Charles Dickens

Oliver Twist


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Die Leun­te sa­gen, ich bin e Geiz­hals, aber lass se re­den. Was liegt wei­ter dar­an.«

      Oli­ver kam zu dem Schluss, der alte Gent­le­man müs­se of­fen­bar ein schreck­li­cher Geiz­hals sein, dass er so viel Ta­schen­uh­ren be­sä­ße und trotz­dem in ei­ner so schmut­zi­gen Kam­mer woh­ne. Aber er nahm an, dass viel­leicht sei­ne Vor­lie­be für den Bal­do­we­rer – den jun­gen Dawkins – und die an­de­ren Jun­gen ihn ein hüb­sches Stück Geld kos­te, und dass er im­mer­hin ein großer Men­schen­freund sein müs­se. Er blick­te ihn da­her nur ach­tungs­voll an und frag­te, ob er auf­stehn dür­fe.

      »Na­tier­lich, mei Jun­ge, na­tier­lich«, er­wi­der­te der alte Herr. »Aber wart mal, dort in der Ecke ne­ben der Tür steht ein Topp mit Was­ser. Bring ihn he­ri­wer. Ich will dir ge­ben e Schüs­sel, dass de dir kannst wa­schen, Klei­ner.«

      Oli­ver stand auf, ging durch die Stu­be und bück­te sich einen Au­gen­blick, um den Krug auf­zu­he­ben. Als er sich wie­der um­dreh­te, war die Kas­set­te ver­schwun­den.

      Er hat­te sich kaum ge­wa­schen und al­les wie­der in Ord­nung ge­bracht, dem Be­fehl des Ju­den ge­mäß das Wasch­be­cken aus­ge­schüt­tet und an sei­nen Ort zu­rück­ge­stellt, als der »Bal­do­we­rer« – Mr. Dawkins – in Beglei­tung ei­nes sehr lus­ti­gen Jun­gen, ei­nes von de­nen, die Oli­ver am ver­gan­ge­nen Abend hat­te rau­chen se­hen, und der ihm jetzt in al­ler Form als Char­ley Ba­tes vor­ge­stellt wur­de, ein­trat. Und alle vier setz­ten sich hier­auf zum Früh­stück, das aus Kaf­fee und ein paar mit Schin­ken be­leg­ten Bröt­chen be­stand, die der Bal­do­we­rer in sei­nem Hut mit­ge­bracht hat­te.

      »Na«, sag­te der Jude zu dem Bal­do­we­rer ge­wen­det und warf da­bei einen lus­ti­gen Blick auf Oli­ver. »Was is? Ihr seid doch hof­fent­lich ge­we­sen hein­te frih schon bei der Ar­beit, Jun­gens?«

      »Es war eine schwe­re Ar­beit«, murr­te der Bal­do­we­rer.

      »Ver­dammt hart«, setz­te Char­ley Ba­tes hin­zu.

      »Bra­ve Bur­schen, bra­ve Bur­schen«, lob­te der Jude. »Was hast de mit­ge­bracht, Bal­do­we­rer?«

      »Zwei Ta­schen­tü­cher«, er­wi­der­te der wack­re jun­ge Mann.

      »Ge­stick­te?« frag­te der Jude gie­rig.

      »Na, macht sich«, er­wi­der­te der Bal­do­we­rer und zog zwei Ta­schen­tü­cher her­vor, ein grü­nes und ein ro­tes.

      »Nicht so wie mer’s hätt wün­schen sol­len«, sag­te der Jude, nach­dem er die ent­fal­te­ten Tü­cher sorg­fäl­tig ge­prüft hat­te. »Aber e fei­ne Ar­beit. E ge­schick­te Hand muss das ge­we­sen sein, was mei­nen Sie, Oli­ver?«

      »Wahr­haf­tig, ja«, gab Oli­ver zu, wor­auf Char­ley Ba­tes in ein wie­hern­des Ge­läch­ter aus­brach – zu sei­ner größ­ten Ver­wun­de­rung, denn er konn­te bei all dem nicht den ge­rings­ten Grund zum La­chen se­hen.

      »Und was hast du mit­ge­bracht, Klei­ner?« frag­te Fa­gin Char­ley Ba­tes.

      »Auch Rie­ger­lap­pen«, er­wi­der­te Mas­ter Ba­tes und brach­te vier Ta­schen­tü­cher zum Vor­schein.

      »Hem«, mur­mel­te der Jude und be­sich­tig­te sie bei Licht. »Güt, sehr güt, – aber du hast se nicht gut ge­zeich­net, Char­ley, mir wol­len her­aus­zup­fen die Mo­no­gram­me mit der Na­del und wol­len zei­gen dem klei­nen Oli­ver, wie er es ma­chen soll. Was mei­nen Sie, Oli­ver, was?«

      »Wenn Sie die Güte ha­ben wol­len«, er­wi­der­te Oli­ver.

      »Du möch­test wohl auch ger­ne ma­chen kön­nen Ta­schen­tü­cher so leicht wie Char­ley Ba­tes, nicht wahr Klei­ner?« frag­te der Jude.

      »O ge­wiss, von Her­zen gern, wenn Sie es mich leh­ren wol­len, Sir«, bat Oli­ver.

      Char­ley brach in ein schal­len­des Ge­läch­ter aus, dass er dar­über bei­na­he er­stick­te. »Gott, ist das ein Green­horn«, rief er end­lich, of­fen­bar, um sich der Ge­sell­schaft ge­gen­über we­gen sei­nes un­ma­nier­li­chen Be­tra­gens zu ent­schul­di­gen.

      Der Bal­do­we­rer sag­te nichts, son­dern strich Oli­ver das Haar über die Au­gen und mein­te dann grin­send, er wür­de es mit der Zeit schon ler­nen. Der Jude un­ter­brach ihn, da er sah, dass Oli­ver blut­rot wur­de, in­dem er die Fra­ge stell­te ob heu­te Mor­gen bei der Hin­rich­tung vie­le Leu­te zu­ge­gen ge­we­sen wä­ren. Die bei­den Jun­gen er­wi­der­ten, sie sei­en selbst dort ge­we­sen, und Oli­ver wun­der­te sich, wo­her sie dann in al­ler Frü­he so viel Zeit ge­habt ha­ben könn­ten, noch au­ßer­dem Ta­schen­tü­cher zu sti­cken.

      Als das Früh­stück ab­ge­räumt war, un­ter­hiel­ten sich der lus­ti­ge alte Herr und die bei­den Jun­gen mit ei­nem höchst selt­sa­men und un­ge­wöhn­li­chen Spiel. Der lus­ti­ge alte Herr schob näm­lich eine Schnupf­ta­baks­do­se in eine Ho­sen­ta­sche, eine zwei­te nebst ei­nem No­tiz­buch in die an­de­re, steck­te eine Uhr in die Wes­ten­ta­sche, be­fes­tig­te sich die Ket­te im Knopf­loch, schmück­te sei­ne Kra­wat­te mit ei­ner falschen Bril­lant­na­del, knöpf­te sich den Rock fest zu und spa­zier­te dann mit dem Stock in der Hand, in der Art, wie alte Her­ren sich zu al­len Ta­ge­s­stun­den auf der Stra­ße zu er­ge­hen pfle­gen, im Zim­mer hin und her. Zu­wei­len blieb er beim Her­de ste­hen und dann wie­der an der Türe und tat, als be­trach­te er ein Schau­fens­ter. Da­bei blick­te er sich aber be­stän­dig um wie aus Angst vor Ta­schen­die­ben und be­tas­te­te im­mer­wäh­rend sei­ne Klei­der ob man ihn auch nicht be­stoh­len habe. Er be­nahm sich da­bei so un­ge­heu­er ko­misch, dass Oli­vern vor La­chen die Trä­nen über die Ba­cken lie­fen. Die gan­ze Zeit über blie­ben die bei­den Jun­gen dem Ju­den dicht auf den Fer­sen und ent­schlüpf­ten ihm, wenn er sich um­dreh­te, so ge­schickt, dass es ihm ge­ra­de­zu un­mög­lich war, sie ge­nau ins Auge zu fas­sen. Schließ­lich trat ihm der Bal­do­we­rer auf die Ze­hen oder stol­per­te ihm schein­bar aus Zu­fall über die Füße, wäh­rend Char­ley Ba­tes sich von hin­ten an ihn he­randräng­te und ihm mit au­ßer­or­dent­li­cher Ge­schwin­dig­keit Ta­baks­do­se, Brief­ta­sche, Uhr, Ket­te, Bu­sen­na­del und Ta­schen­tuch, ja so­gar das Bril­len­fut­te­ral stahl. Dann fing das Spiel von Neu­em an.

      So hat­ten sie es ein paar­mal ge­trie­ben, da tra­ten ein paar jun­ge Da­men ein, die die bei­den jun­gen Her­ren zu spre­chen wünsch­ten. Die eine hieß Bet, die an­de­re Nan­cy. Sie hat­ten bei­de sehr rei­ches Haar, das hin­ten nicht ge­ra­de sehr sorg­fäl­tig in einen Kno­ten ge­wi­ckelt war, und Schu­he und St­rümp­fe an, die eben­falls nicht sehr pro­per aus­sa­hen. Im­mer­hin wa­ren sie recht hübsch, leb­haft ge­färbt und drall. Da sie in ih­rem Be­neh­men sehr un­ge­zwun­gen und freund­lich wa­ren, hielt sie Oli­ver für sehr net­te lie­bens­wür­di­ge Mäd­chen. Was sie ohne Zwei­fel auch wa­ren.

      Ihr Be­such dau­er­te ziem­lich lan­ge. Und als eine der jun­gen Da­men über Käl­te klag­te, wur­de so­gleich Schnaps ge­holt, und die Un­ter­hal­tung nahm einen recht an­ge­reg­ten Ver­lauf. Schließ­lich sag­te Char­ley Ba­tes, es sei höchs­te Zeit, sich auf die So­cken zu ma­chen. Gleich dar­auf gin­gen der Bal­do­we­rer, er und die bei­den jun­gen Da­men weg, nach­dem sie vor­her von dem lie­bens­wür­di­gen al­ten Ju­den reich­lich mit Klein­geld ver­se­hen wor­den wa­ren, das sie of­fen­bar ganz nach Be­lie­ben aus­ge­ben durf­ten.

      »Da siehs­te, mei Jung«, sag­te Fa­gin, »lebt sichs nicht fein bei mir? Den