Charles Dickens

Oliver Twist


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en großen Mann ma­chen, wenn de dir an ihm e Bei­spiel nimmst; – sag mal, hängt mir nich mei Ta­schen­tuch zur Ta­sche eraus, mei Jung?« frag­te er, plötz­lich das The­ma wech­selnd.

      »Ja, Sir«, er­wi­der­te Oli­ver.

      »Ver­such mal, ob de es mir kannst er­aus­zie­hen, ohne das ich was merk. Du weißt: so wie wir vor­hin ge­spielt ha­ben zu­sam­men.«

      Oli­ver hielt, wie er es vor­hin vom Bal­do­we­rer ge­se­hen, die Ta­sche mit der einen Hand fest und zog mit der an­de­ren lei­se das Ta­schen­tuch her­aus.

      »Ist es schon drau­ßen?« frag­te der Jude.

      »Hier, Sir«, sag­te Oli­ver und hielt ihm das Tuch hin.

      »Gott über de Welt! E so e ge­schick­ter klei­ner Jung!« sag­te der spaß­haf­te alte Herr und tät­schel­te Oli­ver bei­fäl­lig auf den Kopf. »Noch nie hab ich ge­se­hen e so en ge­schick­ten klei­nen Jun­gen. Da is e Shil­lin für dich. Wenn de ä so wei­ter machst, wirst de noch der größ­te Mann dei­ner Zeit wer­den. Aber jetzt komm emol her. Ich will dir zei­gen, wie mer eraus­macht die Mo­no­gram­mer­lich aus den Ta­schen­tü­chern.«

      Oli­ver zer­brach sich nicht we­nig den Kopf, wie­so er bloß des­we­gen, weil es ihm ge­lun­gen, ei­nem al­ten Herrn ein Tuch aus der Ta­sche zu zie­hen, Aus­sich­ten ha­ben soll­te, der größ­te Mann sei­ner Zeit zu wer­den, aber er nahm an, der Jude müs­se, wo er ihm so be­deu­tend an Jah­ren über­le­gen sei, der­lei wohl am bes­ten wis­sen. Er folg­te ihm da­her an den Ar­beit­s­tisch und war bald eif­rig in sei­ne neue Be­schäf­ti­gung ver­tieft.

      Für vie­le Tage lang blieb Oli­ver bei dem Ju­den und zupf­te die Mo­no­gram­me aus Ta­schen­tü­chern, die in großer Zahl ein­lie­fen, und nahm auch zu­wei­len an dem be­reits er­wähn­ten son­der­ba­ren Spiel, das die bei­den Jun­gen und der Jude Tag für Tag wie­der­hol­ten, teil. End­lich aber konn­te er es vor Sehn­sucht nach fri­scher Luft nicht mehr aus­hal­ten und bat den men­schen­freund­li­chen al­ten Gent­le­man, ihn doch ein­mal mit den bei­den Jun­gen aus­ge­hen zu las­sen.

      Ei­nes Mor­gens wur­de ihm die Er­laub­nis dazu er­teilt, ver­mut­lich weil kei­ne Ta­schen­tü­cher mehr da wa­ren, an de­nen er hät­te ar­bei­ten kön­nen. Über­dies wa­ren der Bal­do­we­rer und Char­ley Ba­tes be­reits des öf­te­ren abends mit lee­ren Hän­den nach Hau­se ge­kom­men, und das hat­te je­des Mal den al­ten Herrn ver­an­lasst, ih­nen mit großem Nach­druck das Ver­werf­li­che ei­nes mü­ßi­gen Le­bens­wan­dels vor Au­gen zu hal­ten. Ge­le­gent­lich ging der Jude so­gar so weit, die bei­den so lan­ge durch­zu­prü­geln, bis sie wie­der die Trep­pe hin­un­ter­flo­hen.

      Oli­ver mach­te sich also mit sei­nen bei­den Ge­fähr­ten auf den Weg. Der Bal­do­we­rer hat­te die Rock­är­mel wie­der auf­ge­krem­pelt und ba­lan­zier­te, wie es sei­ne Ge­wohn­heit war, sei­nen Hut auf dem Kopf, wäh­rend Char­ley Ba­tes, die Hän­de in den Ta­schen, lang­sam mit­schlen­der­te, so­dass Oli­ver zu der An­sicht neig­te, die bei­den müss­ten den gü­ti­gen al­ten Herrn of­fen­bar hin­ter­ge­hen und sich von der Ar­beit drücken. Über­dies hat­te der Bal­do­we­rer die gars­ti­ge An­ge­wohn­heit, klei­nen Jun­gen die Müt­zen vom Kopf zu rei­ßen oder sie in den Rinn­stein zu sto­ßen, und auch Char­ley Ba­tes be­nahm sich sehr son­der­bar und schi­en be­son­ders sehr ei­gen­tüm­li­che Be­grif­fe von Mein und Dein zu ha­ben, denn wo er nur konn­te, sti­bitz­te er Äp­fel und Zwie­beln in den Höch­ler­bu­den und ließ sie in sei­nen ge­räu­mi­gen Ta­schen ver­schwin­den. Das al­les miss­fiel Oli­ver der­art, dass er den bei­den schon sa­gen woll­te, es wäre wohl das bes­te, er gin­ge wie­der al­lein nach Hau­se, als er in sei­nem Vor­ha­ben durch eine plötz­li­che ge­heim­nis­vol­le Wand­lung, die im Be­neh­men des Bal­do­we­rers vor sich ging, ab­ge­lenkt wur­de.

      Sie tra­ten eben aus ei­nem sehr en­gen Hof in Cler­ken­well, der noch heut­zu­ta­ge selt­sa­mer­wei­se die grü­ne Wie­se heißt, als der Bal­do­we­rer plötz­lich ste­hen blieb, den Fin­ger auf die Lip­pen leg­te und sei­ne bei­den Ge­fähr­ten vor­sich­tig zu­rück­dräng­te.

      »Was gibt es denn?« frag­te Oli­ver.

      »Still«, flüs­ter­te der Bal­do­we­rer. »Siehst du den al­ten Schöp­fen drü­ben an der Bü­cher­bu­de, Char­ley?«

      »Den al­ten Herrn drü­ben?« frag­te Oli­ver. »Ja, den sehe ich.«

      »Das ist was für uns«, sag­te der Bal­do­we­rer.

      »Das ist der Rich­ti­ge, pri­ma pri­mis­si­ma«, rief Mas­ter Char­ley Ba­tes.

      Oli­ver mach­te ein ver­wun­der­tes Ge­sicht, konn­te aber nicht wei­ter fra­gen, denn die bei­den an­de­ren husch­ten über die Stra­ße und schli­chen sich hin­ter den al­ten Herrn. Oli­ver ging un­schlüs­sig eben­falls hin­über, blieb dann ste­hen und sah ih­nen stumm und ver­wun­dert zu.

      Der alte Herr sah un­ge­mein ehr­wür­dig aus, trug eine Perücke, gol­de­ne Bril­le, einen fla­schen­grü­nen Rock mit schwar­zem Samt­kra­gen, wei­ße Ho­sen und ein schickes Bam­bus­stäb­chen un­ter dem Arm. Er hat­te ge­ra­de ein Buch zur Hand ge­nom­men und las eif­rig dar­in. Er schi­en für nichts an­de­res einen Blick zu ha­ben und blät­ter­te ver­tieft in dem Buch. Ent­setzt be­merk­te Oli­ver plötz­lich, dass der Bal­do­we­rer sei­ne Hand in der Ta­sche des al­ten Herrn ver­schwin­den ließ und sie gleich dar­auf mit ei­nem Ta­schen­tuch wie­der her­aus­zog, das er dann Char­ley übergab, wor­auf bei­de um die Ecke her­um Reiß­aus nah­men. Im Nu war ihm das Ge­heim­nis klar, von wo die Ta­schen­tü­cher, Uhren und Pre­tio­sen des Ju­den ka­men. Eine Se­kun­de lang stand er wie ge­lähmt da. Dann lief er er­schreckt da­von, so schnell ihn sei­ne Füße tra­gen woll­ten.

Bild: 043_Oliver_Twist_007.jpg

      Das al­les dau­er­te kaum eine Mi­nu­te. Im sel­ben Au­gen­blick, als Oli­ver zu lau­fen an­fing, griff der alte Herr in sei­ne Ta­sche und dreh­te sich, da er sein Schnupf­tuch ver­miss­te, um. Er sah Oli­ver da­von­lau­fen, hielt ihn na­tür­lich für den Dieb und schrie: »Hal­tet den Dieb« und lief ihm mit dem Buch in der Hand nach. Kaum hör­ten der Bal­do­we­rer und Char­ley Ba­tes sei­nen Ruf, als auch sie aus ih­rer Ecke wie­der her­vor­ka­men und, um den Ver­dacht von sich ab­zu­len­ken, laut in das be­reits all­ge­mein wer­den­de Ge­schrei der Stra­ße: »Hal­tet den Dieb« ein­stimm­ten. So ein Ruf »Hal­tet den Dieb, hal­tet den Dieb« hat eine ma­gi­sche Wir­kung. Der Kauf­mann springt hin­ter dem La­den­tisch her­vor, der Fuhr­mann vom Wa­gen her­un­ter, der Flei­scher wirft sei­ne Mul­de weg und der Bä­cker sei­nen Brot­korb, der Milch­mann lässt sei­nen Ei­mer ste­hen, der Lauf­bur­sche ver­liert sein Pa­ket. Je­der wirft weg, was ihn am Lau­fen hin­dert. Der Schul­jun­ge sei­ne Mar­meln, der Mau­rer sei­ne Kel­le, das Kind sei­nen Gum­mi­ball, und to­bend, krei­schend und brül­lend geht die wil­de Jagd um die Ecke. Die Hun­de bel­len und ja­gen ein­her und ver­scheu­chen die Hüh­ner, und Stra­ßen und Plät­ze und Höfe wi­der­hal­len von dem Ruf: »Hal­tet den Dieb, hal­tet den Dieb.« Bei je­der Stra­ßen­bie­gung wächst die Men­ge an. Da­hin lau­fen sie und pat­schen durch Pfüt­zen und Rinn­stei­ne. Fens­ter flie­gen auf, und vor­wärts, im­mer vor­wärts stürzt der Knäu­el. Al­les kreischt vor Freu­de: »Hal­tet den Dieb.«