helfen. Und plötzlich kommt in ihre Erinnerung der Leichenkeller aus dem Gestapobunker, der lange SS-Mann, der sich eine Zigarette ansteckte und zu ihr »Mädel! Mädel!« sagte, ihr Suchen zwischen den Leichen, nachdem Anna und sie die tote Berta entkleidet hatten – und es scheint ihr, als ob das damals noch eine milde, barmherzige Stunde war, als sie Karli suchen durfte. Und nun? Eingeschlossen das zuckende Herz zwischen Eisen und Stein! Allein!
Die Tür wird geschlossen, viel langsamer und sachter, als es die Aufseherinnen tun, nun klopft es gar: der Pastor.
»Darf ich eintreten?«, fragt er.
»Kommen Sie bitte, kommen Sie doch, Herr Pastor!«, ruft Trudel Hergesell weinend.
Während die Frau Hänsel mit einem gehässigen Blick murmelt: »Was will der denn schon wieder?«
Und da lehnt Trudel plötzlich ihren Kopf gegen die schmale, rasch atmende Brust des Geistlichen, ihre Tränen fließen, sie verbirgt das Gesicht an seiner Brust, und sie fleht: »Herr Pastor, mir ist so angst! Sie müssen mir helfen! Ich muss den Karli sehen, nur einmal noch! Ich fühle, es wird das letzte Mal sein …«
Und die grelle Stimme der Frau Hänsel: »Das melde ich! Das melde ich aber sofort!« Während der Pastor ihr tröstend über den Kopf streicht und sagt: »Ja, mein Kind, Sie sollen ihn sehen, einmal noch!«
Da schüttelt sie ein immer stärker werdendes Schluchzen, und sie weiß, dass Karli tot ist, dass sie ihn nicht umsonst im Leichenkeller gesucht hat, dass es eine Vorahnung war, eine Warnung.
Und sie schreit: »Er ist tot! Herr Pastor, er ist tot!«
Und er antwortet, er spendet den einzigen Trost, den er diesen Todgeweihten spenden kann, er sagt: »Kind, er leidet nicht mehr. Du hast es schwerer.«
Sie hört es noch. Sie will darüber nachdenken, es richtig verstehen, aber es wird ihr dunkel vor den Augen. Das Licht erlischt. Ihr Kopf sinkt vornüber.
»Fassen Sie doch mit an, Frau Hänsel!«, bittet der Pastor. »Ich bin zu schwach, sie zu halten.«
Und dann ist auch draußen Nacht, Nacht zu Nacht, Dunkel zu Dunkel.
Trudel, verwitwete Hergesell, ist aufgewacht, und sie weiß, dass sie nicht in ihrer Zelle ist, und sie weiß wieder, dass Karli tot ist. Sie sieht ihn wieder liegen auf seiner schmalen Zellenpritsche, mit dem so klein und jung gewordenen Gesicht, und sie denkt an das Gesicht des Kindes, das sie geboren, und beide Gesichter gehen ineinander über, und sie weiß, dass sie alles verloren hat auf dieser Welt, Kind und Mann, dass sie niemals wird lieben, nie wird Kinder gebären dürfen, und alles dies, weil sie für einen alten Mann eine Postkarte auf ein Fensterbrett gelegt hat, dass darum ihr ganzes Leben zerbrochen ist und das von Karli dazu und dass es nie wieder Sonne und Glück und Sommer für sie geben wird, und keine Blumen …
Blumen auf mein Grab, Blumen auf dein Grab …
Und bei dem ungeheuren Schmerz, der sich immer weiter in ihr ausbreitet, der sie durchkältet wie Eis, schließt sie die Augen wieder und will zurück in Nacht und Vergessen. Aber die Nacht ist draußen, sie bleibt dort, sie dringt nicht in sie ein, aber plötzlich durchströmt Hitze sie … Sie springt mit einem Schrei vom Bett auf und will fort, nur laufen, diesem grässlichen Schmerz entlaufen. Aber eine Hand fasst nach ihr …
Es wird hell, und wieder ist es der Pastor, der bei ihr gesessen hat, der sie nun festhält. Ja, es ist eine fremde Zelle, es ist Karlis Zelle, aber sie haben ihn schon fortgebracht, und der Mann, der hier mit Karli in der Zelle lag, ist auch fort.
»Wo ist er hingebracht?«, fragt sie atemlos, als sei sie einen weiten Weg gelaufen.
»Ich werde an seinem Grabe meine Gebete sprechen.«
»Was helfen ihm jetzt noch Ihre Gebete? Hätten Sie um sein Leben gebetet, als noch Zeit dafür war!«
»Er hat den Frieden, Kind!«
»Ich will hier fort!«, sagt Trudel fieberhaft. »Bitte, lassen Sie mich zurück in meine Zelle, Herr Pastor! Ich habe dort ein Bild von ihm, ich muss es sehen, jetzt gleich. Er sah so anders aus.«
Und während sie so spricht, weiß sie sehr wohl, dass sie den guten Pastor belügt und dass sie ihn betrügen will. Denn sie besitzt kein Bild von Karli, und sie will nie wieder in ihre Zelle zu der Frau Hänsel zurück.
Und flüchtig schießt es ihr durch den Kopf: Ich bin ja wahnsinnig, aber jetzt muss ich mich gut verstellen, dass er es nicht merkt … Nur fünf Minuten noch meinen Wahnsinn verstecken!
Der Pastor führt sie sorglich an seinem Arm aus der Zelle über viele Gänge und Treppen in das Frauengefängnis zurück, und aus vielen Zellen hört sie tiefes Atmen – die schlafen – und aus anderen rastlose Schritte – die sorgen sich – und wieder aus anderen Weinen – die tragen Leid, aber niemand trägt so viel Leid wie sie.
Aber als der Pastor eine Tür auf- und hinter ihr wieder abgeschlossen hat, nimmt sie seinen Arm nicht wieder, und schweigend gehen die beiden weiter durch den nächtlichen Gang mit den Dunkelarrestzellen, aus denen der betrunkene Arzt gegen sein Versprechen die beiden Kranken nicht erlöst hat, und nun steigen sie viele Treppen im Frauengefängnis hinan bis zur Station V, wo die Trudel liegt.
Dort auf dem obersten Gang schlurft ihnen eine Wärterin entgegen und sagt: »Jetzt nachts um elf Uhr vierzig bringen Sie erst die Hergesell zurück, Herr Pastor? Wo waren Sie denn so lange mit ihr?«
»Sie war viele Stunden ohnmächtig. Ihr Mann ist gestorben, wissen Sie.«
»So – und da haben Sie die junge Frau also getröstet, Herr Pastor? Sehr hübsch! Die Frau Hänsel hat mir erzählt, sie soll Ihnen ganz schamlos immer gleich um den Hals fallen. Da muss solch nächtliches Trösten besonders hübsch sein! Ich werde das ins Wachtbuch schreiben!«
Aber ehe der Pastor sich noch mit einem Wort gegen diese Schmutzerei hat zur Wehr setzen können, sehen sie beide, dass Frau Trudel, verwitwete Hergesell, über das Eisengitter des Ganges geklettert ist. Einen Augenblick steht sie da, hält sich noch mit einer Hand am Geländer fest, mit dem Rücken zu ihnen.
Und sie rufen: »Halt! Nein! Bitte nicht!«
Und sie stürzen zu ihr hin, die Hände greifen schon nach ihr.
Aber wie eine Schwimmerin, die einen Kopfsprung machen will, hat sich Trudel Hergesell schon in die Tiefe gestürzt. Sie hören ein Flattern und Sausen, ein dumpfes Aufschlagen.
Und dann ist alles totenstill, während sie die bleichen Gesichter über das Geländer neigen und doch nichts sehen.
Dann machen sie einen Schritt zur Treppe hin.
Und in demselben Augenblick bricht die Hölle los.
Es ist, als sei’s durch die eisenbeschlagenen Zellentüren zu sehen gewesen, was geschehen