und der Gesamtheit trotzig entgegengesetzten Interessensphären entwickeln, trat gar bald ein und enthüllte sich als ein nationales Unglück. Um das Jahr 1200 war ganz Deutschland der Schauplatz aufreibender egoistischer Kämpfe und eines Faustrechts, das jeden Besitz und jede friedliche Arbeit gefährdete. Um ihren Handel zu schützen, auf welchem allein der Wohlstand, ja die Existenz des Bürgertums beruhte, mußten die Städte zu Mitteln greifen, die sie auch als wehrhafte Macht in Achtung setzten, und nach und nach wurde jede Stadt, auch die nicht reichsfreie, zu einer Art von Republik. Da entstand nun die schönste und eigentümlichste Blüte der Volkskraft, ein beständiges inneres Wachstum bis in die Zeit der Reformation. Die großen Schwurgesellschaften übernahmen den Schutz des Privatlebens und ersetzten so den Staat, alle einzelnen traten in Genossenschaften zusammen, und diese wieder standen durch Bünde gegeneinander.
Drohende Gefahr macht Wachsamkeit zur ersten Tugend. Ordnung muß die Vielzahl ersetzen, Zucht ist das Gebot, das die Freiheit fördert. Der Mann ist König in seinem Haus, Diener in brüderlichen Verbänden. Nur Arbeit verleiht Würde, nur Bewährung einen Vorrang, und ohne Hingebung an eine Sache wird der Geist für nichts geachtet. Wenn aber der Geist sich zur Sachlichkeit gesellt, entsteht die Idee, die das Individuum formt und das Gemeinwesen entwicklungsfähig macht. Welche Wege auch immer der Ritter, der Junker, der Gutsherr, der Bauer einschlug, die Zukunft der Nation lag in den Händen des Bürgers.
Fast jede Stadt hatte etwas trotzig Ernstes, ja Finsteres; ihre Häuser drängten sich wie Männer, die Achsel an Achsel stehen, so dicht zusammen, daß für ein Blumenbeet der Raum nicht blieb. Die spitzgiebeligen Dächer erschienen als Wahrzeichen der zur Höhe gedrängten Kraft, die engen Gassen gaben das Gefühl der Umschlossenheit, und alles Schmuckwerk wuchs gleichsam aus der Not: die Zierlichkeit massiver Gitter, die geschwungenen Steinquadern unerschütterlicher Brücken, die Feinheit und zarte Gliederung erhabener Dome, deren ursprünglich fremde Formen dem deutschen Leben und Wesen immer mehr zu eigen wurden.
Während alle andern abendländischen Völker verhältnismäßig früh zur Bildung eines staatlichen Organismus gelangten, war dies bei den Deutschen erst im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts der Fall. Deutsche Zerrissenheit war das Merkwort, mit dem sich der Deutsche selbst in die Unabänderlichkeit eines Weltzustandes ergab. Dies ist eine Tatsache, deren Grund zu erforschen sich wohl lohnt.
Nach allem, was wir von dem Volk der Germanen wissen, scheint es, als ob ihr religiöses Leben durch den Eintritt in das Christentum eine bedeutende Störung erlitten, als ob eine natürliche Entfaltung ihrer religiösen Anlage ein andres Ergebnis gehabt hätte als das durch die Geschichte hervorgebrachte. Darauf läßt namentlich die immer wieder zutage tretende Abneigung der Deutschen gegen den Klerus, gegen das Papsttum und seine unumschränkte Gewalt schließen. Der Papst strebte nach Weltherrschaft; ein Weltimperium zu schaffen war auch der tiefe Wille der Deutschen; ist es nicht denkbar, daß die eingeborne Macht dieser Idee dadurch gebrochen worden ist, daß die Kaisergeschlechter der Salier, Franken und Schwaben eine Art Kompromiß schlossen, indem sie eine römische Weltherrschaft auf deutschem Boden gründen, die Nation in ein römisches Kaisertum verwandeln wollten? Es war dies eine poetische Idee und nicht eine politische, und darin liegt das Verhängnis, darin der Irrtum, der Stillstand, die Unfruchtbarkeit. Der Zug über die Alpen: das romantische Abenteuer; Italien, die zweite Heimat, Provinz des Lichtes und der Schönheit, der holde Traum, die Lockung der Jahrhunderte.
Immer wieder setzen die Kräfte an diesem Punkte an, immer wieder brechen sie hier. Es lebte im Volk ein unbeirrbarer, bis ins Unbewußte gedrungener Glaube, daß es die Herrenrolle in Europa wieder übernehmen werde, die nach alten Überlieferungen die Ahnen der Vorzeit innegehabt; aber diese Überzeugung kam stets nur in den Leistungen und Werken einzelner zum Ausdruck und entbehrte dann auch nicht der Schwermut und Klage; das Staatswesen schien davon unberührt zu bleiben. Während die Reformation, diese deutscheste Bewegung in der deutschen Geschichte, die langersehnte geistige Befreiung schafft, findet der Staat im Kaiserhaus selbst einen Feind, der ihn beständig an Rom und an die Romanen verrät, und die Hoffnung der Freien und Befreiten wird durch den Dreißigjährigen Krieg, das größte Unglück, von welchem je ein Volk getroffen wurde, erstickt. Langsam sammeln sich die Kräfte wieder; es ist ein erhabenes Zeugnis für die der Nation innewohnende Tüchtigkeit und Kraft, daß sie kaum eines Jahrhunderts bedarf, um zu einer Blüte der Bildung und des geistigen Lebens zu gelangen, wie sie die Geschichte keines andern Volkes kennt, eine Blüte allerdings, die nach Gustav Freytags tiefem Wort die wundergleiche Schöpfung einer Seele ohne Leib ist.
Erst mit dem Heraufkommen des preußischen Staates kündigt sich eine neue und verheißungsvolle Periode des nationalen Lebens an. Ein neues Lebensgesetz wird von den einzelnen ergriffen und bindet sie. Gleichsam gereinigt in der Glut geistiger Erlebnisse, vor einen reinen Spiegel hingestellt durch das Genie der Dichter, das Beispiel großer Feldherrn, großer Fürsten und im wahren Sinn protestantischer Volksfreunde, erkennen die Führer, erkennt das Volk die Notwendigkeit politischer Sammlung und finden den Weg, das Ideal praktisch zu verwirklichen. Alte Instinkte trotziger Selbständigkeit werden niedergezwungen und dem Allgemeinen dienstbar gemacht, schädliches Fremdes wird ausgeschieden, nützlich und tüchtig Fremdes angeschmolzen.
Ziethen, |
nach einem Stich von Townley. |
In preußischer Zucht und Schule wächst das neue Deutschland zur Erkenntnis und zur Erfüllung seiner Aufgabe heran. Dort vollzieht sich die Sonderung, die Wandlung, der Zusammenschluß. Ein König, dessen unerschütterliche Energie im Bewahren, Sammeln und Vorbereiten ihn zum Werkzeug des Schicksals und zum wahren Zimmermann der Fundamente macht, gibt aus scheinbar bürgerlicher Enge das ungeheure Wort von der Suveränität, die er als einen rocher de bronze statuiere, und ein Philosoph in ebenso scheinbarer bürgerlicher Enge formuliert den kategorischen Imperativ als Stützpunkt einer die ganze moderne Welt überwölbenden Moral- und Sittenlehre.
Friedrich der Große war dann der Gestalter, wenn auch nicht der Vollender, die Verkörperung wesentlicher politischer und organisatorischer Eigenschaften, mit denen die neue Zeit ihre Arbeit beginnen konnte. Vielleicht war ihm am Ende seiner unvergleichlichen Laufbahn noch nicht einmal bewußt, wie sehr er Bürger war, indem er König war. Und da seine Taten ihn zum Helden machten, schuf er eben dadurch, daß er König und Bürger zugleich war, einen neuen Begriff des Heroischen, der durch seine Einfachheit und Menschlichkeit vorbildlich wurde. In ihm hat das deutsche Gesicht seine krönende Gültigkeit erhalten und seinen beredtesten Ausdruck.
Das deutsche Gesicht! Es schwebt mir Christoph Ambergers Bildnis eines Augsburger Patriziers vor, und Holbeins Bildnis des Bürgermeisters Meyer, und Lukas Cranachs Bildnis eines alten Mannes; ich denke an Luthers Gesicht, an Keplers Gesicht, an Scharnhorsts und Nettelbecks Gesicht, an Sebastian Bachs und an Moltkes Gesicht; es sind immer dieselben Züge wie die von Brüdern und Gefährten in der Reihe der wechselnden Geschlechter.
Sie wissen den Tod, ohne ihn zu sehen, sie spüren ihn, ohne ihn zu fürchten. Wie der Tod innerstes Gefühl wird, ist in dem Dürerschen Porträt des Patriziers Oswald Grell über alle Beschreibung wahr ausgedrückt, neben einem Antlitz von feierlich ernster Versunkenheit ist eine Landschaft mit zarten Bäumen hingesetzt wie die Vision einer höheren Welt.
Was macht ihr Auge so schön, so merkwürdig? Ist es der traumvolle Blick, der dennoch im Lichte badet, die Güte ohne Weichheit, die Strenge ohne Härte? Oder das Wissen um menschliche Dinge, um die deutsche Not, die Menschennot? Es wohnt ein Horchen in ihm, wie durch Stimmen aus der Überwelt erzeugt, ein ungewisser Schimmer, der auf Vertrautheit mit den letzten Entscheidungen des Schicksals deutet. Im Schluß der Lippen liegt ein bewältigter Zorn, der sich bald in Trauer wenden mag, oder eine Stille, die die Resignation trotzig ablehnt; die Nase ersteht aus Gruben, die von Seelenleiden ausgehöhlt sind, und um die Schläfen zuckt es wie Nachgewitter von Leidenschaften, die gegen die Mitte der Stirne hin sich in einen See ruhiger und reiner Gedanken auflösen.
Dem Deutschen ward verliehen, die Dinge zu sehen und durch die Dinge hindurch sich in ein Verhältnis