paar Minuten zwang sie sich, zur Vernunft zu kommen. Maggie würde sich um Einstein kümmern, bis Cat irgendwie und irgendwann wieder nach Hause gehen konnte. In der Zwischenzeit konnte sie sich keine Schwäche leisten, wenn sie überleben wollte. Was sie im Augenblick dringend brauchte, war Geld, um sich etwas zu Essen zu kaufen. Sie stand auf und lief weiter die Straße hinunter.
Ihr Neuralimplantat hatte eine öffentliche Kennung. Implantierte Personen zahlten per digitaler Autorisierung über ihre Kennung. Kinder und Nicht-Implantierte hatten Cash-Karten: kleine, quadratische Chipkarten, anonym. Cat hatte nie so eine besessen. Sie wusste aber, dass Tom sie benutzte, wenn er Drogen kaufte. Doch woher hatte er sie bekommen? Boten Bankautomaten sie an? Wenn sie von dort eine anforderte und dann versuchte, ihr Guthaben zu transferieren, würde die Polizei sie finden. Sie dachte einen Moment lang nach und fragte sich, ob ihre Tricks im Netz wohl auch bei einer Bank funktionieren würden.
Als sie aufsah, bemerkte sie, dass sie durch einen Slum lief. Auf dem Straßenschild stand Sand Hill Road. Riesige Gebäude waren mit Brettern vernagelt und von schweren, rostigen Eisenzäunen umgeben. Wenn es hier einmal Wohlstand gegeben hatte, dann war er schon lange verschwunden. Am nördlichen Ende der Straße stieg Rauch aus einem der eingezäunten Gelände auf und Essensgeruch wehte zu ihr herüber. Cat überquerte die Straße und spähte durch den Zaun. Sie konnte spielende Kinder hören, aber was auch immer sich auch dort befand, war gut verborgen. Vermutlich Obdachlose, die in dem verlassenen Bürokomplex lebten. Sie nahm an, dass Kleiner, Perkins, Caufield & Byers den Standort nicht länger benötigten, wer auch immer sie einmal gewesen waren.
Sie ging weiter. Orangenbäume wuchsen zwischen den Gebäuden. Hungriger denn je ging sie zu einem von ihnen hinüber, aber die Orangen waren nur kleine, grüne Bälle, weit davon entfernt, reif zu sein.
Nach einem weiteren Kilometer kam sie zu einem kleinen gelb weißen Gebäude. Eine handgeschriebene Tafel besagte, dass es sich hier um eine Bodega handelte. Ein Mann, wohl ein Mexikaner , verschwand im Inneren. Cat betrachtete die Ladenfront. Sie konnte das Essen drinnen sehen. Ihr Magen knurrte. Sie durchsuchte wieder ihre leeren Taschen. Ein handgeschriebenes Plakat im Fenster warb für Cash-Karten. Wenn sie doch nur …
Sie hockte sich unter einen Baum an den Rand des Parkplatzes. Vorsichtig schaltete sie ihr Implantat wieder ein, unterdrückte ihre ID und hielt es davon ab, sich automatisch mit dem Netz zu verbinden. Sie beobachtete das Gebäude.
Ihr Implantat verband sich mit dem lokalen Netzwerkknoten, filterte den verschlüsselten Datenverkehr heraus, glich die Datenströme an, bremste sie herunter und erzeugte eine visuelle Darstellung in ihrem Neokortex. Sie sah den Datenstrom der Bodega, den sie aus dem übrigen Netzwerk isoliert hatte sortierte den Teil mit der niedrigen Bandbreite heraus und wartete auf einen großen Brocken mit stärkerer Verschlüsselung. Und tatsächlich, ein größerer Datensatz wurde gesendet. Wenig später verließ der Mexikaner den Laden mit einer Tüte von Einkäufen.
Cat sah sich die Daten in ihrem Kopf von allen Seiten an, versuchte sie zu verstehen. Das musste die Zahlung des Mannes gewesen sein. Sie machte sich keine große Hoffnung, das Paket zu entschlüsseln, um hineinsehen zu können. Vermutlich konnte das niemand, abgesehen von einer Monster-KI mit Zehntausenden von Prozessoren. Wenn sie es schon nicht entschlüsseln konnte, dann könnte sie es aber vielleicht reproduzieren. Sie müsste dazu dieselben Dinge in der gleichen Menge wie der vorhergehende Kunde kaufen und dann den Zeitstempel zurücksetzen, sodass der Laden die Zahlung akzeptieren würde …
Vermutlich könnte sie das hinbekommen. Was sie noch brauchte, waren ein paar Kunden. Sie wartete. Der Straßenverkehr war träge und niemand kam. Ihr Magen knurrte wieder. Dann erschienen plötzlich zwei Personen zu Fuß und eine weitere in einem verbeulten Elektro-Kleinlaster. Sie erhob sich und ging zusammen mit ihnen in den Laden. Sie tat so, als würde sie sich die Waren ansehen, während sie ihre Augen wachsam auf die anderen Kunden gerichtet hatte. Der Besitzer stand hinter dem Tresen und beobachtete sie, aber sie ignorierte seine Blicke. Eine Frau ging nach hinten in den Laden, holte Bier und ein paar Nahrungsmittel. Ein Mann schenkte sich einen Kaffee ein. Die letzte Kundin stand vorne bei der Kasse. Sie nahm zwei Cash-Karten zu je fünfzig Dollar und reichte sie dem Inhaber.
Beim Anblick der Cash-Karten stand Cat reglos da und konzentrierte sich nur auf die Transaktion. Der Ladenbesitzer zog die Karten durch die Kasse. Daten strömten weiß durch Cats Gesichtsfeld und sie griff nach den Datenpaketen und synchronisierte den Informationsstrom mit dem exakten Zeitpunkt der Transaktion.
Als die Frau ging, näherte Cat sich der Kasse. Sie nahm zwei identische Cash-Karten und reichte sie dem Ladenbesitzer. Der sah sie misstrauisch an. Sie sagte nichts, konzentrierte sich nur auf die Vollständigkeit der Daten in ihrem Kopf. Er zog die Karten durch und deutete dann mit dem Kopf zum ID-Leser.
Sie konzentrierte sich auf das Netz, brachte die Kasse dazu, eine Zahlungsaufforderung zu schicken, überschrieb den Zeitstempel und wiederholte die verschlüsselten Datenpakete. An der Kasse ertönte eine Fehlermeldung.
»No es bueno. Tienes dinero?«, fragte der Ladenbesitzer kopfschüttelnd.
»Versuchen Sie es noch einmal«, antwortete Cat und nickte mit dem Kopf zur Kasse, die schweißnassen Hände unter der Ladentheke versteckt.
Der Inhaber grummelte etwas, drückte aber eine Taste. Der ID-Leser leuchtete abermals auf und Cat versuchte es ein zweites Mal, hielt den Zeitstempel und den Datenstrom perfekt synchron. Dieses Mal piepste die Kasse und der Inhaber schob die Karten zu ihr hinüber. »Gracias. Buen dia.« Sein Blick wechselte zum nächsten Kunden in der Schlange. Cat nahm die Karten mit zittrigen Händen und zwang sich dazu, langsam nach draußen zu gehen. Sie entfernte sich vom Laden, zitternd und unter Tränen.
»Tut mir leid, Mom«, brach es aus ihr heraus, als niemand sie hören konnte.
Sie stolperte eine Schotterstraße hinunter, die Cash-Karten fest in ihrer Faust. Sie hatte ihrer Mutter im Krankenhaus am Tag vor ihrem Tode versprochen, anständig zu bleiben. Sie hatte es wirklich versucht in einer Welt, in der keiner so recht wusste, was er mit sich anfangen sollte. Aber sie hatte sich trotzdem bemüht, ihr Versprechen zu halten. Doch innerhalb von 24 Stunden war ihr ganzes Leben komplett aus den Fugen geraten. Sie hatte drei Männer getötet und jetzt beklaute sie einen kleinen Ladenbesitzer. Sie kämpfte gegen den Brechreiz. Ihr Reptilienhirn trieb sie zur Flucht. Sie schaffte es noch 500 Meter weiter und sank dann schluchzend neben einem der Gebäude zu Boden.
In fötaler Haltung lag sie im Dreck und fühlte sich, als ob man ihr die Zukunft geraubt hätte. Sie hätte noch ewig so liegen können, aber ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen und überzeugte sie davon, dass die aktuelle Not wichtiger war als Gedanken an die Zukunft. Der Hunger zeichnete ein grimmiges Lächeln auf ihr Gesicht. Sie würde sich Essen besorgen. Wenigstens das würde sie hinkriegen. Sie raffte sich auf, steckte die hart verdienten Cash-Karten in die Tasche ihrer Jeans und ging die Straße hinunter, um ein anderes Geschäft zu finden.
Kapitel 11
Leon fuhr mit der U-Bahn zu seinem Treffen mit Mike. Er versuchte sich in Erinnerung zu rufen, was er über die Morde wusste, aber er war zu abgelenkt von den Protestlern, die den Waggon füllten. Sie wirkten agitiert und hielten ihre Tafeln und Schilder mit sichtlicher Anspannung hoch. Ein Mann im Anzug stand direkt vor Leon, gestikulierte mit den Händen. Auch er war einer von ihnen, er trug eine Anstecknadel, auf der stand: ›Jobs sind für Menschen da.‹ Leon starrte zur Wand und versuchte nichts zu tun, was ihre Aufmerksamkeit erregen könnte. Er erinnerte sich an Präsidentin Smiths Worte vor ein paar Tagen: »Die Anti-KI-Bewegung sieht dich und Mike als die Erfinder der KIs und damit als Grund für Arbeitslosigkeit und jedes denkbare soziale Problem, vom Drogenmissbrauch bis hin zu Kleinkriminalität. Für diese Leute seid ihr Staatsfeind Nummer Eins und Zwei.«
Als die U-Bahn die nächste Haltestelle erreichte, drängten die Demonstranten zur Tür und verließen den Wagen zuerst. Leon folgte ihnen zögernd. Es machte ihn nervös, dass sie die Bahn an derselben Station verließen wie er.
Er stieg die Treppen hinauf und fand sich oben auf der Straße in einer noch größeren Menschenmenge wieder. Ein Mädchen im Kapuzen-Shirt rannte in ihn hinein,