gelegen, sehr weiß und sehr still – und Anna hatte sich voll Kummer gefragt, ob sie nicht mit Schuld an diesem Ende trug. Hätte sie zu dem Kommissar Laub nicht ihre Schwägerin erwähnt! Und dann dachte sie an Trudel Baumann, Trudel Hergesell, sie fing an zu zittern – die hatte sie wirklich verraten! Gewiss, gewiss, Entschuldigungen genug. Wie hatte sie ahnen können, welch Unheil aus der bloßen Erwähnung von Ottochens Braut entstehen würde! Aber dann war es weitergegangen, Schritt um Schritt, und schließlich war der Verrat offensichtlich gewesen, und sie hatte einen Menschen, an dem ihr Herz hing, unglücklich gemacht, und vielleicht nicht nur einen Menschen.
Wenn Anna Quangel daran dachte, sie müsse Trudel Hergesell Auge in Auge entgegentreten, sie werde ihr ins Gesicht ihre verräterischen Worte wiederholen müssen, so zitterte sie. Wenn sie aber an ihren Mann dachte, so war sie verzweifelt. Dann war sie überzeugt, dass dieser gewissenhafte, rechtliche Mann ihr diesen Verrat nie verzeihen würde und dass sie noch vor ihrem nahen Lebensende den einzigen Kameraden verlieren würde.
Wie habe ich nur so schwach sein können, klagte sich Anna Quangel an, und wenn sie zu einem Verhör zu Laub geholt wurde, bat sie bei sich nicht darum, dass er sie nicht quälen möge, sondern sie bat um Stärke, trotz aller Quälereien nichts auszusagen, was andere belasten konnte. Und diese kleine, schmächtige Frau beharrte darauf, ihren Teil der Last zu tragen und mehr als ihren Teil: sie, nur sie allein hatte – bis auf einen oder zwei Fälle – die Postkarten ausgetragen, und nur sie allein hatte sich ihren Inhalt ausgedacht und ihn dem Manne diktiert. Sie allein war die Erfinderin dieser Karten; weil ihr Sohn gefallen war, hatte sie diese Idee gefasst.
Der Kommissar Laub, der wohl merkte, dass ihre Aussagen erlogen waren, dass diese Frau gar nicht fähig zu den Dingen war, die getan zu haben sie behauptete – Kommissar Laub mochte schreien, drohen, quälen, so viel er wollte: sie unterschrieb kein anderes Protokoll, sie nahm nichts von diesen Aussagen zurück, und wenn er ihr zehn Mal bewies, dass sie nicht stimmen konnten. Laub hatte die Schraube überdreht, er war machtlos. Und wenn Anna von einem solchen Verhör wieder in den Keller gebracht wurde, hatte sie ein Gefühl der Erleichterung, als habe sie einen Teil ihrer Schuld abgebüßt, als könne Otto ein wenig zufrieden mit ihr sein. Und der Gedanke wurde stärker in ihr, dass sie vielleicht Ottos Leben retten könnte, wenn sie nur alle Schuld auf sich nahm …
Nach den Gewohnheiten des Gestapogefängnisses hatte man sich keineswegs beeilt, die tote Berta aus Annas Zelle zu entfernen. Es konnte wiederum nur Schlamperei, es konnte aber auch beabsichtigte Quälerei sein – jedenfalls lag die Tote schon den dritten Tag in der widerlich süßlich riechenden Zelle, als die Tür aufgeschlossen und gerade jene hineingestoßen wurde, deren Blicken zu begegnen Anna so große Angst hatte.
Trudel Hergesell tat einen Schritt in die Zelle. Ihre Augen sahen noch fast nichts, sie war zu Tode erschöpft, und die Angst um den nicht wieder zum Leben erwachten Karli, von dem man sie eben roh getrennt hatte, machte sie fast besinnungslos. Sie stieß einen leisen Schreckensruf aus, als sie den widerlichen Verwesungsgestank in der Zelle roch, als sie die Tote sah, die da jetzt fleckig und gedunsen auf der Holzpritsche lag.
Sie stöhnte: »Ich kann nicht mehr«, und Anna Quangel bewahrte das Opfer ihres Verrats vor dem Hinstürzen.
»Trudel!«, flüsterte sie an dem Ohr der halb Ohnmächtigen. »Trudel, kannst du mir verzeihen? Ich habe zuerst deinen Namen genannt, weil du doch Ottochens Braut warst. Und dann hat er mit seinen Quälereien alles aus mir herausgeholt. Ich verstehe es selbst nicht mehr. Trudel, sieh mich nicht so an, ich bitte dich! Trudel, solltest du nicht ein Kind bekommen? Habe ich auch das zerstört?«
Während Frau Anna Quangel so sprach, hatte sich Trudel Hergesell aus ihren Armen gelöst und war zum Eingang der Zelle zurückgegangen. Jetzt lehnte sie an der eisenbeschlagenen Tür und sah mit bleichem Gesicht zu der alten Frau hinüber, die sie, durch die Länge der Zelle getrennt, von der anderen Wand her ansah.
»Du warst es, Mutter?«, fragte sie. »Du hast das getan?«
Und mit einem plötzlichen Ausbruch: »Ach, es ist mir wahrhaftig nicht um mich! Aber sie haben mir den Karli ganz zerschlagen, und ich weiß nicht, ob er wieder zur Besinnung kommen wird. Vielleicht ist er jetzt schon tot.«
Die Tränen stürzten aus ihren Augen, als sie rief: »Und ich kann nicht zu ihm! Ich weiß nichts, und vielleicht werde ich Tage und Tage hier sitzen und nichts hören. Er ist dann schon tot und verscharrt, aber in mir lebt er noch immer. Und ein Kind werde ich auch nicht von ihm haben – wie arm ich plötzlich geworden bin! Noch vor ein paar Wochen, ehe ich den Vater traf, hatte ich alles, um glücklich zu sein, und ich war auch glücklich! Und jetzt habe ich nichts mehr. Nichts! Ach, Mutter …«
Und sie setzte plötzlich hinzu: »Aber an der Fehlgeburt bist du nicht schuld, Mutter. Die war schon, als noch nichts geschehen war.«
Plötzlich eilte Trudel Hergesell schwankend durch die Zelle, sie hing ihren Kopf an Annas Brust und klagte: »Ach, Mutter, wie unglücklich bin ich doch geworden! Sage doch du mir, dass Karli es lebend überstehen wird!«
Und Anna Quangel küsste sie – und flüsterte: »Er wird leben, Trudel, und auch du wirst leben! Ihr habt doch nichts Böses getan!«
Eine Weile hielten sie sich umfasst und waren ganz still. Eines ruhte in der Liebe des anderen, ein wenig Hoffnung rührte sich wieder.
Dann schüttelte die Trudel den Kopf, und sie sagte: »Nein, auch wir werden nicht heil davonkommen. Sie haben zu viel herausgefunden. Es ist wahr, was du sagst: eigentlich haben wir nichts Böses getan. Der Karli hat für einen anderen einen Koffer aufbewahrt, ohne zu wissen, was darin ist, und ich habe für den Vater eine Postkarte abgelegt. Aber sie sagen, das ist Hochverrat und kostet den Kopf.«
»Das hat sicher der Laub gesagt, dieser schreckliche Kerl!«
»Ich weiß nicht, wie er heißt, aber das ist mir auch ganz egal. So sind sie doch alle! Auch die auf der Aufnahme hier, alle sind sie sich gleich. Aber es ist vielleicht ganz gut, dass es so viel ist: Jahre und Jahre in einem Zuchthaus sitzen …«
»Die Herrschaft von denen wird nicht mehr Jahre und Jahre dauern, Trudel!«
»Wer weiß? Und was haben sie alles den Juden und den anderen Völkern antun dürfen – ohne Strafe! Glaubst du wirklich, dass es Gott gibt, Mutter?«
»Ja, Trudel, das glaube ich. Otto wollte es ja immer nicht erlauben, aber das ist mein einziges Geheimnis vor ihm: ich glaube noch an Gott.«
»Ich habe nie so recht an ihn glauben können. Aber es wäre schön, wenn es Gott gäbe, denn dann wüsste ich doch, Karli und ich würden nach dem Tode zusammen sein!«
»Das werdet ihr, Trudel. Sieh einmal, auch