»Vielleicht. Meistens. Nicht immer. Durchaus nicht immer. Wenn ich zum Beispiel an meine Familie denke, dann nicht.«
»Ich hab nur ’ne Frau«, sagte Quangel. »Hat dieses Gefängnis auch eine Frauenseite?«
»Ja, die gibt es hier, wir sehen aber nie etwas von den Frauen.«
»Natürlich nicht.« Otto Quangel seufzte schwer. »Meine Frau haben sie auch eingesteckt. Hoffentlich haben sie die heute auch hierher gebracht.« Und er setzte hinzu: »Sie ist zu weich für das, was sie im Bunker aushalten musste.«
»Hoffentlich ist sie auch hier«, sagte der Herr freundlich. »Wir werden es durch den Pastor erfahren. Vielleicht kommt er noch heute Nachmittag. Übrigens dürfen Sie sich auch einen Verteidiger nehmen, jetzt, da Sie hier sind.«
Er nickte Quangel freundlich zu, sagte noch: »In einer Stunde gibt es Mittag«, setzte die Lesebrille auf und fing an zu lesen.
Quangel sah einen Augenblick zu ihm hin, aber der Herr wollte nicht weitersprechen, sondern las wirklich.
Komisch, diese feinen Leute!, dachte er. Ich hätt noch ’ne Masse zu fragen gehabt. Aber wenn er nicht will, auch gut. Ich will nicht sein Hund werden, der ihm keine Ruhe lässt.
Und ein wenig gekränkt machte er sich an das Beziehen seines Bettes.
Die Zelle war sehr sauber und hell. Sie war auch nicht gar zu klein, man konnte drei und einen halben Schritt hin- und wieder drei und einen halben Schritt zurückgehen. Das Fenster stand halb offen, die Luft war gut. Es roch hier angenehm; wie Quangel später feststellen konnte, kam dieser gute Geruch von der Seife und der Wäsche des Herrn Reichhardt her. Nach der stickig-stinkenden Atmosphäre des Gestapobunkers fühlte sich Quangel an einen hellen, fröhlichen Ort versetzt.
Nachdem er sein Bett bezogen hatte, setzte er sich darauf und sah zu seinem Zellengenossen hin. Der Herr las. In ziemlich rascher Folge wendete er Blatt um Blatt um. Quangel, der sich nicht erinnern konnte, seit seiner Schulzeit ein Buch gelesen zu haben, dachte verwundert: Was der nur zu lesen hat? Ob der nichts nachzudenken hat, hier, an diesem Ort? Ich könnte nicht so ruhig sitzen und lesen! Ich muss immerzu an Anna denken, und wie alles gekommen ist und wie es weitergeht und ob ich mich auch weiter anständig halte. Er sagt, ich kann mir ’nen Rechtsanwalt nehmen. Aber ein Rechtsanwalt kostet einen Haufen Geld, und was soll er mir nützen, wo ich schon so zum Tode verurteilt bin? Ich habe doch alles zugegeben! So ein feiner Herr – bei dem ist alles anders. Ich hab’s ja gleich gesehen, wie ich reinkam, der Aufseher hat ihn richtig mit Herr und Doktor angeredet. Der wird nicht viel ausgefressen haben – der hat gut lesen. Immerzu lesen …
Der Doktor Reichhardt unterbrach nur zweimal sein vormittägliches Lesen. Das eine Mal sagte er, ohne aufzusehen: »Zigaretten und Streichhölzer liegen im Schränkchen – wenn Sie rauchen mögen?«
Aber als Quangel antwortete: »Ich rauche doch nicht! Dafür ist mir mein Geld zu schade!«, las er schon wieder.
Das andere Mal war Quangel auf den Schemel gestiegen und bemühte sich, auf den Hof hinauszuschauen, von dem das gleichmäßige Scharren vieler Füße ertönte.
»Jetzt lieber nicht, Herr Quangel!«, sagte der Dr. Reichhardt. »Jetzt ist Freistunde. Manche Beamte merken sich genau die Fenster, wo einer rausschaut. Dann fliegt der in die Dunkelzelle bei Wasser und Brot. Abends können Sie meist aus dem Fenster sehen.«
Dann kam das Mittagessen. Quangel, der den liederlich zusammengekochten Fraß des Gestapobunkers gewohnt war, sah mit Staunen, dass es hier zwei große Näpfe mit Suppe gab und zwei Teller mit Fleisch, Kartoffeln und grünen Bohnen. Aber mit noch größerem Erstaunen sah er, wie sein Zellengenosse sich in das Waschbecken ein wenig Wasser tat, sich sorgfältig die Hände wusch und sie dann abtrocknete. Dr. Reichhardt füllte neues Wasser ins Becken und sagte sehr höflich: »Bitte sehr, Herr Quangel!«, und Quangel wusch sich gehorsam auch die Hände, obwohl er doch nichts Schmutziges angefasst hatte.
Dann aßen sie fast schweigend das für Quangel ungewohnt gute Mittagessen.
Es dauerte drei Tage, bis der Werkmeister begriff, dass dieses Essen nicht die übliche vom Volksgericht den Untersuchungshäftlingen gespendete Kost war, sondern Herrn Dr. Reichhardts privates Essen, an dem er seinen Zellengenossen ohne alles Aufheben teilnehmen ließ. Wie er auch bereit war, Quangel von allem abzugeben, von seinen Rauchwaren, der Seife, seinen Büchern; der andere musste nur wollen.
Und es dauerte noch einige Tage länger, bis Otto Quangel sein plötzlich angesichts all solcher Freundlichkeiten gegen Dr. Reichhardt aufgekommenes Misstrauen überwand. Wer solche ungeheuerlichen Vergünstigungen genoss, musste ein Spitzel des Volksgerichts sein, dieser Gedanke hatte sich in Otto Quangel festgesetzt. Wer solche Gefälligkeiten erwies, der musste vom anderen was wollen. Nimm dich in acht, Quangel!
Aber was konnte der Mann von ihm wollen? In Quangels Fall lag alles klar, auch vor dem Untersuchungsrichter des Volksgerichts hatte er nüchtern und ohne viel Worte die Aussagen wiederholt, die er schon vor den Kommissaren Escherich und Laub gemacht hatte. Er hatte alles erzählt, wie es wirklich gewesen war, und wenn die Akten noch immer nicht zur Anklageerhebung und Festsetzung des Verhandlungstermins weitergegeben waren, so lag das nur daran, dass Frau Anna mit einer Hartnäckigkeit sondergleichen darauf bestand, sie habe eigentlich alles getan und ihr Mann sei nur ein Werkzeug in ihrer Hand gewesen. Aber das alles gab keinerlei Grund ab, kostbare Zigaretten und sättigendes, sauberes Essen an Quangel zu verschenken. Der Fall lag klar, es gab an ihm nichts zu bespitzeln.
Richtig überwand Quangel sein Misstrauen gegen Dr. Reichhardt erst in einer Nacht, da sein Zellenkamerad, der überlegene, feine Herr, ihm flüsternd gestand, dass auch er noch oft eine grauenhafte Angst vor dem Tode habe, sei es nun Fallbeil oder Strick; der Gedanke daran beschäftige ihn oft stundenlang. Dr. Reichhardt gestand nun auch ein, dass er oft nur mechanisch die Seiten seines Buches umwendete: vor den Augen stand ihm nicht die schwarze Druckschrift, sondern ein grau zementierter Gefängnishof, ein Galgen mit einem sachte im Winde baumelnden Strick, der aus einem gesunden, kräftigen Manne in drei bis fünf Minuten ein widerliches, verrecktes Stück Kadaver machte.
Aber noch grauenhafter als dieses Ende, dem Dr. Reichhardt (seiner festen Annahme nach) mit jedem Tag seines Lebens unaufhaltsam nähergebracht wurde, noch grauenhafter war ihm der Gedanke an seine Familie. Quangel erfuhr, dass Reichhardt von seiner Frau drei Kinder hatte, zwei Jungen, ein Mädel, das älteste elf, das jüngste erst vier Jahre alt. Und Reichhardt hatte oft Angst, grauenhafte,