Friedrich Glauser

Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten


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Auf morgen! Ich bringe vielleicht noch einen wichtigen Zeugen mit…« Und Studer hängte den Hörer in die Gabel.

      Es tanzte niemand mehr. Die Tische waren alle besetzt. Die Kellnerin lief mit Tellern herum, auf denen schlanke Emmentaler-, feiste, fettropfende Kümmelwürste oder mattschimmernde Cervelats lagen. Vielbegehrt waren die Gläser mit dem hellgelben Senf. Wein erschien auf den Tischen, Flaschenwein. Armin Witschi hatte eine Flasche Neuenburger bestellt. Sonja nippte nur an ihrem Glas. Sie sah verschüchtert und ängstlich aus.

      Die drei Mann der ›Convict Band‹ in ihren scharfgelben Uniformen – und aus den kurzen Ärmeln kamen die Arme hervor, sehnig und braun – auch die Gesichter waren braun gegerbt – saßen um einen Tisch, den man ganz nahe an des alten Ellenbergers Tisch gerückt hatte. Aber Ellenberger thronte allein und steif auf seinem Platz – vor den Burschen standen zwei Flaschen Wein und eine große Platte Schinken.

      Studer schritt durch die Reihen der Vespernden, flüchtig bemerkte er, daß Armin Witschi ein höhnisches Lächeln aufgesetzt hatte – Sonja hatte die Wange gegen ihren Handrücken gelegt und starte ins Leere, ihr Glas war noch voll, unberührt lag die saftschwitzende Kümmiwurst auf ihrem Teller.

      Und der Wachtmeister nahm wieder neben dem alten Ellenberger Platz. ›The Convict Band‹ trank einmütig dem Wachtmeister zu. Ein leeres Glas stand plötzlich vor ihm – da erhob sich der Schreier, hielt die Flasche in der Hand und füllte das Glas…

      »In fünf Minuten vor der Post, Wachtmeister«, flüsterte der Bursche. »Ich muß Euch etwas zeigen…«

      Studer schielte auf Ellenberger, der nichts gehört zu haben schien, nickte Schreier unmerklich zu – was hatte das wieder zu bedeuten? Was wußte der Bursche? – stieß mit den dreien an, dem Buchegger, einem hagern Menschen mit einem unregelmäßigen Gesicht und schaufelförmigen Zähnen, dem Bertel, dessen Familienname er vergessen hatte, aber an den er sich dunkel erinnerte – hatte er den Burschen auch einmal geschnappt? Jetzt spielte er Baßgeige und hatte sich rangiert, scheinbar…

      Laut sagte der Wachtmeister:

      »Ich trinke auf das Wohl der Musik!« und leerte sein Glas. Ein dummes Sprichwort fiel ihm ein: »Wein auf Bier, das rat ich dir, Bier auf Wein, das lasse sein…« Er wurde die Worte nicht los, sagte sie laut, pflichtschuldigst lachten die drei, aber als das Lachen verklungen war, verkündigte Studer leise:

      »Der Schlumpf hat gestanden!«

      Es war merkwürdig, die Reaktion der vier am Tisch zu beobachten. Der alte Ellenberger räusperte sich und sagte ebenso leise:

      »Vous n'y comprendrez jamais rien, commissaire…« (er werde nie etwas von der Sache verstehen…)

      Der Bertel fuhr auf er sah aus wie ein schlaues Äffchen – und schmetterte einen Fluch hervor, in dem viel vom Heiland und von Millionen Sternen die Rede war.

      Buchegger, der magere Bär, sagte nur ein Wort:

      »Idiot!«

      Schreier aber fuhr sich durch das lange schwarze Haar, wandte das Gesicht ein wenig zur Seite, so daß die drei, die am andern Tisch, in etwa zwei Meter Entfernung, saßen, es deutlich verstehen mußten:

      »So, so, hat der Schlumpfli gestanden!« und deutete dem Wachtmeister mit einem leisen Ruck des Kopfes an, er möge die Sonja, ihren Bruder und den Coiffeurlehrling beobachten.

      Und wirklich war die Wirkung auf diesen Tisch noch merkwürdiger.

      Sonja fuhr zusammen, ihre Hand ballte sich zur Faust, sie setzte sich gerade und starrte ihren Bruder haßerfüllt an. Sie fragte ihn leise etwas. Armin zuckte mit den Schultern. Der Coiffeurgehilfe Gerber war blaß geworden, seine ohnehin käsige Gesichtsfarbe wurde grünlich, er tätschelte beruhigend Sonjas Arm, so, als wolle er andeuten, das Meitschi möge sich nicht aufregen, wenn der Schlumpf verloren sei, so sei er immerhin noch da… Dann wurde Sonjas Ausdruck ängstlich, sie wollte aufstehen, ihr Bruder und Gerber zogen sie auf den Stuhl zurück, drückten ihr das Glas in die Hand. Sonja trank. Sie zog ihr Schnupftuch aus der Handtasche, wischte sich die Augen, blickte in Studers Richtung – ihre Blicke begegneten sich, Studer hob leicht die Hand in einer beschwichtigenden Gebärde – da lächelte Sonja plötzlich voll Vertrauen, und Studer wußte, daß er auf die Hilfe des Mädchens irgend einmal würde zählen können.

      »Ich werd' wahrscheinlich den Schlumpf fallen lassen…«, sagte Studer laut, stand auf, grüßte in der Runde und verließ mit großen Schritten den Garten.

      Nach fünf Minuten holte ihn Schreier ein. Er hatte seine Uniform abgelegt und trug einen einfachen Anzug.

      Witschis Schießstand

       Inhaltsverzeichnis

      Ich kenn' den Schlumpf gut«, sagte Schreier und paßte seinen Schritt dem des Wachtmeisters an. »Und ich hab' ihm von Anfang an gesagt, wie er zum Ellenberger gekommen ist: ›Paß auf‹, hab' ich ihm gesagt, ›nur keine Weibergeschichten, das kommt immer schlecht heraus. Eine Kellnerin, das macht nichts. Aber nur kein Meitschi vom Dorf.‹ Hab' ich nicht recht, Wachtmeister?«

      Studer brummte, seufzte. Die Vorbestraften hatten es nicht leicht, wenn sie wieder draußen Arbeit gefunden hatten. Es brauchte sie nur einer wieder zu erkennen, ihnen »Zuchthäusler« nachzurufen – was sollten sie dann machen? Klagen? Man brauchte ja nicht einmal das Wort zu brauchen, das Wort, das als ärgste Beleidigung galt, einfach durch das Verhalten zu ihnen konnte man die Verachtung zeigen, die man für sie empfand. Im Grunde waren es ja meistens gar keine schlechten Teufel… Wie Studer damals den Schreier arretiert hatte, mit was war der Bursche beschäftigt? Er half der Frau, bei der er wohnte, Bohnen rüsten. Na, ja… »Was willst du mir zeigen?« fragte Studer.

      »Das werdet Ihr sehen, Wachtmeister. Der Witschi hat nämlich Selbstmord begangen…«

      Wieder diese Behauptung! Murmann war der gleichen Meinung… Selbstmord!… Aber Herrgott noch einmal! Der Witschi hatte doch nicht hexen können!…

      Er hatte wohl lange Arme gehabt, der Witschi. Aber angenommen, er hätte den Revolver hinter das rechte Ohr halten und den Schuß in dieser Stellung abgeben können, dann blieb dennoch eine unerklärliche Tatsache: der Mangel an Pulverspuren. Eine leichtere Ladung? Unwahrscheinlich. Wie dann? Angenommen, der Witschi hätte die Courage gehabt – dann war jemand nach dem Selbstmord gekommen, um den Browning zu holen. Den Browning, der dann unter dem Packpapier in der Küche der Frau Hofmann versteckt worden war. Von wem? Wer hatte den Revolver geholt? Eine abgekartete Sache?

      »Wie bist du auf den Gedanken gekommen, daß der Witschi sich selbst erschossen hat?«

      »Das will ich Euch gerade zeigen…«

      Auf der Straße heulten Autos. Motorräder knatterten gehässig. Man spürte den Sonntag. Verlassen sahen die Häuser aus, aber sie waren nicht stumm, nicht einmal heute. Ein Krächzen hier, ein Summen dort, manchmal ein Melodiefetzen… Die Lautsprecher Gerzensteins spielten mit den atmosphärischen Störungen, es war niemand da, der sie beaufsichtigte… So trieben sie Schabernack, für sich allein, um die Langeweile des einsamen Nachmittags zu würzen… In der Woche gab es so viel zu tun für sie. Sie sangen, sie spielten, sie sprachen. Professoren, Bundesräte, Pfarrer, Psychologen – gehorsam blökten die Lautsprecher die Worte nach, die irgendein bedeutender Herr von seinem Manuskripte ablas – und die Worte drangen in die Ohren der Gerzensteiner, durchweichten die Köpfe… Sie wirkten wie ein Landregen auf Moorland… Die Lautsprecher waren die Beherrscher Gerzensteins. Redete nicht selbst der Gemeindepräsident Aeschbacher mit der Stimme eines Ansagers?…

      Da war endlich Witschis Haus. Auch hier krächzte es durch die geschlossenen Läden, so laut, daß Studer zuerst meinte, es sei eine Gesellschaft in einem der Zimmer versammelt… Aber es war eben doch nur einer der einsamen Lautsprecher, der sich die Zeit vertrieb…

      Alpenruh

      in blauer Farbe, die abzubröckeln begann.