Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke


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Kopf steht in Fett­schrift zu le­sen: »Im Na­men des deut­schen Vol­kes«, ihre Stirn ver­deckt die Na­men der drei Ge­häng­ten …

      Und wie eine Vi­si­on steigt es vor ihm auf, dass ei­nes Ta­ges solch ein Pla­kat mit den Na­men von ihm und Anna und Tru­del an den Wän­den kle­ben könn­te. Er schüt­telt un­mu­tig den Kopf. Er ist ein ein­fa­cher Hand­ar­bei­ter, der nur sei­ne Ruhe ha­ben und nichts von Po­li­tik wis­sen will, Anna küm­mert sich nur um ih­ren Haus­halt, und solch ein bild­hüb­sches Mä­del wie die Tru­del dort wird bald einen neu­en Freund ge­fun­den ha­ben …

      Aber die Vi­si­on ist hart­nä­ckig, sie bleibt. Un­se­re Na­men an der Wand, denkt er, nun völ­lig ver­wirrt. Und warum ei­gent­lich nicht? Am Gal­gen hän­gen ist auch nicht schlim­mer, als von ei­ner Gra­na­te zer­ris­sen zu wer­den oder am Bauch­schuss kre­pie­ren! Das al­les ist nicht wich­tig. Was al­lein wich­tig ist, das ist: Ich muss raus­krie­gen, was das mit dem Hit­ler ist. Erst schi­en doch al­les gut zu sein, und nun plötz­lich ist al­les schlimm. Plötz­lich sehe ich nur Un­ter­drückung und Hass und Zwang und Leid, so viel Leid … Ein paar Tau­send, hat die­ser fei­ge Spit­zel, der Bark­hau­sen, ge­sagt. Als wenn es auf die Zahl an­käme! Wenn nur ein ein­zi­ger Mensch un­ge­recht lei­det, und ich kann es än­dern, und ich tue es nicht, bloß weil ich fei­ge bin und mei­ne Ruhe zu sehr lie­be, dann …

      Hier wagt er nicht wei­ter­zu­den­ken. Er hat Angst, rich­tig Angst da­vor, wo­hin ihn ein sol­cher zu Ende ge­dach­ter Ge­dan­ke füh­ren kann. Sein gan­zes Le­ben müss­te er dann viel­leicht än­dern!

      Statt­des­sen starrt er wie­der auf das Mäd­chen, über des­sen Kopf »Im Na­men des deut­schen Vol­kes« zu le­sen ist. Nicht gra­de ge­gen die­ses Pla­kat ge­lehnt, soll­te sie wei­nen. Er kann der Ver­su­chung nicht wi­der­ste­hen, er dreht ihre Schul­ter von der Wand fort und sagt, so sanft er kann: »Komm, Tru­del, nicht ge­gen die­ses Pla­kat …«

      Ei­nen Au­gen­blick starrt sie die ge­druck­ten Wor­te ver­ständ­nis­los an. Ihr Auge ist schon wie­der tro­cken, ihre Schul­tern be­ben nicht mehr. Dann kommt wie­der Le­ben in ih­ren Blick, nicht das alte, fro­he Leuch­ten, mit dem sie die­sen Gang be­tre­ten, son­dern et­was dun­kel Glü­hen­des. Sie legt ihre Hand fest und doch zärt­lich an die Stel­le, wo das Wort »ge­hängt« steht. »Ich werd nie ver­ges­sen, Va­ter«, sagt sie, »dass ich gra­de vor so ei­nem Pla­kat we­gen Otto ge­heult habe. Vi­el­leicht – ich möcht’s nicht –, aber viel­leicht wird auch mal mein Name auf so ei­nem Wisch ste­hen.«

      Sie starrt ihn an. Er hat das Ge­fühl, sie weiß nicht ge­nau, was sie spricht. »Mä­del!«, ruft er er­schro­cken. »Be­sinn dich! Wie sollst du und solch ein Pla­kat … Du bist jung, das gan­ze Le­ben liegt vor dir. Du wirst wie­der la­chen, du wirst Kin­der ha­ben …«

      Sie schüt­telt trot­zig den Kopf. »Ich krieg kei­ne Kin­der, so­lan­ge ich nicht be­stimmt weiß, sie wer­den mir nicht tot­ge­schos­sen. So­lan­ge ir­gend so ein Ge­ne­ral sa­gen kann: Mar­schier und kre­pier! Va­ter«, fährt sie fort und fasst jetzt sei­ne Hand fest in die ihre, »Va­ter, kannst du denn wirk­lich wie bis­her wei­ter­le­ben, jetzt, wo sie dir dei­nen Otto tot­ge­schos­sen ha­ben?«

      Sie sieht ihn ein­dring­lich an, und wie­der wehrt er sich ge­gen das Frem­de, das in ihn ein­dringt. »Die Fran­zo­sen«, mur­melt er.

      »Die Fran­zo­sen!«, ruft sie em­pört. »Re­dest du dich auf so was raus? Wer hat denn die Fran­zo­sen über­fal­len? Na wer, Va­ter? Sag doch!«

      »Aber was kön­nen wir denn tun?«, wehrt sich Otto Quan­gel ver­zwei­felt ge­gen die­ses Drän­gen. »Wir sind nur ein paar, und all die Mil­lio­nen sind für ihn, und jetzt nach die­sem Sie­ge ge­gen Frank­reich erst recht. Gar nichts kön­nen wir tun!«

      »Viel kön­nen wir tun!«, flüs­tert sie eif­rig. »Wir kön­nen die Ma­schi­nen in Un­ord­nung brin­gen, wir kön­nen schlecht und lang­sam ar­bei­ten, wir kön­nen de­ren Pla­ka­te ab­rei­ßen und an­de­re an­kle­ben, in de­nen wir den Leu­ten sa­gen, wie sie be­lo­gen und be­tro­gen wer­den.« Sie flüs­tert noch lei­ser: »Aber die Haupt­sa­che ist, dass wir an­ders sind als die, dass wir uns nie dazu krie­gen las­sen, so zu sein, so zu den­ken wie die. Wir wer­den eben kei­ne Na­zis, und wenn die die gan­ze Welt be­sie­gen!«

      »Und was er­rei­chen wir da­mit, Tru­del?«, fragt Otto Quan­gel lei­se. »Ich sehe nicht, was wir da­mit er­rei­chen.«

      »Va­ter«, ant­wor­tet sie. »Ich hab’s im An­fang auch nicht ver­stan­den, und ganz rich­tig ver­steh ich’s noch im­mer nicht. Aber, weißt du, wir ha­ben hier so im Ge­hei­men eine kom­mu­nis­ti­sche Zel­le im Be­trieb ge­bil­det, ganz klein erst, drei Män­ner und ich. Da ist ei­ner bei uns, der hat’s mir zu er­klä­ren ver­sucht. Wir sind, hat er ge­sagt, wie der gute Same in ei­nem Acker voll Un­kraut. Wenn der gute Same nicht wäre, stün­de der gan­ze Acker vol­ler Un­kraut. Und der gute Same kann sich aus­brei­ten …«

      Sie hält inne, als sei sie über et­was zu­tiefst er­schro­cken.

      »Was ist, Tru­del?«, fragt er. »Das mit dem gu­ten Sa­men, das ist kein schlech­ter Ge­dan­ke. Ich wer­de dar­über nach­den­ken, ich habe so viel nach­zu­den­ken in nächs­ter Zeit.«

      Aber sie sagt voll Scham und Reue: »Nun habe ich das mit der Zel­le doch aus­ge­plap­pert, und ich habe doch hei­lig ge­schwo­ren, es kei­nem ein­zi­gen Men­schen zu ver­ra­ten!«

      »Dar­über mach dir kei­ne Ge­dan­ken, Tru­del«, sagt Otto Quan­gel, und sei­ne Ruhe über­trägt sich un­will­kür­lich auf das ge­quäl­te Ding. »Bei dem Otto Quan­gel geht so was zum einen Ohr rein und zum an­de­ren raus. Ich weiß von nichts mehr.« Mit ei­ner grim­mi­gen Ent­schlos­sen­heit starrt er jetzt auf das Pla­kat. »Da könn­te die gan­ze Ge­sta­po kom­men, ich weiß eben von nichts mehr. Und«, setzt er hin­zu, »und wenn du willst, und es macht dich ru­hi­ger, so kennst du uns eben von die­ser Stun­de an nicht mehr. Du brauchst auch heu­te Abend nicht mehr zu Anna zu kom­men, ich mach’s ihr schon ir­gend­wie mund­ge­recht, ohne ihr et­was zu sa­gen.«

      »Nein«, ant­wor­tet sie dar­auf, si­cher ge­wor­den. »Nein. Zur Mut­ter gehe ich heu­te Abend noch. Aber ich wer­de es den an­de­ren sa­gen müs­sen, dass ich mich ver­plap­pert habe, und viel­leicht wird dich ei­ner ver­neh­men, um zu se­hen, ob du auch zu­ver­läs­sig bist.«

      »Die sol­len mir nur kom­men!«, sagt Otto Quan­gel dro­hend. »Ich weiß von nichts. Ich hab mit Po­li­tik noch nie was zu tun ge­habt, mein gan­zes Le­ben lang nicht. Auf Wie­der­se­hen, Tru­del. Ich wer­de dich wohl heu­te nicht mehr se­hen, vor zwöl­fe kom­me ich fast nie von der Ar­beit zu­rück.«

      Sie gibt ihm die Hand und geht dann den Gang zu­rück, in das In­ne­re der Fa­brik hin­ein. Sie steckt nicht mehr so voll von sprü­hen­dem Le­ben, aber sie ist im­mer noch vol­ler Kraft. Gu­tes Mä­del!, denkt Quan­gel. Tap­fe­rer Kerl!

      Dann steht Quan­gel al­lein auf dem Gang mit sei­nen Pla­ka­ten, die in dem ewi­gen Zug lei­se ra­scheln. Er schickt sich an zu ge­hen. Aber vor­her tut er noch et­was, das ihn selbst über­rascht: Er nickt dem Pla­kat, an dem Tru­del wein­te, zu – mit ei­ner grim­mi­gen Ent­schlos­sen­heit.

      Im nächs­ten Au­gen­blick schämt er sich sei­nes Tuns. Das ist ja blö­de Fatz­ke­rei! Dann macht er, dass er nach Hau­se kommt. Es ist die al­ler­höchs­te Zeit, er muss so­gar eine Elek­tri­sche neh­men, was sei­nem Spar­sinn, der manch­mal fast an Geiz grenzt, ver­hasst ist.

      1 Die Hit­ler­ju­gend oder Hit­ler-Ju­gend (ab­ge­kürzt HJ) war die