Fridtjof Nansen

In Nacht und Eis


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erfrischenden Schneeschuhlauf das Festbankett.

      Das Essen war prachtvoll: Ochsenschwanzsuppe, Fischpudding mit geschmolzener Butter und Kartoffeln, Schildkröte mit Zucker- und anderen Erbsen, Reis mit Moltebeeren und Krem, Kronen-Malzextrakt.

      Nach dem Abendessen, das ebenfalls vorzüglich war, wurde Musik verlangt. Sie wurde den ganzen Abend in reichem Maße von verschiedenen, geübten Spielern geliefert. Pettersen und ich tanzten einen Walzer und eine Polka. Wir haben in dem beschränkten Raum einige sehr geschmackvolle Pas de deux ausgeführt. Auch Amundsen wurde von der Tanzlust fortgerissen. Die Übrigen spielten Karten; kurz, die Zeit verging und wir waren lustig. Weshalb sollten wir nicht? Wir schreiten ja fröhlich unserem Ziel entgegen, sind bereits auf dem halben Wege zwischen den Neusibirischen Inseln und Franz-Joseph-Land und keine Seele an Bord bezweifelt, dass wir das Ziel erreichen, um dessentwillen wir ausgezogen sind; es lebe daher die Fröhlichkeit!

      Oben aber hat die unendliche Stille der Polarnacht die Herrschaft. Der Mond, halb voll, scheint auf das Eis herab, die Sterne erglänzen hell über uns und der südliche Wind streicht mit leichter Klage durch die Takelung.

      Freitag, 26. Oktober. Gestern Abend waren wir auf 81°3’ n.Br.

      Heute ist die »Fram« zwei Jahre alt. Allgemeiner Feiertag. Allgemeine Magenüberladung. Ich sagte beim Mittagsmahl: »Vor einem Jahr sind wir einstimmig der Ansicht gewesen, dass die ›Fram‹ ein gutes Schiff ist. Heute haben wir noch viel bessere Gründe für diese Überzeugung; denn sie bringt uns, wenn auch nicht gerade mit übermäßiger Schnelligkeit, so doch wohlbehalten und sicher weiter!« Wir tranken auf das Wohl der »Fram«.

      Ich sagte nicht zu viel. Hätte ich alles gesagt, was ich auf dem Herzen hatte, so würden meine Worte nicht so gemessen gewesen sein; denn, um die Wahrheit zu sagen: Wir alle lieben das Schiff so sehr, wie man unpersönliche Dinge nur zu lieben vermag. Und weshalb sollten wir sie nicht lieben? Keine Mutter kann ihren Jungen unter ihren Flügeln mehr Wärme und Sicherheit geben, als sie uns bietet; wir alle sind froh, wenn wir von draußen zu ihr zurückkehren, und wie oft hat mein Herz ihr nicht warm entgegengeschlagen, wenn ich weit fort war und ihre Masten über die ewige Schneedecke emporsteigen sah!

      Ich sitze allein in meiner Kabine und meine Gedanken gleiten über die verflossenen beiden Jahre zurück.

      Welcher Dämon ist es, der die Fäden unseres Lebens zusammenwebt, der uns täuscht und uns stets auf Wege hinausschickt, die wir nicht selbst gewählt haben, die wir nicht zu gehen wünschen? War es nur das Pflichtgefühl, das mich drängte? Oh nein! Ich war einfach ein Kind, das Abenteuer in unbekannten Gebieten suchte, das so lange davon träumte, bis es schließlich glaubte, es habe das Abenteuer wirklich gefunden.

      Und es ist mir in der Tat beschieden, dieses große Abenteuer des Eises: tief und rein wie das unendliche All, die schweigsame, sternblinkende Polarnacht, die Natur selbst in ihrer ganzen Tiefe, das Geheimnis des Lebens, der unaufhörliche Kreislauf des Weltalls, das Fest des Todes, ohne Leiden, ohne Not, ewig in sich selbst. Hier in der großen Nacht stehst du in deiner nackten Einfalt, von Angesicht zu Angesicht vor der Natur; du sitzt andächtig zu Füßen der Ewigkeit und lauschst und lernst Gott kennen, den Mittelpunkt des Alls. Alle Rätsel des Lebens scheinen dir klar zu werden und du verlachst dich selbst, dass du dich mit Grübeln verzehrt hast; es ist alles so klein, so unaussprechlich klein ...

      Mittwoch, 14. November. Wunderbar sind die Schneeschuhfahrten durch die schweigsame Natur. Die vom Mondlicht übergossenen Eisfelder dehnen sich nach allen Richtungen aus. Hier und dort dunkle, kalte Schlagschatten der Eishügel. In der äußersten Ferne bezeichnet eine dunkle Linie den von dem zusammengeschobenen Eis gebildeten Horizont, über dem ein silbrig schimmernder Dunst lagert. Über allem wölbt sich der unbegrenzte, tiefblaue, sternenbesäte Himmel, an dem der Vollmond durch den Äther segelt.

      Aber im Süden liegt tief unten das Tageslicht, ein Widerschein der Sonne, dunkel, rot glühend, und höher hinauf ein klarer, gelber und blassgrüner Bogen, der sich in das Blau darüber verliert. Das Ganze verschmilzt zu einer Harmonie, einzigartig und unbeschreiblich.

      Ich wünsche mir die Gabe, diese Natur in Musik zu übertragen; mächtige und doch schlichte Akkorde müssten es sein, die ihr Wesen wiedergeben könnten!

      Freitag, 16. November. Vormittags war ich mit Sverdrup auf Schneeschuhen im Mondlicht draußen. Wir unterhielten uns ernstlich über die Aussichten unserer Drift und der für das Frühjahr geplanten Expedition über Eis nach Norden.

      Ich habe viel über den Kurs nachgedacht, den wir einschlagen müssten für den Fall, dass uns die Drift bis zum März nicht so weit nördlich bringt, wie ich erwarte. Je mehr ich darüber nachsinne, desto fester rede ich mir ein, dass sich die Sache machen lässt.

      Denn wenn es richtig ist, von 85° aus aufzubrechen, so kann es nicht weniger richtig sein, von 82° oder 83° aus loszugehen. In beiden Fällen würden wir nördlicher kommen als sonst möglich. Wenn wir den Pol selbst nicht erreichen, müssen wir eben umkehren. Um es zu wiederholen: Es kommt nicht darauf an, genau den Punkt zu gewinnen, sondern die unbekannten Gebiete des Polarmeeres zu erforschen, mögen sie dem Pol näher oder ferner liegen. Ich habe das schon vor unserer Abfahrt gesagt und muss es beständig im Gedächtnis behalten.

      Sicher sind während der weiteren Drift des Schiffes an Bord viele wichtige Beobachtungen zu machen. Diese Arbeiten liegen in so guten Händen, dass zwei von unserer Schar das Schiff ohne Schaden für die Güte und Vollständigkeit der Registrierungen verlassen können. Zweifellos werden die Beobachtungen, die wir weiter nördlich vornehmen werden, nicht weniger wertvoll sein als diese Bordnotierungen. Bis jetzt ist es also durchaus wünschenswert, dass wir aufbrechen.

      Welches ist die beste Zeit zum Aufbruch? Die beste und die einzige Jahreszeit für ein solches Wagnis ist das Frühjahr, spätestens der März.

      Und wie sind die Aussichten für unser Durchkommen?

      Die Entfernung von dem gedachten Abgangspunkt nach Kap Fligely auf dem nächsten bekannten Land schätze ich auf 750 Kilometer, also nicht viel mehr als die Strecke, die wir in Grönland zurückgelegt haben; sie würde auf diesem Eis leichte Arbeit fordern. Hat man erst einmal die Küste erreicht, dann wird es einem vernünftigen Menschen sicherlich gelingen, durch die Jagd auf großes oder kleines Wild, Bären oder Sandhüpfer, sein Leben zu fristen.

      Wir können uns also stets nach Kap Fligely oder dem nördlich davon liegenden Petermann-Land wenden, falls unsere Lage unhaltbar wird. Selbstverständlich wird die Entfernung sich vergrößern, je weiter wir nach Norden vordringen; an keinem Punkt zwischen hier und dem Pol ist sie aber größer, als wir sie mithilfe der Hunde bewältigen können und werden.

      Daher ist eine »Rückzugslinie« gesichert, obwohl manche Leute behauptet haben, dass eine öde Küste, an der man die Lebensmittel erst zusammensuchen muss, ehe man sie verzehren kann, ein schlechter Zufluchtsort für Hungernde ist. In Wirklichkeit ist das nur ein Vorteil; denn ein Zufluchtsort soll nicht allzu verlockend sein. Für Männer, die vorwärtsdringen wollen, ist eine »Rückzugslinie« wahrlich eine erbärmliche Erfindung, ein ewiger Anreiz zurückzublicken, während sie immer nur vorwärtsschauen sollten.

      Nun zur Expedition selbst. Sie wird aus 28 Hunden, 2 Männern und 1050 Kilo Proviant und Ausrüstungsgegenständen bestehen. Die Entfernung vom 83. Grad bis zum Pol beträgt 420 Seemeilen, 780 Kilometer. Ist es zu viel, wenn ich rechne, dass wir diese Strecke in 50 Tagen zurücklegen?

      Ich weiß natürlich nicht, ob die Hunde ausdauern werden; aber dass sie, wenn zwei Männer helfen, mit 37½ Kilo in den ersten Tagen täglich 8½ Seemeilen, also 15 Kilometer, zurücklegen, klingt ganz vernünftig, selbst wenn es keine sehr guten Tiere sind.

      Es ist also kaum eine leichtsinnige Rechnung, immer vorausgesetzt, dass das Eis so ist wie hier, und es ist kein Grund vorhanden, weshalb es nicht so sein sollte. Es bessert sich in der Tat beständig, je weiter wir nach Norden gelangen, und es bessert sich mit jedem Tag, den wir dem Frühling näher kommen.

      In 50 Tagen müssten wir also den Pol erreichen. In Grönland haben wir auf dem Inlandeis in einer Höhe von mehr als 2500 Metern, ohne Hunde und mit mangelhaftem Proviant, 300 Seemeilen, 550 Kilometer, in 65 Tagen gemacht und hätten