Hildegard Nibel

Reanimation der Arbeitsmotivation


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wird, der Sie sich unterwerfen müssen, wenn Sie erfolgreich sein wollen! Verwenden Sie das Buch als Steinbruch, wo Sie umherschlendern und sich das mitnehmen, was Ihnen gefällt, zu Ihren persönlichen Vorlieben und Stärken passt und den Rahmenbedingungen, unter denen Sie arbeiten und leben.

      Dieser Leitfaden zur Früherkennung von gesundheitsgefährdeten Mitarbeitenden richtet sich ebenso an Führungskräfte wie an Personalverantwortliche auf allen Stufen der Hierarchie in einer Organisation und soll allen Beteiligten helfen, eine nicht immer einfache Situation möglichst einfach und gut zusammen zu meistern. Sie sollen Hinweise dafür finden, wo und wann ein genaues Hinschauen, Nachfragen und vielleicht sogar entsprechendes Handeln angezeigt ist.

      Dieser Leitfaden für den Umgang mit krankheitsgefährdeten Mitarbeitenden bezieht sich bewusst nicht auf die Vielzahl rechtlicher Regelungen zum betrieblichen Eingliederungsmanagement in Sozialgesetzbüchern, Betriebs- oder Tarifvereinbarungen oder auf Finessen der medizinischen Diagnostik, mit deren Hilfe bestimmte Krankheitsbilder aus dem Leistungskatalog der Sozialversicherungen ausgeschlossen werden. Dieses kleine Handbuch soll helfen, gesundheitsgefährdete Mitarbeitende sehr früh aufgrund von Informationen zu erkennen, die in einer Organisation normalerweise vorhanden sind und deren Auffinden eigentlich auch keinen grossen zusätzlichen Aufwand verursachen sollte. Die intelligente Verknüpfung und Integration von harten und weichen Daten – Arbeits- und Fehlzeiten sowie Beobachtungsdaten aus dem Arbeitsalltag – kann unnötiges Leiden bei den Mitarbeitenden vermeiden, und im besten Fall deren Selbstheilungskräfte anregen - und nicht zuletzt unnötige Kosten sparen, sowohl betriebs- als auch volkswirtschaftliche.

      2 Gesundheitsgefährdungen erkennen:

       Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?

      Selten tritt eine schwere Erkrankung von einem Tag auf den anderen auf, wie vom heiteren Himmel herabgefallen. Meist sind Erkrankungen schon lange vorher zu erkennen, häufig aber nicht mit medizinischen Vorsorgeuntersuchungen, sondern mit einer systematischen Auswertung von Fehlzeitendaten und Beobachtungen.

      Auf gar keinen Fall soll dieser Leitfaden so verstanden werden, dass alle Mitarbeitenden,

       die Zeichen einer Gesundheitsgefährdung haben, entlassen werden. Das hatten die Berliner Verkehrsbetriebe vor 100 Jahren bereits in der Unfallprävention versucht. Einige Monate sind die Unfallzahlen bei den Strassenbahnfahrern tatsächlich gesunken. Interessanterweise entwickelten sich aber im Verlauf der Zeit bisher unauffällige Strassenbahnfahrer zu "Unfallfahrern", so dass nach zwei bis drei Jahren die Unfallzahlen wieder genauso hoch waren wie ursprünglich.

      Die hier beschriebenen Hinweise sollen dazu dienen genauer hinzuschauen, und bieten damit auch Chancen zur Verbesserung bisheriger betrieblicher Abläufe.

      Die Risikoindikatoren sind immer ein Zeichen dafür, dass die Qualifikation eines Mitarbeitenden nicht zu den Anforderungen der Aufgabe passt. Damit ergeben sich aber gleichzeitig auch Chancen, die Arbeit so zu gestalten, dass menschlichen Bedürfnisse mehr beachtet und gleichzeitig Betriebsabläufe verbessert werden.

      2.1 Bisherige Fehlzeiten

      Ein erhöhtes Risiko für längere Erkrankungen haben Mitarbeitende mit

       mehr als 3 Kurzabsenzen pro Jahr oder

       mehr als 2 Arztzeugnissen pro Jahr oder

       mehr als 3 Wochen krankheits- oder unfallbedingte Abwesenheiten am Arbeitsplatz.

      Wie so häufig in der Medizin sind diese Erkenntnisse nicht das Ergebnis gezielter Experimente oder Studien, sondern eher ein Zufallsbefund. Ursprüngliches Ziel dieser Whitehall-Studien Ende der 70-er Jahre des letzten Jahrhunderts in Grossbritannien war es, im Rahmen einer Langzeitstudie die Risikofaktoren für Herz-Kreislauferkrankungen zu ermitteln. Dafür wurden eine Vielzahl medizinischer und psychologischer Variablen erhoben, von der Familiengeschichte, der Herzfrequenz, dem Blutdruck und den Stresshormonen über psychologische Variablen wie Arbeitszufriedenheit und Lebensstile. Die Analyse der Daten konnte kaum eine der ursprünglichen wissenschaftlichen Annahmen bestätigen. Weder gab es geradlinige Beziehungen zwischen Risikofaktoren wie Rauchen, Übergewicht und Salz- oder Alkoholkonsum, noch eindeutige Zusammenhänge zwischen medizinischen Messgrössen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

      Die einzig sichere Vorhersage von längeren Fehlzeiten am Arbeitsplatz ist aufgrund der bisherigen Fehlzeiten möglich: Je mehr Abwesenheiten jemand hat und je länger diese dauern, umso höher ist auch im kommenden Jahr die Wahrscheinlichkeit krankheits- oder unfallbedingter Abwesenheiten bei der Arbeit.

      Auch die Analyse der Arztzeugnisse ergab Überraschungen. Egal ob jemand wegen der immer gleichen Diagnose häufig am Arbeitsplatz fehlt, oder die Diagnose jedes Mal eine andere ist: Mehr als zwei Arztzeugnisse pro Jahr zeigen eine Suche nach Unterstützung an. Möglicherweise ist die benötigte oder gewünschte Unterstützung allerdings eine andere als die, die das Gesundheitssystem bieten kann. Hanne Seemann, eine psychologische Schmerztherapeutin, erklärt es damit, dass der Körper Symptome entwickelt, um uns darauf hinzuweisen, dass etwas in unserem Leben fehlt. Bekämpfen wir nun diese Symptome mit Medikamenten oder medizinischen Prozeduren, entwickelt unser Körper ein anderes Symptom, in der Hoffnung, weniger unangenehme Nebenwirkungen erleiden zu müssen und besser wahrgenommen zu werden (vgl. auch Kivimäki, 2005; Wunnerlich & Nibel,1998).

      Neubach (2006) konnte zeigen, dass sogenannte "Gefühlsarbeit" ebenfalls Einfluss auf die Fehlzeiten hat. Müssen Mitarbeitende positive Gefühle gegenüber Gästen oder PatientInnen zeigen, die sie nicht wirklich empfinden, so vervielfachen sich ihre Krankheitsabsenzen. Beispiele für diese Art emotionaler Belastung bei der Arbeit ergeben sich für das Servicepersonal in Luxushotels, für die Pflegekräfte in Privatabteilungen von Krankenhäusern oder für die Flugbegleiterinnen in der Businessklasse in einem Flugzeug, die sich immer freundlich und gut gelaunt zeigen sollen – auch wenn sie sich nicht an jedem Arbeitstag so fühlen (vgl. auch Graeber 2018).

       Abb. 2 Emotionale Dissonanz führt zu deutlich erhöhten Absenzen (Neubach, 2006)

      Arbeitgeber können mit einer zielgerichteten Auswertung von Fehlzeitenstatistiken und Befindlichkeiten Langzeitabsenzen und Arbeitsunfähigkeiten vorhersagen. Werden Erkrankungen von den Betroffenen als so plötzlich erlebt, liegt das oft auch daran, dass sie vorhandene seelische oder körperliche Missempfindungen nicht ernst genommen haben, jedenfalls nicht ernst genug, um ernsthafte Veränderungen ihres Lebensstils einzuleiten.

      Bemerkenswerterweise zeigt unsere Analyse über fünf Jahre hinweg in einem Akutspital von 66 Mitarbeitenden mit problematischen Fehlzeiten in ersten Jahr der Analyse, dass die allermeisten in den Arbeitsprozess zurückkehren, wenn der Arbeitgeber ihnen die Möglichkeit dazu gibt.

      In den darauffolgenden Jahren weist die Hälfte dieser Mitarbeitenden keine auffälligen Fehlzeiten mehr auf. Allerdings verlassen im ersten Jahr nach der längeren Fehlzeit ca. 10 % dieser Mitarbeitenden ihren Arbeitgeber. Dieser Anteil ist nach weiteren drei Jahren auf 42 % angestiegen. Man kann nur vermuten, dass sie sich nach einer gesundheitlichen Krise eine Tätigkeit suchen, die besser zu ihren Erwartungen, Fähigkeiten und Interessen passt. Nur 15 % der Mitarbeitenden mit problematischem Absenzverhalten zeigen auch nach vier Jahren noch auffällige Absenzen.

       Abb 3: Vorhersage von Langzeitabsenzen.

      Aber nicht nur jene Mitarbeitenden mit häufigen oder längeren Fehlzeiten sollten im Auge behalten werden. Auch in der Gruppe der Mitarbeitenden ohne Absenzen gibt es eine Untergruppe Mitarbeitender, die nie bei der Arbeit fehlen. Vielleicht aufgrund eines falsch verstanden Pflichtgefühls oder der Angst, dass Krankheit als Schwäche oder mangelnde Leistungsbereitschaft gedeutet wird,