Charles Dickens

Oliver Twist


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nach­dem man Oli­ver sorg­sam auf den Rück­sitz ge­legt, stieg der alte Herr ein und setz­te sich ihm ge­gen­über.

      »Darf ich Sie be­glei­ten?« frag­te der Buch­händ­ler mit ei­nem Blick in den Wa­gen.

      »Selbst­ver­ständ­lich, lie­ber Herr«, sag­te Mr. Brow­n­low. »Ich habe ganz auf Sie ver­ges­sen. O Gott, o Gott, im­mer noch habe ich das un­glück­se­li­ge Buch in der Hand. So stei­gen Sie doch ein! Der arme Jun­ge, der arme Jun­ge, wir dür­fen kei­ne Zeit ver­lie­ren.«

      Der Buch­händ­ler stieg in den Wa­gen, und die Drosch­ke fuhr da­von.

      Der Wa­gen ras­sel­te da­von, fast auf dem­sel­ben Weg, den Oli­ver durch­wan­dert hat­te, als er in der Ge­sell­schaft des Bal­do­we­rers zum ers­ten Mal Lon­don be­tre­ten, er­reich­te dann den »En­gel« in Is­ling­ton und hielt schließ­lich vor ei­nem hüb­schen sau­bern Haus in ei­ner stil­len schat­ti­gen Stra­ße in der Nähe von Pen­ton­ville. Hier brach­te Mr. Brow­n­low sei­nen jun­gen Schütz­ling so­fort zu Bett und ließ ihm eine Pfle­ge und Be­hand­lung an­ge­dei­hen, – so lieb­voll, wie die­ser sie noch nie im Le­ben ge­habt hat­te.

      Eine gan­ze Wo­che ver­ging, und im­mer noch lag Oli­ver fie­bernd und fan­ta­sie­rend auf sei­nem La­ger. Schwach, ab­ge­ma­gert und bleich er­wach­te er end­lich aus ei­nem Schlaf, der ein lan­ger quä­len­der Traum ge­we­sen zu sein schi­en. Matt er­hob er sich in sei­nem Bett und sah sich ängst­lich um.

      »Wo bin ich? Wo hat man mich hin­ge­bracht?« frag­te er. »Das ist doch nicht der Ort, wo ich um­ge­fal­len bin.«

      Ei­lig wur­de der Vor­hang am Kop­fen­de des Bet­tes zu­rück­ge­zo­gen, und eine müt­ter­lich aus­se­hen­de alte Dame stand auf und beug­te sich über ihn.

      »Still, still, Kind«, flüs­ter­te sie. »Du musst dich ru­hig ver­hal­ten, sonst wirst du wie­der krank. Du warst schon nahe am Tode, denk bloß. Leg dich nur wie­der hin – komm, sei ein lie­bes Kind.«

      Mit die­sen Wor­ten leg­te die alte Dame Oli­vers Kopf zu­rück, strich ihm das Haar aus der Stirn und sah ihm so men­schen­freund­lich ins Ge­sicht, dass er sei­ne ab­ge­zehr­te Hand in die ihre le­gen und ih­ren Arm um sei­nen Hals schlin­gen muss­te.

      »O du lie­ber Him­mel«, rief die alte Dame mit trä­nen­den Au­gen, »was das für ein dank­ba­res klei­nes We­sen ist. Was wür­de wohl sei­ne Mut­ter füh­len, wenn sie so ne­ben ihm säße, wie ich jetzt, und ihn se­hen könn­te.«

      »Vi­el­leicht sieht sie mich«, hauch­te Oli­ver die Hän­de fal­tend. »Vi­el­leicht hat sie bei mir ge­ses­sen die gan­ze Zeit über. Ich glau­be wirk­lich, es war so.«

      »Du hast ge­fie­bert, Kind«, sag­te die alte Dame mil­de.

      »Ich glau­be auch, ich habe ge­fie­bert«, ant­wor­te­te Oli­ver. »Der Him­mel ist doch so weit weg, und sie sind so glück­lich dort, – viel zu glück­lich, um an das Bett ei­nes ar­men Jun­gen zu kom­men. Aber wenn sie ge­wusst hat, dass ich krank war, so muss es ihr sehr nahe ge­gan­gen sein, denn sie war ja auch sehr krank, ehe sie starb. Aber sie kann doch nicht gut et­was von mir wis­sen«, setz­te er nach ei­ner Wei­le hin­zu. »Hät­te sie ge­se­hen, was man mir an­ge­tan hat, so wäre sie be­trübt dar­über ge­we­sen. Und sie hat doch so glück­lich aus­ge­se­hen, so oft ich von ihr träum­te.«

      Die alte Dame gab kei­ne Ant­wort, wisch­te sich nur die Au­gen und dann die Bril­le ab, die sie auf die Bett­de­cke ge­legt hat­te – ganz so, als ob die Bril­le und ihre Au­gen un­be­dingt zu­sam­men­ge­hör­ten -, dann brach­te sie Oli­ver ein be­ru­hi­gen­des Ge­tränk, tät­schel­te ihm die Wan­ge und sag­te ihm, er müs­se sehr ru­hig lie­gen, da­mit er nicht wie­der krank wer­de.

      Oli­ver ge­horch­te so­fort, teils, weil er um al­les in der Welt die gute alte Dame nicht ge­kränkt hät­te, und dann auch, weil ihn die we­ni­gen Wor­te, die er ge­spro­chen, wirk­lich voll­stän­dig er­schöpft hat­ten. Er ver­fiel bald in eine Art Halb­schlum­mer, aus dem er erst durch den Schein ei­ner Ker­ze ge­weckt wur­de, die ihm, in die Nähe des Bet­tes ge­bracht, einen Herrn zeig­te, der in der einen Hand eine Uhr hielt und mit der an­de­ren sei­nen Puls be­fühl­te und dann be­haup­te­te, dass es ihm schon weit bes­ser gin­ge.

      »Es geht dir doch auch bes­ser, nicht wahr, Kind?« frag­te der Herr.

      »Ja, ich dan­ke, Sir«, er­wi­der­te Oli­ver.

      »Na­tür­lich, ich weiß doch, dass es dir bes­ser geht«, sag­te der Dok­tor. »Du bist auch selbst­ver­ständ­lich hung­rig.«

      »Nein, Sir«, ant­wor­te­te Oli­ver.

      »Hm«, flüs­ter­te der Arzt. »Nein? Na­tür­lich ja; ich weiß doch, dass du gar nicht hung­rig bist. Er ist nicht hung­rig, Mrs. Bed­win«, sag­te er dann und leg­te sei­ne Stirn in tie­fe Weis­heits­fal­ten.

      Die alte Dame mach­te eine ach­tungs­vol­le Ver­beu­gung, die be­sa­gen soll­te, dass sie den Dok­tor für einen un­ge­mein ge­schei­ten Herrn hal­te. Der Dok­tor schi­en von sich selbst­ver­ständ­lich die glei­che An­sicht zu ha­ben.

      »Du bist also schläf­rig, nicht wahr, Kind?« frag­te er wei­ter.

      »Nein«, ant­wor­te­te Oli­ver.

      »Nein«, sag­te der Dok­tor mit pfif­fi­ger Mie­ne, »du bist nicht schläf­rig. Auch nicht durs­tig na­tür­lich, wie?«

      »Doch, Sir, ziem­lich durs­tig«, ant­wor­te­te Oli­ver.

      »Ganz wie ich er­war­te­te, Mrs. Bed­win«, sag­te der Arzt, »selbst­ver­ständ­lich muss er durs­tig sein. Sie kön­nen ihm ein we­nig Tee ge­ben, lie­be Mrs. Bed­win, und et­was trock­nes Brot, aber ja kei­ne But­ter. Hal­ten Sie ihn nicht zu warm, Mrs. Bed­win, ge­ben Sie aber auch acht, dass er nicht friert. Wer­den Sie sich das al­les mer­ken?«

      Die Dame knix­te. Der Arzt kos­te­te das küh­len­de Ge­tränk, sprach sei­ne Bil­li­gung dar­über aus und schritt von dan­nen. Sei­ne Stie­fel knarr­ten, wie er die Trep­pe hin­un­ter­stieg, sehr laut und ver­rie­ten, was für eine hoch­wich­ti­ge Per­son in ih­nen stack.

      Oli­ver schlum­mer­te wie­der ein, und als er er­wach­te, war es bei­na­he zwölf Uhr. Zärt­lich sag­te ihm die alte Dame Gute Nacht und übergab ihn der Ob­hut ei­ner di­cken al­ten Frau, die eben ein­ge­tre­ten war mit ei­nem klei­nen Bün­del und dar­in ei­nem dün­nen Ge­bet­buch und ei­ner bau­schi­gen Nacht­müt­ze. Als sie letz­te­re auf den Kopf ge­setzt und ers­te­res ne­ben sich auf den Tisch ge­legt, er­zähl­te sie Oli­ver, sie sei her­ge­kom­men, um bei ihm zu wa­chen. Dann zog sie ih­ren Stuhl an den Ka­min und schlief ein. Wach­te auch nicht mehr auf, höchs­tens für eine Se­kun­de, wenn sie vor Schnar­chen bei­na­he er­stick­te. Aber je­des Mal rieb sie sich dann tüch­tig die Nase und schi­en wei­ter kei­nen Scha­den ge­nom­men zu ha­ben.

      So ver­ging lang­sam die Nacht. Eine Zeit lag Oli­ver wach, dann fing er an, die klei­nen Licht­krei­se zu zäh­len die der Lam­pen­schirm auf die De­cke warf, oder ver­folg­te mit mü­dem Blick das ver­wor­re­ne Ta­pe­ten­mus­ter. Bei dem Düs­ter und der fei­er­li­chen Stil­le, die in der Stu­be herrsch­ten, dräng­ten sich ihm die Ge­dan­ken auf, wie viel Tage und Näch­te der Tod hier ge­spuckt ha­ben moch­te, und dass er viel­leicht jetzt noch das Zim­mer mit der