Christian Mader

Vermisst


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Umgebung des Treffpunkts postiert. Dieser befand sich nächst eines Gehsteigs und war von diesem durch einen kleinen, leicht übersteigbaren Gartenzaun getrennt. Es waren noch etliche Menschen unterwegs. Gegen 22 Uhr 15 schlenderte eine kleine, dunkelhaarige, etwas mollige Gestalt den Gehsteig entlang, ging aber mehrmals vor dem Treffpunkt auf und ab. Dann sprang die Person, bei der es sich offensichtlich um Klara handeln musste, ganz plötzlich über den Gartenzaun, während ich aus meinem Versteck kam und ihr nachlief. Ich versuchte, sie am Arm zu packen. Rainer blieb etwas zurück, um dem Mädchen, wenn erforderlich, den Rückweg abzuschneiden. Als ich zugriff, riss sich die Person los und versuchte tatsächlich zu flüchten. Sie sprang wieder über den Gartenzaun, stieß Rainer mit unglaublicher Wucht zur Seite und lief den Gehsteig entlang. Ich war schnell hinterher und bekam Klara neuerlich am Arm zu packen. Sie wehrte sich aus Leibeskräften und erweckte bereits erhebliches Aufsehen: Passanten kamen herbei, fragten mich, warum ich dieses Mädchen festhalten würde und drohten, die Polizei zu rufen. Mittlerweile kam auch Rainer angespurtet und gab den Passanten zu verstehen, dass wir selbst von der Polizei waren.

      Unglaublich, welche Körperkraft dieses Mädchen entwickelte. Erst mit Rainers Hilfe gelang es mir endlich, die Person unter Kontrolle zu bringen und sie zu identifizieren.

      Den Rest erzählte mir mein Kollege persönlich: »Als wir ihr dann ins Gesicht sahen, staunten wir nicht schlecht. Klara ist nämlich kein minderjähriges Mädchen, sondern eine erwachsene Frau von 45 Jahren!«

      Wieder einmal hat das Leben eine ganz besondere Geschichte geschrieben: Das Motiv für diese »Komödie«, die Klara Dobinger gespielt hatte, hatte sich aus ihrer seelischen Vereinsamung ergeben. Als Ehefrau eines sich in einer sehr guten geschäftlichen Position befindlichen Mannes fehlte es Klara an Zuwendung und Liebe. Und die fand sie bei den Menschen vom Kindertelefon, die ihr bei ihren Anrufen Aufmerksamkeit schenkten und ihr ein wenig Wärme vermittelten. Besonders Herrn Weber hatte die Frau in ihr Herz geschlossen, in dem sie, wie sie uns erzählte, in ihrer Fantasie ganz romantisch den heldenhaften Retter sah, der sie aus ihrer Einsamkeit erlösen würde.

      Wenn ihr Mann zur Arbeit fuhr und Klara sich wieder einmal besonders alleine gelassen vorkam, rief sie beim Kindertelefon an. Sie fühlte sich zurückversetzt in ihre Teenagerzeit, als ihre Eltern in die USA auswanderten und sie bei ihrer strengen und lieblosen Tante zurückließen.

      Die 45-Jährige hat sich kurze Zeit später freiwillig einer Psychotherapie unterzogen, strafrechtliche Konsequenzen gab es für die einsame Frau keine.

      Thomas – Ein Grab im Nirgendwo

      Der 12-jährige, sanfte Junge, der stets sehr in sich gekehrt auftrat, lächelt scheu, als ihn sein großer Freund Jürgen, 19 Jahre alt, kumpelhaft in die Seite boxt und fröhlich verkündet: »Ich hab ein supergeiles neues Computerspiel, das muss ich dir unbedingt zeigen.« »Aber ich muss doch gleich ins Heim«, verkündet Thomas traurig und versucht, sein Interesse an dem Spiel zu unterdrücken und jeden Überredungsversuch seines Freundes, die Zeit zu überziehen, abzublocken. Er hat Angst vor den Konsequenzen, wenn er nicht rechtzeitig in die Unterbringungsstätte zurückkehrt. »Ach was, kleiner Bruder«, grinst Jürgen, »stell dich nicht so an. Wir zocken eine Runde und dann begleite ich dich nach Hause.« Thomas gibt nach, als ihn Jürgen »kleiner Bruder« nennt. Diese Bezeichnung gibt ihm das Gefühl, eine Familie zu haben.

      Er folgt seinem Freund in die Wohnung, in der dieser mit seiner Sozialarbeiterin lebt – eine nette Frau, die sich auch manchmal um den 12-Jährigen kümmert. Thomas hat schon sehr viel mitgemacht in seinem jungen Leben und ist froh, liebe Menschen zu kennen, die ihn offensichtlich auch mögen. »Gib Gas«, drängt der 19-Jährige, »das wird lustig!« Bei der Wohnung angekommen, schubst Jürgen den Jungen plötzlich ungewohnt unsanft durch die Tür, bevor auch er eintritt und hinter sich zusperrt. »Was ist das für ein Spiel?«, fragt der 12-Jährige, ängstlich geworden, nach. »Ein supergeiles«, antwortet sein Freund, der jetzt wieder lieb lächelt. Es tut dem jungen Mann bereits leid, dass er Thomas angerempelt hat. So legt er ihm den Arm um die Schultern und schiebt ihn sachte in Richtung der Büroecke, in der sich sein Computer befindet.

      »Ich habe Thomas Klinger in meiner Gewalt und fordere 50 000 Euro. Sonst könnt ihr ihn von der MA 48 als Leiche abholen«, stand in einer E-Mail, die im Jahr 2002 in dem Heim einging, in dem der damals 12-jährige Vollwaise untergebracht war. Die Direktion erstattete sofort Anzeige. Meine Kollegen leiteten alle notwendigen Schritte ein und begannen mit der Suche nach Thomas.

      Zuerst nahmen die Ermittler Jürgen P. unter die Lupe, der am Tag des Verschwindens des 12-Jährigen mit ihm zusammen gewesen war. Die BeamtInnen erfuhren, dass der junge Mann aus desolaten familiären Verhältnissen stammte und bereits mit zehn Jahren von einem älteren Mann missbraucht worden war. Danach wurde er zur Großmutter abgeschoben und landete schließlich, als diese nicht mehr mit dem Kind fertigwurde, in verschiedenen Heimen – unter anderem in dem, in dem er später Thomas kennenlernte.

      Zum Zeitpunkt des Verschwindens von Thomas Klinger am 29. November 2002 wussten die Fahnder nur, dass Jürgen P. seinen »kleinen Bruder«, wie er den 12-Jährigen nannte, von einer Therapiestunde in der Wiener Innenstadt abgeholt hatte, wo der Bub wegen sexuellen Missbrauchs behandelt wurde. Was danach geschah, lag im Dunkeln.

      Meine Kollegen befragten Jürgen P. mehrmals, doch der gab wiederholt zu Protokoll, dass er seinen Kumpel nach dem Spielen am Computer nach Hause begleitet hatte. Doch der Junge war nie in seinem Zimmer im Heim angekommen.

      Konnte man der Aussage von Jürgen P. trauen?

      Es wurden weiter Informationen gesammelt und penibel jeder noch so kleinen Spur nachgegangen, um Hinweise auf Thomas’ Verbleib zu erlangen. Niemand glaubte daran, dass er freiwillig nicht in seine Unterbringungsstätte zurückgekehrt und weggelaufen war.

      Ein paar Tage später gestand Jürgen P. bei einem weiteren Verhör Folgendes:

      Die Freunde begaben sich nach der Therapiestunde in die Wohnung der für Jürgen zuständigen Sozialarbeiterin in Wien-Penzing, wo der Bursche in einem der Zimmer untergebracht war. Jürgen lockte Thomas mit dem Versprechen, ihm ein neues Computerspiel zu zeigen, doch dazu kam es nicht – nachdem sich die Türe hinter dem 12-Jährigen geschlossen hatte, fiel Jürgen über den Jungen her, folterte ihn mit einem Elektroschocker und missbrauchte ihn danach mehrmals sexuell. Thomas wehrte sich nicht, er ließ die Attacken des jungen Mannes, den er auch in diesem Moment noch für seinen Freund hielt, hilflos über sich ergehen und drohte auch nicht damit, zur Polizei zu gehen. Es schien, als hätte der 12-Jährige sich in sein Schicksal gefügt, als wollte er einfach keine Schwierigkeiten haben oder anderen welche bereiten.

      Doch was geschah dann, als dem Älteren klar wurde, was er getan hatte? Nämlich dasselbe, was ihm selbst und auch Thomas schon einmal zugestoßen war! Und wie kam es in der Folge zu jener Lösegelderpressung, die am Tag darauf per Mail in dem Heim einging? Jürgen P. wollte damit nichts zu tun haben und schwieg dazu beharrlich.

      Doch nur wenige Wochen später lagen Ermittlungsergebnisse vor, die nur einen Schluss zuließen. Danach hatten meine Kollegen endlich Gewissheit.

      Wie sich herausstellte, brach Jürgen nach der Tat in Panik aus und befürchtete, dass Thomas doch irgendwann einmal alles ausplaudern würde. Er war bereits 25 Monate in Haft gesessen und wollte unter keinen Umständen ins Gefängnis zurück.

      »Ich habe Angst gekriegt und war außerdem auch total wütend und irgendwie aufgedreht. Da habe ich ein Messer genommen und ihn wie im Blackout erstochen …«, sagte der Angeklagte später in der Verhandlung vor dem Richter aus.

      Zuerst hatte er seinen Freund allerdings in den Schwitzkasten genommen, um ihn zu erwürgen. »Er hat geschrien, ich habe ihn weiter gewürgt«, so der 19-jährige Sexualtäter, »doch er ist nicht krepiert. Da hab ich mir das Messer geschnappt und es in seinen Körper gerammt, bis Thomas tot war.«

      Nach der Tat hat Jürgen P. sein Opfer zerstückelt, die Leichenteile in zwei schwarze Mistsäcke verpackt und im Müllcontainer vor dem Haus entsorgt. Am nächsten Morgen bedeckte der Mörder die Bündel noch sicherheitshalber mit Abfall, damit sie nicht sofort entdeckt würden. Der junge Mann wusste, dass die