Es ist erst acht Uhr.«
»Ich will nicht hetzen. Mama, muss dieser Tag denn so beginnen?«
Wie anders mag es bei Stella und Ricky gewesen sein, dachte Katja und verspürte einen stechenden Schmerz.
»Soll ich Freude heucheln oder in Tränen ausbrechen, weil meine Tochter nun aus dem Haus geht?«, fragte Gerlinde.
Michaels Tür sprang auf. Er füllte den Rahmen fast aus.
»Das fängt ja gut an«, meinte er. »Willst du nicht wenigstens den Schein wahren, Mama? Du bist doch sonst so auf dein Prestige bedacht.«
In seiner Stimme lag ein warnender Unterton. Katja sah, wie ihre Mutter zusammenzuckte. Dann verschwand sie schnell in ihrem Zimmer. Michael kam die Treppe herunter.
»Warum ist sie nur so?«, fragte Katja bebend.
»Weiß der Himmel«, erwiderte er ausweichend. »Es ist bald überstanden, Katja. Süß schaust du aus. Und nun lächele, Schwesterlein. Es ist dein großer Tag.«
Ist es ein großer Tag, fragte sie sich. So vieles ist unklar.
Das Warten auf Jan wurde ihr zu quälender Ewigkeit. Michael versuchte sie abzulenken, aber seine Gedanken schweiften auch immer wieder ab.
Endlich war es neun Uhr. Ein zerbröckeltes Hörnchen blieb auf Katjas Teller zurück, als es läutete. Sie stürzte buchstäblich zur Tür, mitten hinein in Jans Arme. Sein inniger Kuss erlöste sie aus ihren Seelenqualen.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie Angst gehabt hatte, irgendetwas könnte noch dazwischengekommen sein.
»Wie geht es Vater?«, fragte sie.
»Erstaunlich gut. Bambi ist ein Schatz. Er ist richtig vergnügt. Wo ist denn meine Schwiegermutter?« Ihm gelang der leichte Ton nicht.
Michael klopfte an Gerlindes Tür.
»Ich hole dich halb elf Uhr ab, Mama«, sagte er laut. »Wir fahren jetzt zum Standesamt.«
»Ja, es ist gut«, erwiderte sie. »Ich kleide mich gerade an.«
Jan verlor kein Wort darüber. Seine Finger umschlossen Katjas Handgelenk. Sie saßen auf dem Rücksitz, während Michael den Wagen steuerte. Es war reger Verkehr. Fünf Minuten vor der angesetzten Trauung erreichten sie erst das Standesamt. Stella und Jörg warteten schon voller Ungeduld.
Jörg sollte neben Michael der zweite Trauzeuge sein, aber Stella hatte es sich nicht nehmen lassen, wenigstens zugegen zu sein.
Es ging alles so rasch, dass Katja sich kaum bewusst wurde, wie sie ihr Ja sagte und dass sie nun als Jans Frau wieder auf die Straße trat.
Die Dunstschleier, die den Himmel trübe gemacht hatten, waren verschwunden. Hell schien die Sonne auf sie herab und setzte silberne Lichter in Katjas blondes Haar. Sie sah wunderschön aus.
»Du bist meine Frau«, sagte Jan dicht an Katjas Ohr. »Du heißt jetzt Katja Roden.«
»Verlass mich nie, Jan!«, flüsterte sie.
»Dass du überhaupt solche Gedanken haben kannst«, bemerkte er weich. Dann zog er ihre Hand mit dem breiten goldenen Ring an seine Lippen. »Ich habe nur den einen Wunsch, dass du einmal unbeschwert glücklich sein wirst, mein Kleinchen.«
Fast die gleichen Worte sagte wenig später Sebastian Roden zu seiner Schwiegertochter. Er küsste sie innig auf beide Wangen.
»Mein Liebling«, murmelte er ergriffen. »Jetzt bin ich ganz ruhig.«
*
Michael hatte seine Mutter abgeholt. Das Sektfrühstück konnte beginnen.
Enthusiastisch schloss Gerlinde Reck ihre Tochter in die Arme. Sie sah blendend aus und gab eine vollendete Vorstellung. Wer sie nicht kannte, musste glauben, die zufriedenste Mutter vor sich zu haben.
Sie plauderte mit Stella und Jörg und sagte bedauernd, wie leid es ihr täte, dass sie nicht ihre Gäste wären. Katja konnte dieses Schauspiel kaum ertragen.
Für sie wurde es nun Zeit, sich für die Kirche umzukleiden. Ihr Brautkleid, Kranz und Schleier lagen bereit. Stella wollte ihr helfen.
Gerlinde hatte sich zu Sebastian Roden gesetzt und tat so, als hätten sie sich erst gestern zum letzten Mal gesehen. Dabei war sie ihm seit der Beerdigung ihres Mannes nicht mehr begegnet.
Als Katja und Stella verschwunden waren, bemerkte sie: »Wie bedauerlich, dass Heinz an diesem Tag nicht zugegen ist. Katja sagte mir, er sei in Afrika erkrankt.«
»Ich möchte mich dazu nicht äußern«, erklärte Sebastian Roden steif.
Bambi hatte vernommen, dass seine Stimme gereizt klang. Sie kam rasch näher.
»Möchtest du noch eine Tasse Tee, Onkel Sebastian?«, fragte sie.
Er streckte seine Hand nach ihr aus.
»Bleib bei mir, Bambi«, bat er.
»Sehr gern«, sagte sie. »Ich bin ein bisschen aufgeregt. Du auch?«
»Ja«, erwiderte er. »Es ist ein großer Tag für mich.«
Er war dankbar, Bambi bei sich zu wissen und Gerlinde damit am Reden zu hindern. Er konnte ihre Stimme nicht mehr ertragen, er wollte den Namen Heinz jetzt nicht hören und nicht an den Brief in seinem Schreibtisch denken, den er noch immer nicht geöffnet hatte.
Behutsam steckte Stella ihrer Freundin den Schleier auf. Sie machte es sehr geschickt und betrachtete kritisch ihr Werk.
»Ein wenig blass bist du, Katja«, stellte sie fest. »Soll ich dir etwas Make-up auflegen?«
Katja winkte ab. Plötzlich begannen ihre Augen zu brennen, weil sie wieder an die Lieblosigkeit ihrer Mutter denken musste. Stella sah, wie sie mit den Tränen kämpfte.
»Komisch ist es schon, wenn ein neuer Lebensabschnitt beginnt«, meinte sie. »Mir war an dem Tag auch flau im Magen. Hast du überhaupt etwas gegessen?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Katja geistesabwesend.
»Klapp mir bloß nicht zusammen! Komm, schau mich mal an.«
Aber Katja wandte sich ab, denn sonst hätte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten können.
Stella sagte lieber nichts mehr. Sie wusste ganz gut, wann Schweigen angebracht war.
»Ich sage Jan Bescheid, dass du bereit bist«, bemerkte sie leise.
»Wie gefällt dir Jan, Stella?«, fragte Katja gepresst.
»Sehr gut. Er ist ein Mann, auf den man sich verlassen kann. Das sagt Jörg auch.«
»Ich bin sehr froh, dass ihr da seid«, flüsterte Katja.
Jan kam mit dem Brautbukett aus zartrosa Rosen und Parmaveilchen. Es war zauberhaft.
Zuerst brachte er kein Wort über die Lippen, als er Katja anblickte. Stella hatte das Zimmer wieder verlassen. Dann beugte er sich zu Katja hinab und flüsterte: »Weißt du, dass ich dich liebe, Katja?«
Das Blut begann in ihren Schläfen zu pochen. Sie schlug die Augen zu ihm auf und legte ihre Hände auf seine Schultern.
Ich liebe dich auch, dachte sie. Ich liebe ihn wirklich. Aber sie konnte es nicht sagen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Und ich bin schrecklich aufgeregt«, fuhr er fort. »Du bist wunderschön.«
Kann ich schön sein mit all den Gewissensbissen, ging es ihr durch den Sinn. Stehen sie mir nicht auf dem Gesicht geschrieben?
»Ich möchte dir so gern etwas sagen, Jan«, murmelte sie.
»Wir haben noch viel Zeit, miteinander zu reden, Katja. Jetzt wird es Zeit für uns.«
Sie klammerte sich an seinen Arm. Sie suchte Trost und Heil bei ihm.
Als sie die Kirche betraten, waren alle bereits versammelt.