Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke


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      »Vi­el­leicht. Meis­tens. Nicht im­mer. Durchaus nicht im­mer. Wenn ich zum Bei­spiel an mei­ne Fa­mi­lie den­ke, dann nicht.«

      »Ich hab nur ’ne Frau«, sag­te Quan­gel. »Hat die­ses Ge­fäng­nis auch eine Frau­en­sei­te?«

      »Ja, die gibt es hier, wir se­hen aber nie et­was von den Frau­en.«

      »Na­tür­lich nicht.« Otto Quan­gel seufz­te schwer. »Mei­ne Frau ha­ben sie auch ein­ge­steckt. Hof­fent­lich ha­ben sie die heu­te auch hier­her ge­bracht.« Und er setz­te hin­zu: »Sie ist zu weich für das, was sie im Bun­ker aus­hal­ten muss­te.«

      »Hof­fent­lich ist sie auch hier«, sag­te der Herr freund­lich. »Wir wer­den es durch den Pas­tor er­fah­ren. Vi­el­leicht kommt er noch heu­te Nach­mit­tag. Üb­ri­gens dür­fen Sie sich auch einen Ver­tei­di­ger neh­men, jetzt, da Sie hier sind.«

      Er nick­te Quan­gel freund­lich zu, sag­te noch: »In ei­ner Stun­de gibt es Mit­tag«, setz­te die Le­se­bril­le auf und fing an zu le­sen.

      Quan­gel sah einen Au­gen­blick zu ihm hin, aber der Herr woll­te nicht wei­ter­spre­chen, son­dern las wirk­lich.

      Ko­misch, die­se fei­nen Leu­te!, dach­te er. Ich hätt noch ’ne Mas­se zu fra­gen ge­habt. Aber wenn er nicht will, auch gut. Ich will nicht sein Hund wer­den, der ihm kei­ne Ruhe lässt.

      Und ein we­nig ge­kränkt mach­te er sich an das Be­zie­hen sei­nes Bet­tes.

      Die Zel­le war sehr sau­ber und hell. Sie war auch nicht gar zu klein, man konn­te drei und einen hal­b­en Schritt hin- und wie­der drei und einen hal­b­en Schritt zu­rück­ge­hen. Das Fens­ter stand halb of­fen, die Luft war gut. Es roch hier an­ge­nehm; wie Quan­gel spä­ter fest­stel­len konn­te, kam die­ser gute Ge­ruch von der Sei­fe und der Wä­sche des Herrn Reich­hardt her. Nach der sti­ckig-stin­ken­den At­mo­sphä­re des Ge­sta­po­bun­kers fühl­te sich Quan­gel an einen hel­len, fröh­li­chen Ort ver­setzt.

      Nach­dem er sein Bett be­zo­gen hat­te, setz­te er sich dar­auf und sah zu sei­nem Zel­len­ge­nos­sen hin. Der Herr las. In ziem­lich ra­scher Fol­ge wen­de­te er Blatt um Blatt um. Quan­gel, der sich nicht er­in­nern konn­te, seit sei­ner Schul­zeit ein Buch ge­le­sen zu ha­ben, dach­te ver­wun­dert: Was der nur zu le­sen hat? Ob der nichts nach­zu­den­ken hat, hier, an die­sem Ort? Ich könn­te nicht so ru­hig sit­zen und le­sen! Ich muss im­mer­zu an Anna den­ken, und wie al­les ge­kom­men ist und wie es wei­ter­geht und ob ich mich auch wei­ter an­stän­dig hal­te. Er sagt, ich kann mir ’nen Rechts­an­walt neh­men. Aber ein Rechts­an­walt kos­tet einen Hau­fen Geld, und was soll er mir nüt­zen, wo ich schon so zum Tode ver­ur­teilt bin? Ich habe doch al­les zu­ge­ge­ben! So ein fei­ner Herr – bei dem ist al­les an­ders. Ich hab’s ja gleich ge­se­hen, wie ich rein­kam, der Auf­se­her hat ihn rich­tig mit Herr und Dok­tor an­ge­re­det. Der wird nicht viel aus­ge­fres­sen ha­ben – der hat gut le­sen. Im­mer­zu le­sen …

      Der Dok­tor Reich­hardt un­ter­brach nur zwei­mal sein vor­mit­täg­li­ches Le­sen. Das eine Mal sag­te er, ohne auf­zu­se­hen: »Zi­ga­ret­ten und Streich­höl­zer lie­gen im Schränk­chen – wenn Sie rau­chen mö­gen?«

      Aber als Quan­gel ant­wor­te­te: »Ich rau­che doch nicht! Da­für ist mir mein Geld zu scha­de!«, las er schon wie­der.

      Das an­de­re Mal war Quan­gel auf den Sche­mel ge­stie­gen und be­müh­te sich, auf den Hof hin­aus­zu­schau­en, von dem das gleich­mä­ßi­ge Schar­ren vie­ler Füße er­tön­te.

      »Jetzt lie­ber nicht, Herr Quan­gel!«, sag­te der Dr. Reich­hardt. »Jetzt ist Frei­stun­de. Man­che Be­am­te mer­ken sich ge­nau die Fens­ter, wo ei­ner raus­schaut. Dann fliegt der in die Dun­kel­zel­le bei Was­ser und Brot. Abends kön­nen Sie meist aus dem Fens­ter se­hen.«

      Dann kam das Mit­ta­ges­sen. Quan­gel, der den lie­der­lich zu­sam­men­ge­koch­ten Fraß des Ge­sta­po­bun­kers ge­wohnt war, sah mit Stau­nen, dass es hier zwei große Näp­fe mit Sup­pe gab und zwei Tel­ler mit Fleisch, Kar­tof­feln und grü­nen Boh­nen. Aber mit noch grö­ße­rem Er­stau­nen sah er, wie sein Zel­len­ge­nos­se sich in das Wasch­be­cken ein we­nig Was­ser tat, sich sorg­fäl­tig die Hän­de wusch und sie dann ab­trock­ne­te. Dr. Reich­hardt füll­te neu­es Was­ser ins Be­cken und sag­te sehr höf­lich: »Bit­te sehr, Herr Quan­gel!«, und Quan­gel wusch sich ge­hor­sam auch die Hän­de, ob­wohl er doch nichts Schmut­zi­ges an­ge­fasst hat­te.

      Dann aßen sie fast schwei­gend das für Quan­gel un­ge­wohnt gute Mit­ta­ges­sen.

      Es dau­er­te drei Tage, bis der Werk­meis­ter be­griff, dass die­ses Es­sen nicht die üb­li­che vom Volks­ge­richt den Un­ter­su­chungs­häft­lin­gen ge­spen­de­te Kost war, son­dern Herrn Dr. Reich­hardts pri­va­tes Es­sen, an dem er sei­nen Zel­len­ge­nos­sen ohne al­les Auf­he­ben teil­neh­men ließ. Wie er auch be­reit war, Quan­gel von al­lem ab­zu­ge­ben, von sei­nen Rauch­wa­ren, der Sei­fe, sei­nen Bü­chern; der an­de­re muss­te nur wol­len.

      Und es dau­er­te noch ei­ni­ge Tage län­ger, bis Otto Quan­gel sein plötz­lich an­ge­sichts all sol­cher Freund­lich­kei­ten ge­gen Dr. Reich­hardt auf­ge­kom­me­nes Miss­trau­en über­wand. Wer sol­che un­ge­heu­er­li­chen Ver­güns­ti­gun­gen ge­noss, muss­te ein Spit­zel des Volks­ge­richts sein, die­ser Ge­dan­ke hat­te sich in Otto Quan­gel fest­ge­setzt. Wer sol­che Ge­fäl­lig­kei­ten er­wies, der muss­te vom an­de­ren was wol­len. Nimm dich in acht, Quan­gel!

      Aber was konn­te der Mann von ihm wol­len? In Quan­gels Fall lag al­les klar, auch vor dem Un­ter­su­chungs­rich­ter des Volks­ge­richts hat­te er nüch­tern und ohne viel Wor­te die Aus­sa­gen wie­der­holt, die er schon vor den Kom­missa­ren Esche­rich und Laub ge­macht hat­te. Er hat­te al­les er­zählt, wie es wirk­lich ge­we­sen war, und wenn die Ak­ten noch im­mer nicht zur An­kla­ge­er­he­bung und Fest­set­zung des Ver­hand­lungs­ter­mins wei­ter­ge­ge­ben wa­ren, so lag das nur dar­an, dass Frau Anna mit ei­ner Hart­nä­ckig­keit son­der­glei­chen dar­auf be­stand, sie habe ei­gent­lich al­les ge­tan und ihr Mann sei nur ein Werk­zeug in ih­rer Hand ge­we­sen. Aber das al­les gab kei­ner­lei Grund ab, kost­ba­re Zi­ga­ret­ten und sät­ti­gen­des, sau­be­res Es­sen an Quan­gel zu ver­schen­ken. Der Fall lag klar, es gab an ihm nichts zu be­spit­zeln.

      Rich­tig über­wand Quan­gel sein Miss­trau­en ge­gen Dr. Reich­hardt erst in ei­ner Nacht, da sein Zel­len­ka­me­rad, der über­le­ge­ne, fei­ne Herr, ihm flüs­ternd ge­stand, dass auch er noch oft eine grau­en­haf­te Angst vor dem Tode habe, sei es nun Fall­beil oder Strick; der Ge­dan­ke dar­an be­schäf­ti­ge ihn oft stun­den­lang. Dr. Reich­hardt ge­stand nun auch ein, dass er oft nur me­cha­nisch die Sei­ten sei­nes Bu­ches um­wen­de­te: vor den Au­gen stand ihm nicht die schwar­ze Druck­schrift, son­dern ein grau ze­men­tier­ter Ge­fäng­nis­hof, ein Gal­gen mit ei­nem sach­te im Win­de bau­meln­den Strick, der aus ei­nem ge­sun­den, kräf­ti­gen Man­ne in drei bis fünf Mi­nu­ten ein wi­der­li­ches, ver­reck­tes Stück Ka­da­ver mach­te.

      Aber noch grau­en­haf­ter als die­ses Ende, dem Dr. Reich­hardt (sei­ner fes­ten An­nah­me nach) mit je­dem Tag sei­nes Le­bens un­auf­halt­sam nä­her­ge­bracht wur­de, noch grau­en­haf­ter war ihm der Ge­dan­ke an sei­ne Fa­mi­lie. Quan­gel er­fuhr, dass Reich­hardt von sei­ner Frau drei Kin­der hat­te, zwei Jun­gen, ein Mä­del, das äl­tes­te elf, das jüngs­te erst vier Jah­re alt. Und Reich­hardt hat­te oft Angst, grau­en­haf­te,