Die Leunte sagen, ich bin e Geizhals, aber lass se reden. Was liegt weiter daran.«
Oliver kam zu dem Schluss, der alte Gentleman müsse offenbar ein schrecklicher Geizhals sein, dass er so viel Taschenuhren besäße und trotzdem in einer so schmutzigen Kammer wohne. Aber er nahm an, dass vielleicht seine Vorliebe für den Baldowerer – den jungen Dawkins – und die anderen Jungen ihn ein hübsches Stück Geld koste, und dass er immerhin ein großer Menschenfreund sein müsse. Er blickte ihn daher nur achtungsvoll an und fragte, ob er aufstehn dürfe.
»Natierlich, mei Junge, natierlich«, erwiderte der alte Herr. »Aber wart mal, dort in der Ecke neben der Tür steht ein Topp mit Wasser. Bring ihn heriwer. Ich will dir geben e Schüssel, dass de dir kannst waschen, Kleiner.«
Oliver stand auf, ging durch die Stube und bückte sich einen Augenblick, um den Krug aufzuheben. Als er sich wieder umdrehte, war die Kassette verschwunden.
Er hatte sich kaum gewaschen und alles wieder in Ordnung gebracht, dem Befehl des Juden gemäß das Waschbecken ausgeschüttet und an seinen Ort zurückgestellt, als der »Baldowerer« – Mr. Dawkins – in Begleitung eines sehr lustigen Jungen, eines von denen, die Oliver am vergangenen Abend hatte rauchen sehen, und der ihm jetzt in aller Form als Charley Bates vorgestellt wurde, eintrat. Und alle vier setzten sich hierauf zum Frühstück, das aus Kaffee und ein paar mit Schinken belegten Brötchen bestand, die der Baldowerer in seinem Hut mitgebracht hatte.
»Na«, sagte der Jude zu dem Baldowerer gewendet und warf dabei einen lustigen Blick auf Oliver. »Was is? Ihr seid doch hoffentlich gewesen heinte frih schon bei der Arbeit, Jungens?«
»Es war eine schwere Arbeit«, murrte der Baldowerer.
»Verdammt hart«, setzte Charley Bates hinzu.
»Brave Burschen, brave Burschen«, lobte der Jude. »Was hast de mitgebracht, Baldowerer?«
»Zwei Taschentücher«, erwiderte der wackre junge Mann.
»Gestickte?« fragte der Jude gierig.
»Na, macht sich«, erwiderte der Baldowerer und zog zwei Taschentücher hervor, ein grünes und ein rotes.
»Nicht so wie mer’s hätt wünschen sollen«, sagte der Jude, nachdem er die entfalteten Tücher sorgfältig geprüft hatte. »Aber e feine Arbeit. E geschickte Hand muss das gewesen sein, was meinen Sie, Oliver?«
»Wahrhaftig, ja«, gab Oliver zu, worauf Charley Bates in ein wieherndes Gelächter ausbrach – zu seiner größten Verwunderung, denn er konnte bei all dem nicht den geringsten Grund zum Lachen sehen.
»Und was hast du mitgebracht, Kleiner?« fragte Fagin Charley Bates.
»Auch Riegerlappen«, erwiderte Master Bates und brachte vier Taschentücher zum Vorschein.
»Hem«, murmelte der Jude und besichtigte sie bei Licht. »Güt, sehr güt, – aber du hast se nicht gut gezeichnet, Charley, mir wollen herauszupfen die Monogramme mit der Nadel und wollen zeigen dem kleinen Oliver, wie er es machen soll. Was meinen Sie, Oliver, was?«
»Wenn Sie die Güte haben wollen«, erwiderte Oliver.
»Du möchtest wohl auch gerne machen können Taschentücher so leicht wie Charley Bates, nicht wahr Kleiner?« fragte der Jude.
»O gewiss, von Herzen gern, wenn Sie es mich lehren wollen, Sir«, bat Oliver.
Charley brach in ein schallendes Gelächter aus, dass er darüber beinahe erstickte. »Gott, ist das ein Greenhorn«, rief er endlich, offenbar, um sich der Gesellschaft gegenüber wegen seines unmanierlichen Betragens zu entschuldigen.
Der Baldowerer sagte nichts, sondern strich Oliver das Haar über die Augen und meinte dann grinsend, er würde es mit der Zeit schon lernen. Der Jude unterbrach ihn, da er sah, dass Oliver blutrot wurde, indem er die Frage stellte ob heute Morgen bei der Hinrichtung viele Leute zugegen gewesen wären. Die beiden Jungen erwiderten, sie seien selbst dort gewesen, und Oliver wunderte sich, woher sie dann in aller Frühe so viel Zeit gehabt haben könnten, noch außerdem Taschentücher zu sticken.
Als das Frühstück abgeräumt war, unterhielten sich der lustige alte Herr und die beiden Jungen mit einem höchst seltsamen und ungewöhnlichen Spiel. Der lustige alte Herr schob nämlich eine Schnupftabaksdose in eine Hosentasche, eine zweite nebst einem Notizbuch in die andere, steckte eine Uhr in die Westentasche, befestigte sich die Kette im Knopfloch, schmückte seine Krawatte mit einer falschen Brillantnadel, knöpfte sich den Rock fest zu und spazierte dann mit dem Stock in der Hand, in der Art, wie alte Herren sich zu allen Tagesstunden auf der Straße zu ergehen pflegen, im Zimmer hin und her. Zuweilen blieb er beim Herde stehen und dann wieder an der Türe und tat, als betrachte er ein Schaufenster. Dabei blickte er sich aber beständig um wie aus Angst vor Taschendieben und betastete immerwährend seine Kleider ob man ihn auch nicht bestohlen habe. Er benahm sich dabei so ungeheuer komisch, dass Olivern vor Lachen die Tränen über die Backen liefen. Die ganze Zeit über blieben die beiden Jungen dem Juden dicht auf den Fersen und entschlüpften ihm, wenn er sich umdrehte, so geschickt, dass es ihm geradezu unmöglich war, sie genau ins Auge zu fassen. Schließlich trat ihm der Baldowerer auf die Zehen oder stolperte ihm scheinbar aus Zufall über die Füße, während Charley Bates sich von hinten an ihn herandrängte und ihm mit außerordentlicher Geschwindigkeit Tabaksdose, Brieftasche, Uhr, Kette, Busennadel und Taschentuch, ja sogar das Brillenfutteral stahl. Dann fing das Spiel von Neuem an.
So hatten sie es ein paarmal getrieben, da traten ein paar junge Damen ein, die die beiden jungen Herren zu sprechen wünschten. Die eine hieß Bet, die andere Nancy. Sie hatten beide sehr reiches Haar, das hinten nicht gerade sehr sorgfältig in einen Knoten gewickelt war, und Schuhe und Strümpfe an, die ebenfalls nicht sehr proper aussahen. Immerhin waren sie recht hübsch, lebhaft gefärbt und drall. Da sie in ihrem Benehmen sehr ungezwungen und freundlich waren, hielt sie Oliver für sehr nette liebenswürdige Mädchen. Was sie ohne Zweifel auch waren.
Ihr Besuch dauerte ziemlich lange. Und als eine der jungen Damen über Kälte klagte, wurde sogleich Schnaps geholt, und die Unterhaltung nahm einen recht angeregten Verlauf. Schließlich sagte Charley Bates, es sei höchste Zeit, sich auf die Socken zu machen. Gleich darauf gingen der Baldowerer, er und die beiden jungen Damen weg, nachdem sie vorher von dem liebenswürdigen alten Juden reichlich mit Kleingeld versehen worden waren, das sie offenbar ganz nach Belieben ausgeben durften.
»Da siehste, mei Jung«, sagte Fagin, »lebt sichs nicht fein bei mir? Den