Charles Dickens

Oliver Twist


Скачать книгу

den ist nicht scha­de.«

      »Ar­mer Jun­ge«, sag­te der Herr, »er hat sich wohl weh ge­tan?«

      »Ich hab’ ihm eine ver­setzt«, mel­de­te sich ein baum­lan­ger Strolch, »i bin ihm mit der Faust übers Maul g’fah­ren; i war’s, der wo ihn auf­g’hal­ten hat, Herr.«

      Und grin­send griff der Lüm­mel an sei­nen Hut, ein Trink­geld er­war­tend. Aber der alte Herr warf ihm nur einen bit­ter­bö­sen Blick zu und sah sich ängst­lich um, als lie­fe er selbst am liebs­ten da­von, und er wür­de es wahr­schein­lich auch ge­tan und da­durch eine neue Hetz­jagd ver­an­lasst ha­ben, wenn sich nicht ein Po­li­zei­mann – wie im­mer in sol­chen Fäl­len – als al­ler­letz­ter ein­ge­fun­den und Oli­ver am Kra­gen ge­packt hät­te.

      »Heda, auf­ge­stan­den«, sag­te der Po­li­zist grob.

      »Ich bin es doch nicht ge­we­sen, Sir; wirk­lich, ich war es nicht. Es wa­ren zwei an­de­re Jun­gens«, rief Oli­ver ent­setzt, die Hän­de fal­tend und ver­stört um sich bli­ckend. »Ir­gend­wo hier her­um müs­sen sie sich ver­steckt ha­ben.«

      »Na, hier her­um g’wiss nicht«, sag­te der Po­li­zei­mann, und wenn er sei­ne Wor­te auch iro­nisch mein­te, so hat­te er doch im All­ge­mei­nen recht, denn der Bal­do­we­rer so­wie Char­ley Ba­tes hat­ten sich längst ab­sen­tiert. »Auf­ge­stan­den jetzt!«

      »Tun Sie ihm nichts zu lei­de«, sag­te der alte Herr mit­lei­dig.

      »Na na, da­von kann ka Red sein«, ant­wor­te­te der Po­li­zei­mann und riss Oli­ver fast die Ja­cke vom Leib. »Marsch vor­wärts, dich kenn’ ich schon. Wirst gleich auf­ste­hen, Diebs­lüm­mel.«

      Müh­sam er­hob sich Oli­ver vom Bo­den und wur­de am Kra­gen im schnells­ten Tem­po durch die Stra­ße ge­schleift. Der alte Herr ging ne­ben dem Po­li­zis­ten her, und ju­belnd be­glei­te­te sie die Gas­sen­ju­gend zum Kom­missa­ri­at.

      Als der Zug auf der Wa­che an­lang­te, wur­de Oli­ver vor­läu­fig in eine Art Kel­ler ein­ge­sperrt, der nur so starr­te vor Schmutz. Ein vier­schrö­ti­ger Kerl mit ei­nem Ba­cken­bart und ei­nem Bün­del Schlüs­sel in der Hand trat vor. »Was gib­t’s denn schon wie­der?« frag­te er mür­risch.

      »Ein jun­ger Ta­schen­dieb«, ant­wor­te­te der Po­li­zist, der Oli­ver am Kra­gen hielt.

      »Sind Sie der Be­stoh­le­ne, Sir?« frag­te der Mann mit den Schlüs­seln.

      »Ja«, sag­te der alte Herr. »Aber ich kann nicht ge­nau an­ge­ben, ob es auch wirk­lich der Jun­ge war, der mir das Ta­schen­tuch ge­stoh­len hat. Ich – hm – möch­te am liebs­ten den Fall nicht wei­ter ver­fol­gen.«

      »Dös müs­sen S’ dem Herrn Kom­mis­sär sa­gen«, brumm­te der Mann. »Der Herr Kom­mis­sär wird gleich frei sein. Na, kumm amal her, klei­ner Gal­gen­vo­gel.«

      Da­mit pack­te der Mann Oli­ver am Kra­gen und sperr­te ihn in den er­wähn­ten Kel­ler. Es war dies eine Art Schacht, der nur so strotz­te von Un­rat und Schmutz.

      Der alte Herr sah eben­so be­küm­mert aus wie Oli­ver selbst, als der Schlüs­sel im Schlos­se kreisch­te, und warf mit ei­nem Seuf­zer einen Blick auf das Buch, das die un­schul­di­ge Ver­an­las­sung zu dem gan­zen Un­heil ge­we­sen war.

      »Es liegt et­was in dem Ge­sicht des Jun­gen«, mur­mel­te der alte Herr und rieb sich nach­denk­lich mit dem Buch­de­ckel das Kinn, »et­was, was mich tief er­greift und rührt. Er ist viel­leicht ganz un­schul­dig. Aus­se­hen tut er da­nach. – Üb­ri­gens«, rief der alte Herr plötz­lich und sah nach­denk­lich zum Him­mel em­por, »an wen er­in­nern mich doch nur sei­ne Züge?«

      Eine Berüh­rung an der Schul­ter weck­te ihn aus sei­nen Be­trach­tun­gen. Gleich dar­auf er­such­te ihn der Mann mit den Schlüs­seln ihm in die Wacht­stu­be zu fol­gen. Has­tig klapp­te der alte Herr das Buch zu und stand in der nächs­ten Mi­nu­te vor dem be­rühm­ten Po­li­zei­kom­mis­sär Mr. Fang. »Hier mein Name und mei­ne Adres­se, Sir«, sag­te er, ver­beug­te sich höf­lich und über­reich­te dem Ge­wal­ti­gen sei­ne Kar­te. Är­ger­lich über die Stö­rung blick­te Mr. Fang, der so­eben eine Zei­tung stu­diert hat­te, auf und frag­te: »Wer sind Sie?«

      Ei­ni­ger­ma­ßen über­rascht deu­te­te der alte Herr auf sei­ne Kar­te.

      Verächt­lich stieß der Kom­mis­sär die Kar­te zu­rück. »Ge­richts­die­ner, le­sen Sie, wer die­ser Mensch ist.«

      »Ich hei­ße Brow­n­low«, fiel der alte Herr mit ei­ner Höf­lich­keit, die stark von der Grob­heit des Po­li­zei­be­am­ten ab­stach, ein, »Sie wer­den wohl ge­stat­ten, dass ich mich nach dem Na­men des Ge­richts­be­am­ten er­kun­di­ge, der ei­nem acht­ba­ren Bür­ger ohne jede Ver­an­las­sung in die­sem Lo­kal Be­lei­di­gun­gen ins Ge­sicht wirft.«

      »Ge­richts­die­ner«, rief Mr. Fang und leg­te sei­ne Zei­tung weg, »was liegt ge­gen den Men­schen vor?«

      »Ge­gen ihn nichts, Euer Gna­den«, er­wi­der­te der Die­ner. »Er ist der An­klä­ger die­ses Jun­gen.«

      »So, die­ses Jun­gen, so«, sag­te Mr. Fang und mus­ter­te Mr. Brow­n­low von Kopf bis zu Fü­ßen ver­ächt­lich. »Be­ei­di­gen Sie ihn.«

      »Ehe man mich ver­ei­digt, muss ich bit­ten, die Sa­che er­klä­ren zu dür­fen«, pro­tes­tier­te Mr. Brow­n­low. »Ich wür­de nie­mals ge­glaubt ha­ben, wenn es mir nicht selbst wi­der­fah­ren wäre, dass -«

      »Hal­ten Sie den Mund«, rief Mr. Fang ge­bie­te­risch.

      »Das wer­de ich nicht tun, Sir«, op­po­nier­te der alte Herr.

      »Sie schwei­gen au­gen­blick­lich, oder ich las­se Sie hin­aus­wer­fen«, schrie Mr. Fang. »Sie sind ein un­ver­schäm­ter fre­cher Kerl. Wie kön­nen Sie sich er­dreis­ten, in die­ser Wei­se mit mir zu spre­chen!«

      »Was!« rief der alte Herr, vor Zorn er­rö­tend.

      »Ve­rei­di­gen Sie den Kerl!« be­fahl Mr. Fang. »Ich will wei­ter nichts hö­ren.«

      Mr. Brow­n­low war aufs äu­ßers­te ent­rüs­tet, über­leg­te sich aber, dass er Oli­ver nur scha­den müs­se, wenn er wei­ter so ener­gisch auf­tre­te, un­ter­drück­te da­her sei­nen Är­ger und ließ sich ru­hig ver­ei­di­gen.

      »Nun«, frag­te Mr. Fang, »was liegt ge­gen den Bur­schen vor? Was ha­ben Sie vor­zu­brin­gen, Sir?«

      »Ich stand vor ei­nem Bü­cher­la­den«, be­gann Mr. Brow­n­low.

      »Hal­ten Sie den Mund«, rief Mr. Fang. »Wo ist der Wach­mann? So. Hier. Be­ei­di­gen Sie den Wach­mann. Also, Wach­mann, was hat’s ge­ge­ben?«

      Der Po­li­zei­mann be­rich­te­te mit ge­büh­ren­der Un­ter­wür­fig­keit, wie er Oli­ver ver­haf­tet, durch­sucht, aber nichts bei ihm ge­fun­den habe, und wie al­les wei­ter ge­kom­men sei.

      »Sind Zeu­gen da?« frag­te Mr. Fang.

      »Nein, Euer Gna­den.«

      Ei­ni­ge Mi­nu­ten saß der Kom­mis­sär schwei­gend da, dann wand­te er sich zu Mr. Brow­n­low und sag­te mit stei­gen­dem Är­ger:

      »Wol­len Sie jetzt hier aus­sa­gen, was Sie