Herr hat­te er­tö­nen las­sen.

      »Rei­ner Wind«, war die Ant­wort. Es schi­en das eine Art Lo­sungs­wort zu sein, dass die Luft rein sei. Gleich dar­auf warf das Licht ei­ner klei­nen Ker­ze sei­nen Schein auf die Mau­er vom rück­wär­ti­gen Ende des Gan­ges aus, und das Ge­sicht ei­nes Man­nes lug­te durch eine Spal­te ei­ner al­ten Türe her­vor, aus der ein Teil der Fül­lung her­aus­ge­bro­chen war.

      »Da sind ja zwei«, sag­te der Mann und be­schat­te­te das Licht mit der Hand, um bes­ser se­hen zu kön­nen. »Wer ist der an­de­re?«

      »Ein jun­ges Beindl«, ant­wor­te­te Jack Dawkins und zeig­te auf Oli­ver.

      »Wo­her?«

      »’n Green­horn. Ist Fa­gin oben?«

      »Sor­tiert die Rie­gen­lap­pen.