Lucy Maud Montgomery

Anne & Rilla - Zum ersten Mal verliebt


Скачать книгу

So, jetzt sind wir am Traumhaus angekommen. Es sieht verlassen aus diesen Sommer. Sind die Fords denn nicht gekommen?“

      „Nein, zumindest nicht Mr. und Mrs. Ford und Persis. Nur Kenneth war da, aber der hat sich bei den Verwandten seiner Mutter in Overharbour aufgehalten. Wir haben ihn diesen Sommer kaum gesehen. Er hinkt ein bißchen, deshalb ist er auch nicht viel unterwegs gewesen.“

      „Er hinkt? Was ist denn mit ihm passiert?“

      „Er hat sich letzten Herbst beim Fußballspielen den Knöchel gebrochen und mußte fast den ganzen Winter über liegen. Seitdem humpelt er, aber es wird nach und nach besser, und er meint, daß er bald wieder ganz gesund ist. Er ist nur zweimal in Ingleside gewesen.“

      „Ethel Reese ist ganz verrückt nach ihm“, sagte Mary Vance. „Dabei ist er ihr haushoch überlegen. Neulich hat er sie nach der Gebetsstunde begleitet, seitdem ist sie so eingebildet, daß es einem schlecht wird davon. Als ob einer aus Toronto wie Ken Ford auch nur im Traum daran denkt, sich mit einem gewöhnlichen Mädchen vom Lande abzugeben!“

      Rilla wurde rot. Ach was, selbst wenn Kenneth Ford hundertmal mit Ethel Reese nach Hause ging, das war ihr doch egal, und ob ihr das egal war! Was er tat, kümmerte sie überhaupt nicht. Er war schließlich um Jahre älter als sie. Er war befreundet mit Nan und Di und Faith, aber sie, Rilla, war in seinen Augen doch noch ein Kind, das er höchstens einmal neckte, wenn überhaupt. Und sie konnte diese Ethel Reese nicht ausstehen. Nur, wieso sollte die denn gleich unter Kenneth Fords Würde sein, bloß, weil sie ein Mädchen vom Lande war? Also wirklich, diese Mary entwickelte sich anscheinend immer mehr zum Klatschmaul und hatte nur noch eins im Kopf, nämlich, wer mit wem nach Hause ging.

      Unterhalb vom Traumhaus war eine kleine Landungsbrücke, wo zwei Boote befestigt waren. Eines der Boote wurde von Jem Blythe gesteuert, das andere von Joe Milgrave, der sich mit Booten bestens auskannte und damit nicht ungern vor Miranda Pryor angab. Sie segelten den Hafen hinunter um die Wette, und Joes Boot gewann. Von allen Seiten kamen nun Boote herbei, und von überall drang Lachen herüber. Der große weiße Leuchtturm von Four Winds war hell erleuchtet, und oben blitzte das Leuchtfeuer mit jeder Umdrehung auf. Eine Familie aus Charlottetown, Verwandte des Leuchtturmwächters, verbrachte den Sommer dort und hatte alle jungen Leute aus Four Winds, Glen St. Mary und Overharbour zu der Party eingeladen. Als Jems Boot unterhalb des Leuchtturms an Land schwankte, riß Rilla sich verzweifelt die Schuhe von den Füßen und zog hinter Miss Olivers schützendem Rücken ihre Silberschuhe über. Ein Blick hinüber zu den felsigen Stufen zum Leuchtturm hoch hatte genügt, um festzustellen, daß dort überall Jungen herumstanden und alles mit Lampions erleuchtet war. Eins stand fest: In den Trampelschuhen, mit denen sie hergekommen war, würde sie da nicht hinaufmarschieren! Die Stöckelschuhe drückten ganz erbärmlich, aber niemand schöpfte Verdacht, als Rilla lächelnd die Treppe hinaufhüpfte, mit ihren leuchtenden dunklen Augen und dem fragenden Blick und ihren zarten runden Wangen, die sich sichtlich röteten. Kaum war sie oben angekommen, wurde sie auch schon zum Tanzen aufgefordert, und im nächsten Augenblick waren sie in dem Pavillon, der auf der Seeseite des Leuchtturms eigens für Tanzparties erbaut worden war. Es war ein entzückender Platz, überdacht von Tannenzweigen und geschmückt mit Laternen. Darunter lag das glitzernde Meer, links die Kämme und Mulden der Sanddünen im Mondlicht, rechts die Felsküste mit ihren pechschwarzen Schatten und kristallenen Buchten. Rilla und ihr Partner mischten sich unter die Tanzenden. Rilla war ganz hingerissen. Was für eine bezaubernde Musik Ned Burr aus Upper Glen seiner Geige entlockte! Es klang wirklich wie die Wunderflöten aus dem alten Märchen, die alle, welche die Musik hörten, zum Tanzen verführten. Wie kühl und frisch der Wind vom Golf her blies. Wie hell und wunderbar der Mond herabschien! Das war das Leben. Ein aufregendes Leben! Rilla hatte das Gefühl, als hätten ihre Füße und ihre Seele Flügel bekommen.

      Der Pfeifer spielt sein Lied

      Rillas erste Party war ein großer Erfolg, zumindest sah es zunächst so aus. So viele junge Männer wollten mit ihr tanzen, daß sie mitten im Tanz den Partner wechseln mußte. Ihre Silberschuhe tanzten fast wie von selbst, und obwohl ihr die Zehen weh taten und sie Blasen an den Fersen bekam, ließ Rilla sich davon nicht beeindrucken. Nur Ethel Reese fuhr einmal störend dazwischen, als sie Rilla aus dem Pavillon winkte, nur um sie mit süßlichem Lächeln darauf hinzuweisen, daß ihr Kleid hinten auseinanderklaffen würde und der Volant einen Fleck hätte. Rilla eilte daraufhin entsetzt in ein Zimmer, das vorübergehend als Ankleideraum für die jungen Damen diente, und stellte fest, daß der „Fleck“ ein winziger Grasfleck war und der „Riß“ nichts weiter als ein Häkchen, das sich gelöst hatte. Irene Howard machte es ihr wieder zu und bedachte sie mit ein paar gönnerhaften Komplimenten. Rilla fühlte sich geschmeichelt. Irene war neunzehn und schloß sich anscheinend gern jüngeren Mädchen an. Um vor ihnen die große Dame zu spielen, wie gehässige Zungen behaupteten. Doch Rilla war begeistert von Irene und ließ sich gern von ihr bemuttern. Irene war hübsch und elegant gekleidet. Sie konnte geradezu göttlich singen und nahm jeden Winter in Charlottetown Gesangsunterricht. Sie hatte eine Tante in Montreal, die ihr wunderbare Kleider schickte. Es hieß, sie hätte eine traurige Liebesaffäre gehabt. Niemand wußte Genaueres, aber gerade das machte sie so interessant. Für Rilla waren Irenes Komplimente die Krönung des Abends. Beglückt lief sie zurück zum Pavillon und verweilte einen Augenblick am Eingang im Schein der Laternen, um den Tanzenden zuzusehen. Als die wirbelnde Menschenmenge eine kurze Pause einlegte, erspähte sie für einen Augenblick Kenneth Ford am anderen Ende des Saales.

      Rillas Herz machte einen kleinen Sprung. Also war er doch gekommen. Sie war davon ausgegangen, daß er nicht kommen würde, was ihr natürlich völlig gleichgültig war.

      Ob er sie sehen würde? Ob er sie wohl beachten würde? Natürlich würde er sie nicht zum Tanz auffordern. Das brauchte sie sich nun wirklich nicht zu erhoffen. Er hielt sie ja immer noch für ein Kind. „Spinne“ hatte er sie genannt, als er abends mal in Ingleside gewesen war. Es war noch keine drei Wochen her. Sie hatte hinterher deswegen in ihrem Zimmer geweint und ihn dafür gehaßt. Da machte ihr Herz wieder einen Sprung, als sie sah, daß er sich in Bewegung setzte und in ihre Richtung steuerte. Kam er etwa zu ihr? Kam er? Kam er wirklich? Ja, er kam! Er wollte zu ihr. Er stand neben ihr, und er schaute auf sie herab mit einem Blick, den Rilla noch nie in seinen dunklen Augen gesehen hatte. Oh, das war fast zuviel für sie! Und alles ging weiter wie bisher: Die Tänzer drehten sich im Kreis, die Jungen, die keine Partnerin fanden, lungerten im Pavillon herum, Pärchen hockten schmusend draußen auf den Felsen. Und niemand schien das überwältigende Ereignis zu bemerken!

      Kenneth war ein großer, sehr gutaussehender junger Mann und hatte eine unglaublich lässig-charmante Art, gegen die alle anderen Jungen steif und plump wirkten. Er galt als ungeheuer klug und verbreitete einen Hauch von Großstadt und Universität. Allerdings hatte er auch den Ruf eines Herzensbrechers. Aber der wurde ihm wahrscheinlich angedichtet, weil er so eine anregende, samtweiche Stimme besaß, die bei jedem Mädchen Herzklopfen hervorrief, und noch dazu eine ganz gefährliche Art zuzuhören, so, als ob sein weibliches Gegenüber ihm genau das sagte, wonach er sich sein Leben lang gesehnt hatte.

      „Bist du Rilla-meine-Rilla?“ fragte er leise.

      „Ja, bin iss“, sagte Rilla und hätte sich im selben Augenblick am liebsten von den Felsen gestürzt oder in Luft aufgelöst.

      Als Rilla noch ein kleines Kind war, hatte sie die Angewohnheit gehabt zu lispeln. Aber mit der Zeit hatte sich das gelegt. Nur wenn sie aufgeregt war oder sich anstrengen mußte, kam diese Neigung wieder durch. Dabei hatte sie schon ein Jahr lang nicht mehr gelispelt. Und jetzt, ausgerechnet in diesem Augenblick, als sie sich nichts sehnlicher wünschte, als endlich erwachsen und intelligent zu erscheinen, da mußte sie lispeln wie ein Baby! Es war zum Aus-der-Haut-Fahren! Sie war den Tränen nahe. Gleich würde sie losflennen, ja, losflennen. Wenn Kenneth doch nur gehen würde, am besten wäre er gar nicht erst hergekommen! Die Party war verdorben. Der Spaß war ihr gründlich vergangen.

      Dabei hatte er sie „Rilla-meine-Rilla“ genannt und nicht „Spinne“ oder „Kindchen“ oder „Kleines“ so wie sonst, falls er sie überhaupt beachtet hatte. Daß er sie jetzt mit Walters Kosenamen ansprach, nahm sie ihm kein bißchen übel. Es klang so schön mit seiner leisen, zärtlichen Stimme und der winzig kleinen