der Nihaichi Kata und ging dann im Geiste einen Messerkampf durch.
Die Übungen brachten urplötzlich Erinnerungen vom Kampf im Park zurück. Der Schmerz, die Einsamkeit und die Verlustangst kehrten zurück, aber sie schob die Gedanken beiseite. Sie hatte mehr als genug düstere Momente in ihren langen Nächten in San Francisco gehabt.
Die Straßenbahn kam schließlich in der Innenstadt zum Stehen. Sie musste ihre Augen gegen die gleißende Sonne abschirmen, da sie Portlands hartnäckige Wolkendecke gewohnt war. Sie hängte sich ihren Rucksack wieder über die Schultern und begann nach einer Unterkunft zu suchen. Sie wollte etwas Günstiges, mit einem nahe gelegenen Hochgeschwindigkeitsnetzzugang und möglichst weit weg von den Hauptgeschäftsstraßen.
In der Menge fühlte sie sich sicher, einmal mehr anonym und unsichtbar. Sie sah nach der Uhrzeit – früher Nachmittag an einem normalen Arbeitstag. Die Leute würden beschäftigt sein. Sie schlenderte die Straße hinunter, sah sich die Kleidung der Passanten an. Sie ignorierte die mit den Geschäftsanzügen, die modisch Gekleideten und die Lässigen und suchte nach den schlecht Angezogenen, den Prostituierten und den Obdachlosen. Als sie jemanden entdeckte, auf den diese Beschreibung grob passte, folgte sie ihm. Sie suchte eine Umgebung, in der Anonymität und Verschwiegenheit eine Selbstverständlichkeit waren. Die Anzeichen für das, was sie suchte, mehrten sich, bis sie sich jenseits der First Street wiederfand. Was einmal ein vornehmes, asiatisches Viertel gewesen war, wurde jetzt von zugenagelten Ladenfronten, Drogenabhängigen in Seitengassen und einer langen Menschenschlange vor einer Reisküche dominiert.
Eine Prostituierte in einem fast nicht existenten Rock und auf absurd hohen Absätzen sprach sie an. »Besuch im Slum, Herzchen? Ich habe, was du brauchst.«
Cat versank etwas tiefer in ihrem Kapuzenshirt und ging einfach weiter. Die Prostituierte hatte recht. Sie wollte zwischen diesen Leuten untertauchen, aber selbst nach zwei Wochen sah sie, zumindest für diese Gegend, noch zu sauber aus. An der Ecke Rose/First hielt sie neben einem Schild an, das Zimmer auf Wochenbasis anbot. Unter der abblätternden Farbe und trotz der verbarrikadierten Fenster im Erdgeschoss sah das Wohngebäude aus, als wäre es einmal schick gewesen. Jetzt kosteten die Zimmer weniger als ein Imbiss. Cat ging ihre Finanzen im Kopf durch und errechnete, dass sie mit den Cash-Karten in ihrem Stiefel für eine Woche bleiben konnte, einschließlich der Ausgaben für Lebensmittel. Sie konnte sich nach Arbeit umsehen und würde eine echte Unterkunft haben, statt in den unbewohnten Appartements fremder Leute zu kampieren.
Cat folgte dem handgemalten Holzschild zu dem, das hier wohl als Empfang durchging. Ein zahnloser Mann, von dessen kahlem Schädel ein paar einzelne Haare abstanden, sah sie mit zusammengekniffenen Augen über einen altmodischen E-Book Reader hinweg an. Er hatte also kein Implantat.
»Willst du eins für 'ne Stunde«, fragte er.
Cat wollte gar nicht wissen, was er vermutete, wie sie die eine Stunde auf dem Zimmer verbringen wollte. »Ich möchte das Zimmer für eine Woche.« Nach einer Pause sagte sie: »Eines mit Zugang zur Feuertreppe.«
Er gab erstickte Laute von sich, die sie nach und nach als Lachen erkannte. »Feuertreppe kostet zweihundert extra. Willst du es?«
Sie schüttelte langsam den Kopf. Dann blieb ihr nichts zum Leben übrig.
»Ich geb dir eins im dritten Stock. Wenn es da brennt, springst du einfach.« Er lachte wieder atemlos.
Cat überreichte ihm einen Großteil ihrer Cash-Karten. Ihr Stiefel fühlte sich jetzt leer an.
Der alte Mann gab ihr einen Digitalschlüssel an einer Kette.
»Keine ID-Schlösser?«, fragte sie.
Er lachte wieder. »Raum 317c.« Er zeigte auf den Aufzug am anderen Ende der Halle.
Im dritten Stock versuchte sie Zimmer 317c zu finden, verlor sich aber in einem Labyrinth verschiedener, nicht zueinander passender Türen. Die ursprünglichen Appartements waren in kleinere Zimmer aufgeteilt worden. Schließlich fand sie die richtige Tür und betrat einen kleinen Schlafraum mit einem winzigen Badezimmer. Sie ging zum Fenster und versuchte es zu öffnen, aber es rührte sich nicht. Vier Schrauben waren der Grund. Sie sah auf die Straße hinunter. Sie hatte sowieso nicht vor, drei Stockwerke in die Tiefe zu springen.
Jetzt, da sie ein Zimmer hatte, wurde es Zeit, sich nach einem Job umzusehen. Sie starrte nachdenklich auf ihren Rucksack. Ohne ihn würde sie weniger wie ein Vagabund aussehen. Für die meisten Menschen enthielt er so gut wie nichts: nur Kleidung, eine Zahnbürste und ein paar Energieriegel. Aber er war alles, was sie hatte. Allein bei dem Gedanken, ihn zurückzulassen, zog sich ihr der Magen zusammen. Sie streichelte den Rucksack mit der Hand und schluckte hart. Dann wandte sie sich zur Tür und ließ ihn auf dem Bett zurück.
Kapitel 13
»Hallo, Sonja!«, sagte Slim.
Sonja versuchte sich zu befreien, aber ohne jeden Erfolg. Slim hatte ihre Arme, die Beine und ihren Oberkörper mit Panzerklebeband an den Stuhl gefesselt. Sie kämpfte dagegen an, aber es gab nicht nach. Als sie erkannte, dass ihre Bemühungen nutzlos waren, gab sie auf und starrte die beiden Männer an. »Ich muss wohl nahe dran gewesen sein.«
»Gut erkannt, Sonja«, antwortete Slim. »Das warst du wirklich. Deshalb brauchen wir jetzt etwas von dir, nämlich deine Ermittlungsberichte.« Slim war nur eine Silhouette im warmen Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel. »Wir würden gerne wissen, was du weißt.«
Sonja sagte nichts, starrte nur an ihm vorbei. »Lasst mich gehen.«
Slim beugte sich zu ihr hinab. »Warum sagst du es uns nicht einfach, Sonja? Das ist doch nicht so schwer. Ihr habt da ein paar Morde untersucht.« Er streichelte ihren Nacken. »Wir wissen schon, wer du bist. Was kann es da noch schaden, wenn du uns erzählst, was du weißt?«
Sie verzog das Gesicht und versuchte sich ihm zu entziehen. Um den Hals trug sie eine Kette mit einer Art Stammessymbol. Slim betrachtete sie und riss sie ihr herunter. »Nun sag schon. Wie habt ihr das mit den Morden herausgefunden?«
Sonja antwortete nicht.
Tony sah zu dem Aluminiumkasten auf dem Tisch. Gelbe Kontrollleuchten blinkten. Der Kasten würde jeden Versuch von ihr blockieren, sich mit dem Netz zu verbinden.
Slim schob die Halskette in seine Hosentasche. »Dreh sie herum«, befahl Slim und sah dabei aus dem Fenster.
Tony stapfte unwillig zu der Frau hinüber. Dafür hatte er nicht unterschrieben. Mit den Morden und der Extrahierung von Erinnerungen kam er klar. Es war besser, als sich mit Junkies herumzuschlagen, bei denen man nie sicher sein konnte, ob sie bezahlen oder einen abstechen wollten. Aber Folter war ihm zuwider. Irgendwo musste man eine Grenze ziehen. Seufzend legte er seine Hände auf die Lehnen des Stuhls und drehte ihn so, dass Sonja auf die gegenüberliegende Wand blickte. Der Stuhl drehte sich langsam auf zwei Beinen und Sonja keuchte, als der Rest der Sonderermittler in ihr Blickfeld geriet.
»Ihr verdammten Schweine«, schrie sie. Sie kämpfte wieder gegen das Klebeband. Ihr Kopf zuckte vor und zurück. Sie brachte dabei aber nur den Stuhl ins Wanken, bis Tony schließlich seine Hände auf ihre Schultern legte, um ein Umkippen zu verhindern.
Die Leichen der sieben anderen Mitglieder ihres Teams waren über die Hotelmöbel verteilt, lagen zu zweit oder zu dritt auf der Kommode und dem Kofferhalter. Sie waren starr, ihre Münder standen offen, hässlich im Tode. Am linken Ende des Raumes waren sie noch unversehrt, ohne irgendwelche sichtbaren Verletzungen. Aber als das Extraktionsgerät bei einem nach dem anderen versagt hatte, hatte Slim steigende Stufen physischer Folter angewandt, um an die notwendigen Informationen zu gelangen. Am hinteren Ende der Kommode saß ein junger blonder Mann, in sich zusammengesunken. Blutige Linien führten über seinen Schoß zu seinen fingerlosen Händen.
Slim wartete eine lange Minute, dann trat er wieder vor Sonja. Er packte ihr Haar und zog daran, zwang ihren Kopf zur Seite. »Ich will wissen, was du über die Morde weißt. Du bist doch schlauer als die da, oder etwa nicht? Ich will nur wissen, was sich in deinem hübschen, kleinen, verschlüsselten Gehirn befindet.«
Sonja