en großen Mann machen, wenn de dir an ihm e Beispiel nimmst; – sag mal, hängt mir nich mei Taschentuch zur Tasche eraus, mei Jung?« fragte er, plötzlich das Thema wechselnd.
»Ja, Sir«, erwiderte Oliver.
»Versuch mal, ob de es mir kannst erausziehen, ohne das ich was merk. Du weißt: so wie wir vorhin gespielt haben zusammen.«
Oliver hielt, wie er es vorhin vom Baldowerer gesehen, die Tasche mit der einen Hand fest und zog mit der anderen leise das Taschentuch heraus.
»Ist es schon draußen?« fragte der Jude.
»Hier, Sir«, sagte Oliver und hielt ihm das Tuch hin.
»Gott über de Welt! E so e geschickter kleiner Jung!« sagte der spaßhafte alte Herr und tätschelte Oliver beifällig auf den Kopf. »Noch nie hab ich gesehen e so en geschickten kleinen Jungen. Da is e Shillin für dich. Wenn de ä so weiter machst, wirst de noch der größte Mann deiner Zeit werden. Aber jetzt komm emol her. Ich will dir zeigen, wie mer erausmacht die Monogrammerlich aus den Taschentüchern.«
Oliver zerbrach sich nicht wenig den Kopf, wieso er bloß deswegen, weil es ihm gelungen, einem alten Herrn ein Tuch aus der Tasche zu ziehen, Aussichten haben sollte, der größte Mann seiner Zeit zu werden, aber er nahm an, der Jude müsse, wo er ihm so bedeutend an Jahren überlegen sei, derlei wohl am besten wissen. Er folgte ihm daher an den Arbeitstisch und war bald eifrig in seine neue Beschäftigung vertieft.
10 – Oliver gewinnt Einblick in die Charaktereigenschaften seiner neuen Kollegen, bezahlt aber seine Erfahrung sehr teuer.
Für viele Tage lang blieb Oliver bei dem Juden und zupfte die Monogramme aus Taschentüchern, die in großer Zahl einliefen, und nahm auch zuweilen an dem bereits erwähnten sonderbaren Spiel, das die beiden Jungen und der Jude Tag für Tag wiederholten, teil. Endlich aber konnte er es vor Sehnsucht nach frischer Luft nicht mehr aushalten und bat den menschenfreundlichen alten Gentleman, ihn doch einmal mit den beiden Jungen ausgehen zu lassen.
Eines Morgens wurde ihm die Erlaubnis dazu erteilt, vermutlich weil keine Taschentücher mehr da waren, an denen er hätte arbeiten können. Überdies waren der Baldowerer und Charley Bates bereits des öfteren abends mit leeren Händen nach Hause gekommen, und das hatte jedes Mal den alten Herrn veranlasst, ihnen mit großem Nachdruck das Verwerfliche eines müßigen Lebenswandels vor Augen zu halten. Gelegentlich ging der Jude sogar so weit, die beiden so lange durchzuprügeln, bis sie wieder die Treppe hinunterflohen.
Oliver machte sich also mit seinen beiden Gefährten auf den Weg. Der Baldowerer hatte die Rockärmel wieder aufgekrempelt und balanzierte, wie es seine Gewohnheit war, seinen Hut auf dem Kopf, während Charley Bates, die Hände in den Taschen, langsam mitschlenderte, sodass Oliver zu der Ansicht neigte, die beiden müssten den gütigen alten Herrn offenbar hintergehen und sich von der Arbeit drücken. Überdies hatte der Baldowerer die garstige Angewohnheit, kleinen Jungen die Mützen vom Kopf zu reißen oder sie in den Rinnstein zu stoßen, und auch Charley Bates benahm sich sehr sonderbar und schien besonders sehr eigentümliche Begriffe von Mein und Dein zu haben, denn wo er nur konnte, stibitzte er Äpfel und Zwiebeln in den Höchlerbuden und ließ sie in seinen geräumigen Taschen verschwinden. Das alles missfiel Oliver derart, dass er den beiden schon sagen wollte, es wäre wohl das beste, er ginge wieder allein nach Hause, als er in seinem Vorhaben durch eine plötzliche geheimnisvolle Wandlung, die im Benehmen des Baldowerers vor sich ging, abgelenkt wurde.
Sie traten eben aus einem sehr engen Hof in Clerkenwell, der noch heutzutage seltsamerweise die grüne Wiese heißt, als der Baldowerer plötzlich stehen blieb, den Finger auf die Lippen legte und seine beiden Gefährten vorsichtig zurückdrängte.
»Was gibt es denn?« fragte Oliver.
»Still«, flüsterte der Baldowerer. »Siehst du den alten Schöpfen drüben an der Bücherbude, Charley?«
»Den alten Herrn drüben?« fragte Oliver. »Ja, den sehe ich.«
»Das ist was für uns«, sagte der Baldowerer.
»Das ist der Richtige, prima primissima«, rief Master Charley Bates.
Oliver machte ein verwundertes Gesicht, konnte aber nicht weiter fragen, denn die beiden anderen huschten über die Straße und schlichen sich hinter den alten Herrn. Oliver ging unschlüssig ebenfalls hinüber, blieb dann stehen und sah ihnen stumm und verwundert zu.
Der alte Herr sah ungemein ehrwürdig aus, trug eine Perücke, goldene Brille, einen flaschengrünen Rock mit schwarzem Samtkragen, weiße Hosen und ein schickes Bambusstäbchen unter dem Arm. Er hatte gerade ein Buch zur Hand genommen und las eifrig darin. Er schien für nichts anderes einen Blick zu haben und blätterte vertieft in dem Buch. Entsetzt bemerkte Oliver plötzlich, dass der Baldowerer seine Hand in der Tasche des alten Herrn verschwinden ließ und sie gleich darauf mit einem Taschentuch wieder herauszog, das er dann Charley übergab, worauf beide um die Ecke herum Reißaus nahmen. Im Nu war ihm das Geheimnis klar, von wo die Taschentücher, Uhren und Pretiosen des Juden kamen. Eine Sekunde lang stand er wie gelähmt da. Dann lief er erschreckt davon, so schnell ihn seine Füße tragen wollten.
Das alles dauerte kaum eine Minute. Im selben Augenblick, als Oliver zu laufen anfing, griff der alte Herr in seine Tasche und drehte sich, da er sein Schnupftuch vermisste, um. Er sah Oliver davonlaufen, hielt ihn natürlich für den Dieb und schrie: »Haltet den Dieb« und lief ihm mit dem Buch in der Hand nach. Kaum hörten der Baldowerer und Charley Bates seinen Ruf, als auch sie aus ihrer Ecke wieder hervorkamen und, um den Verdacht von sich abzulenken, laut in das bereits allgemein werdende Geschrei der Straße: »Haltet den Dieb« einstimmten. So ein Ruf »Haltet den Dieb, haltet den Dieb« hat eine magische Wirkung. Der Kaufmann springt hinter dem Ladentisch hervor, der Fuhrmann vom Wagen herunter, der Fleischer wirft seine Mulde weg und der Bäcker seinen Brotkorb, der Milchmann lässt seinen Eimer stehen, der Laufbursche verliert sein Paket. Jeder wirft weg, was ihn am Laufen hindert. Der Schuljunge seine Marmeln, der Maurer seine Kelle, das Kind seinen Gummiball, und tobend, kreischend und brüllend geht die wilde Jagd um die Ecke. Die Hunde bellen und jagen einher und verscheuchen die Hühner, und Straßen und Plätze und Höfe widerhallen von dem Ruf: »Haltet den Dieb, haltet den Dieb.« Bei jeder Straßenbiegung wächst die Menge an. Dahin laufen sie und patschen durch Pfützen und Rinnsteine. Fenster fliegen auf, und vorwärts, immer vorwärts stürzt der Knäuel. Alles kreischt vor Freude: »Haltet den Dieb.«