eine unbegreifliche Art leicht und fröhlich, wie er es nie in seinem Leben gewesen war, dann sagte Reichhardt: »Mozart«, und Quangel wusste nichts mehr von seinen Sorgen. Und wiederum kam es dunkel und schwer von des Doktors Munde, dann war es manchmal wie ein Schmerz in Quangels Brust und wieder, als säße er als Junge mit seiner Mutter in der Kirche: das ganze Leben lag noch vor ihm, und das war etwas Großes. Reichhardt aber sagte: »Johann Sebastian Bach«.
Ja, Quangel, der immer weiter wenig von der Musik hielt, konnte sich doch nicht ganz ihrem Einfluss entziehen, so primitiv das Singen und Summen des Doktors auch war. Er gewöhnte sich daran, auf einem Schemel sitzend, ihm zu lauschen, wie er dort auf und ab ging, meist geschlossenen Auges, denn die Füße kannten den schmalen, kurzen Zellenweg. Quangel sah dem Mann ins Gesicht, diesem feinen Herrn, mit dem er draußen in der Welt nicht ein Wort zu reden gewusst hätte, und manchmal kamen ihm Zweifel, ob er denn sein eigenes Leben wohl auf die richtige Art geführt hätte, getrennt von allen anderen, ein Leben selbstgewollter Vereinzelung.
Der Dr. Reichhardt sagte auch manchmal: »Wir leben nicht für uns, sondern für die anderen. Was wir aus uns machen, machen wir nicht für uns aus uns, sondern nur für die anderen …«
Ja, es war kein Zweifel: über die fünfzig hinaus, gewiss eines nahen Todes, wandelte sich Quangel noch. Er sah es nicht gerne, er wehrte sich dagegen, und doch merkte er immer stärker, dass er sich wandelte, nicht nur durch die Musik, sondern vor allem durch das Beispiel des summenden Mannes. Er, der seiner Anna so oft den Mund verboten hatte, der Stille um sich für den erstrebenswertesten Zustand hielt, er ertappte sich dabei, dass er sich danach sehnte, der Dr. Reichhardt möge doch endlich einmal das Buch aus der Hand legen und wieder ein Wort zu ihm sprechen.
Meist geschah es dann nach seinem Sehnen. Plötzlich sah der Doktor vom Lesen hoch und fragte lächelnd: »Nun, Quangel?«
»Nichts, Herr Doktor.«
»Sie sollten nicht so viel sitzen und grübeln. Wollen Sie es nicht doch einmal mit dem Lesen versuchen?«
»Nein, dafür ist es zu spät für mich.«
»Vielleicht haben Sie recht. Was haben Sie sonst getrieben nach Ihrer Arbeit? Sie können nicht die ganze Zeit, wenn Sie nicht in der Werkstatt waren, tatenlos zu Haus gesessen haben, ein Mann wie Sie!«
»Da habe ich meine Karten geschrieben.«
»Und früher, als noch kein Krieg war?«
Quangel musste erst richtig überlegen, was er früher getan hatte. »Ja, ganz früher habe ich gerne geschnitzt.«
Und der Doktor sagte nachdenklich: »Tja, das werden sie uns freilich nicht erlauben: Messer. Wir dürfen den Henker doch nicht um seine Gebühren bringen, Quangel!«
Und Quangel, zögernd: »Wie ist das, Doktor, Sie spielen Schach immer mit sich allein? Man kann das doch auch zu mehreren spielen?«
»Ja, zu zweien. Hätten Sie Lust, es zu lernen?«
»Ich glaube, ich bin zu dumm dafür.«
»Unsinn! Wir wollen es gleich einmal versuchen.«
Und der Dr. Reichhardt klappte sein Buch zu.
So lernte Quangel noch das Schachspiel. Er lernte es zu seiner Überraschung sehr schnell und ohne alle Schwierigkeiten. Und er erfuhr wieder einmal, dass etwas, was er früher gedacht hatte, grundfalsch war. Er hatte es ein bisschen albern und kindisch gefunden, wenn er in einem Kaffeehause gesehen hatte, wie zwei Männer Holzstückchen zwischen sich hin und her schoben, er hatte es Zeit totschlagen genannt, etwas für Kinder.
Nun erfuhr er, dass dies Hin- und Herschieben von Hölzchen auch etwas wie Glück geben konnte, eine Klarheit im Kopf, die tiefe, ehrliche Freude über einen schönen Zug, die Entdeckung, dass es sehr wenig darauf ankam, ob man gewann oder verlor, dass vielmehr die Freude an einer schön gespielten verlorenen Partie weit größer war als die über ein Spiel, das er durch einen Fehler des Doktors gewonnen hatte.
Wenn jetzt der Dr. Reichhardt las, saß Quangel ihm gegenüber, das Schachbrett mit den schwarzen und weißen Figuren vor sich, daneben den Reclam-Band: Dufresne, Lehrbuch des Schachspiels, und er übte sich in Eröffnungen und Endspielen. Später ging er zum Nachspielen ganzer Meisterpartien über, sein klarer, nüchterner Kopf behielt mühelos zwanzig, dreißig Züge, und schnell kam der Tag, da er der überlegene Spieler war.
»Schach und matt, Herr Doktor!«
»Da haben Sie mich also wieder drangekriegt, Quangel!«, sagte der Doktor und neigte seinen König grüßend vor dem Gegner. »Sie haben das Zeug zu einem sehr guten Spieler in sich.«
»Ich denke jetzt manchmal, Herr Doktor, zu was allem ich wohl das Zeug in mir habe, von dem ich früher nichts wusste. Erst seit ich Sie kenne, erst seitdem ich zum Sterben in diesen Zementkasten gekommen bin, erfahre ich, wie viel ich in meinem Leben doch verpasst habe.«
»Das wird jedem so gehen. Jeder, der sterben muss, und vor allem jeder, der wie wir vor seiner Zeit sterben muss, wird sich über jede vertrödelte Stunde seines Lebens grämen.«
»Aber bei mir ist es doch noch ganz anders, Herr Doktor. Ich hab immer gedacht, es ist genug, wenn ich mein Handwerk ordentlich tue und nichts verlumpe. Und nun erfahre ich, ich hätte noch ’ne ganze Menge andere Dinge tun können: Schach spielen, nett zu den Menschen sein, Musik hören, ins Theater gehen. Wirklich, Herr Doktor, wenn ich vor meinem Sterben noch einen Wunsch äußern dürfte, ich möchte Sie mal mit Ihrem Stöckchen in so einem großen Symphoniekonzert sehen, wie Sie’s nennen. Ich bin neugierig, wie das aussieht und wie es auf mich wirken würde.«
»Keiner kann nach allen Richtungen leben, Quangel. Das Leben ist so reich. Sie würden sich zersplittert haben. Sie haben Ihre Arbeit getan und sich immer als ganzer Mann gefühlt. Als Sie noch draußen waren, hat Ihnen nichts gefehlt, Quangel. Sie haben Ihre Postkarten geschrieben …«
»Aber sie haben doch nichts genützt, Herr Doktor! Ich habe gedacht, es haut mich hin, wie der Kommissar Escherich mir beweist, dass von 285 Karten, die ich geschrieben, 267 in seine Hände geraten sind! Nur 18 nicht erwischt! Und diese 18 haben auch nichts gewirkt!«
»Wer weiß? Und Sie haben doch wenigstens dem Schlechten widerstanden. Sie sind nicht mit schlecht geworden. Sie und ich und die vielen hier in diesem Hause und viele, viele in anderen festen Häusern und die Zehntausende in den KZs – sie widerstehen alle noch, heute, morgen …«
»Ja, und dann wird uns das Leben genommen, und was hat dann unser Widerstand genützt?«
»Uns – viel, weil wir uns bis zum Tode als anständige Menschen fühlen können. Und mehr noch dem Volke, das errettet werden wird um der Gerechten willen, wie