Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke


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eine un­be­greif­li­che Art leicht und fröh­lich, wie er es nie in sei­nem Le­ben ge­we­sen war, dann sag­te Reich­hardt: »Mo­zart«, und Quan­gel wuss­te nichts mehr von sei­nen Sor­gen. Und wie­der­um kam es dun­kel und schwer von des Dok­tors Mun­de, dann war es manch­mal wie ein Schmerz in Quan­gels Brust und wie­der, als säße er als Jun­ge mit sei­ner Mut­ter in der Kir­che: das gan­ze Le­ben lag noch vor ihm, und das war et­was Gro­ßes. Reich­hardt aber sag­te: »Jo­hann Se­bas­ti­an Bach«.

      Ja, Quan­gel, der im­mer wei­ter we­nig von der Mu­sik hielt, konn­te sich doch nicht ganz ih­rem Ein­fluss ent­zie­hen, so pri­mi­tiv das Sin­gen und Sum­men des Dok­tors auch war. Er ge­wöhn­te sich dar­an, auf ei­nem Sche­mel sit­zend, ihm zu lau­schen, wie er dort auf und ab ging, meist ge­schlos­se­nen Au­ges, denn die Füße kann­ten den schma­len, kur­z­en Zel­len­weg. Quan­gel sah dem Mann ins Ge­sicht, die­sem fei­nen Herrn, mit dem er drau­ßen in der Welt nicht ein Wort zu re­den ge­wusst hät­te, und manch­mal ka­men ihm Zwei­fel, ob er denn sein ei­ge­nes Le­ben wohl auf die rich­ti­ge Art ge­führt hät­te, ge­trennt von al­len an­de­ren, ein Le­ben selbst­ge­woll­ter Ve­rein­ze­lung.

      Der Dr. Reich­hardt sag­te auch manch­mal: »Wir le­ben nicht für uns, son­dern für die an­de­ren. Was wir aus uns ma­chen, ma­chen wir nicht für uns aus uns, son­dern nur für die an­de­ren …«

      Ja, es war kein Zwei­fel: über die fünf­zig hin­aus, ge­wiss ei­nes na­hen To­des, wan­del­te sich Quan­gel noch. Er sah es nicht ger­ne, er wehr­te sich da­ge­gen, und doch merk­te er im­mer stär­ker, dass er sich wan­del­te, nicht nur durch die Mu­sik, son­dern vor al­lem durch das Bei­spiel des sum­men­den Man­nes. Er, der sei­ner Anna so oft den Mund ver­bo­ten hat­te, der Stil­le um sich für den er­stre­bens­wer­tes­ten Zu­stand hielt, er er­tapp­te sich da­bei, dass er sich da­nach sehn­te, der Dr. Reich­hardt möge doch end­lich ein­mal das Buch aus der Hand le­gen und wie­der ein Wort zu ihm spre­chen.

      Meist ge­sch­ah es dann nach sei­nem Seh­nen. Plötz­lich sah der Dok­tor vom Le­sen hoch und frag­te lä­chelnd: »Nun, Quan­gel?«

      »Nichts, Herr Dok­tor.«

      »Sie soll­ten nicht so viel sit­zen und grü­beln. Wol­len Sie es nicht doch ein­mal mit dem Le­sen ver­su­chen?«

      »Nein, da­für ist es zu spät für mich.«

      »Vi­el­leicht ha­ben Sie recht. Was ha­ben Sie sonst ge­trie­ben nach Ih­rer Ar­beit? Sie kön­nen nicht die gan­ze Zeit, wenn Sie nicht in der Werk­statt wa­ren, ta­ten­los zu Haus ge­ses­sen ha­ben, ein Mann wie Sie!«

      »Da habe ich mei­ne Kar­ten ge­schrie­ben.«

      »Und frü­her, als noch kein Krieg war?«

      Quan­gel muss­te erst rich­tig über­le­gen, was er frü­her ge­tan hat­te. »Ja, ganz frü­her habe ich ger­ne ge­schnitzt.«

      Und der Dok­tor sag­te nach­denk­lich: »Tja, das wer­den sie uns frei­lich nicht er­lau­ben: Mes­ser. Wir dür­fen den Hen­ker doch nicht um sei­ne Ge­büh­ren brin­gen, Quan­gel!«

      Und Quan­gel, zö­gernd: »Wie ist das, Dok­tor, Sie spie­len Schach im­mer mit sich al­lein? Man kann das doch auch zu meh­re­ren spie­len?«

      »Ja, zu zwei­en. Hät­ten Sie Lust, es zu ler­nen?«

      »Ich glau­be, ich bin zu dumm da­für.«

      »Un­sinn! Wir wol­len es gleich ein­mal ver­su­chen.«

      Und der Dr. Reich­hardt klapp­te sein Buch zu.

      So lern­te Quan­gel noch das Schach­spiel. Er lern­te es zu sei­ner Über­ra­schung sehr schnell und ohne alle Schwie­rig­kei­ten. Und er er­fuhr wie­der ein­mal, dass et­was, was er frü­her ge­dacht hat­te, grund­falsch war. Er hat­te es ein biss­chen al­bern und kin­disch ge­fun­den, wenn er in ei­nem Kaf­fee­hau­se ge­se­hen hat­te, wie zwei Män­ner Holz­stück­chen zwi­schen sich hin und her scho­ben, er hat­te es Zeit tot­schla­gen ge­nannt, et­was für Kin­der.

      Nun er­fuhr er, dass dies Hin- und Her­schie­ben von Hölz­chen auch et­was wie Glück ge­ben konn­te, eine Klar­heit im Kopf, die tie­fe, ehr­li­che Freu­de über einen schö­nen Zug, die Ent­de­ckung, dass es sehr we­nig dar­auf an­kam, ob man ge­wann oder ver­lor, dass viel­mehr die Freu­de an ei­ner schön ge­spiel­ten ver­lo­re­nen Par­tie weit grö­ßer war als die über ein Spiel, das er durch einen Feh­ler des Dok­tors ge­won­nen hat­te.

      Wenn jetzt der Dr. Reich­hardt las, saß Quan­gel ihm ge­gen­über, das Schach­brett mit den schwar­zen und wei­ßen Fi­gu­ren vor sich, da­ne­ben den Re­clam-Band: Duf­res­ne, Lehr­buch des Schach­spiels, und er übte sich in Er­öff­nun­gen und End­spie­len. Spä­ter ging er zum Nach­spie­len gan­zer Meis­ter­par­ti­en über, sein kla­rer, nüch­ter­ner Kopf be­hielt mü­he­los zwan­zig, drei­ßig Züge, und schnell kam der Tag, da er der über­le­ge­ne Spie­ler war.

      »Schach und matt, Herr Dok­tor!«

      »Da ha­ben Sie mich also wie­der dran­ge­kriegt, Quan­gel!«, sag­te der Dok­tor und neig­te sei­nen Kö­nig grü­ßend vor dem Geg­ner. »Sie ha­ben das Zeug zu ei­nem sehr gu­ten Spie­ler in sich.«

      »Ich den­ke jetzt manch­mal, Herr Dok­tor, zu was al­lem ich wohl das Zeug in mir habe, von dem ich frü­her nichts wuss­te. Erst seit ich Sie ken­ne, erst seit­dem ich zum Ster­ben in die­sen Ze­ment­kas­ten ge­kom­men bin, er­fah­re ich, wie viel ich in mei­nem Le­ben doch ver­passt habe.«

      »Das wird je­dem so ge­hen. Je­der, der ster­ben muss, und vor al­lem je­der, der wie wir vor sei­ner Zeit ster­ben muss, wird sich über jede ver­trö­del­te Stun­de sei­nes Le­bens grä­men.«

      »Aber bei mir ist es doch noch ganz an­ders, Herr Dok­tor. Ich hab im­mer ge­dacht, es ist ge­nug, wenn ich mein Hand­werk or­dent­lich tue und nichts ver­lum­pe. Und nun er­fah­re ich, ich hät­te noch ’ne gan­ze Men­ge an­de­re Din­ge tun kön­nen: Schach spie­len, nett zu den Men­schen sein, Mu­sik hö­ren, ins Thea­ter ge­hen. Wirk­lich, Herr Dok­tor, wenn ich vor mei­nem Ster­ben noch einen Wunsch äu­ßern dürf­te, ich möch­te Sie mal mit Ihrem Stöck­chen in so ei­nem großen Sym­pho­nie­kon­zert se­hen, wie Sie’s nen­nen. Ich bin neu­gie­rig, wie das aus­sieht und wie es auf mich wir­ken wür­de.«

      »Kei­ner kann nach al­len Rich­tun­gen le­ben, Quan­gel. Das Le­ben ist so reich. Sie wür­den sich zer­split­tert ha­ben. Sie ha­ben Ihre Ar­beit ge­tan und sich im­mer als gan­zer Mann ge­fühlt. Als Sie noch drau­ßen wa­ren, hat Ih­nen nichts ge­fehlt, Quan­gel. Sie ha­ben Ihre Post­kar­ten ge­schrie­ben …«

      »Aber sie ha­ben doch nichts genützt, Herr Dok­tor! Ich habe ge­dacht, es haut mich hin, wie der Kom­missar Esche­rich mir be­weist, dass von 285 Kar­ten, die ich ge­schrie­ben, 267 in sei­ne Hän­de ge­ra­ten sind! Nur 18 nicht er­wi­scht! Und die­se 18 ha­ben auch nichts ge­wirkt!«

      »Wer weiß? Und Sie ha­ben doch we­nigs­tens dem Schlech­ten wi­der­stan­den. Sie sind nicht mit schlecht ge­wor­den. Sie und ich und die vie­len hier in die­sem Hau­se und vie­le, vie­le in an­de­ren fes­ten Häu­sern und die Zehn­tau­sen­de in den KZs – sie wi­der­ste­hen alle noch, heu­te, mor­gen …«

      »Ja, und dann wird uns das Le­ben ge­nom­men, und was hat dann un­ser Wi­der­stand genützt?«

      »Uns – viel, weil wir uns bis zum Tode als an­stän­di­ge Men­schen füh­len kön­nen. Und mehr noch dem Vol­ke, das er­ret­tet wer­den wird um der Ge­rech­ten wil­len, wie