Ein trübes Begräbnis.
Natürlich regnete es wieder. Im Lättboden des Friedhofs füllten sich die Fußstapfen, kaum daß man den Schuh aus der zähen Erde gezogen hatte, mit gelbem Wasser. Wendelin Witschis Grab war nur von zehn Regenschirmen umstanden, und die Tropfen, die auf die zehn gespannten schwarzen Tücher fielen, trommelten einen leisen, traurigen Wirbel.
Der Pfarrer machte es kurz. Sonja schluchzte. Frau Witschi stand aufrecht neben ihrer Tochter. Sie weinte nicht. Armin war nicht gekommen. Nach dem Pfarrer sprach der Gemeindepräsident Aeschbacher ein paar Worte. Sie machten ihm sichtlich Mühe.
Studer stand neben Dr. Neuenschwander und war froh, daß er sich auf den Arm des Arztes stützen konnte. Aber als nun alle langsam auf das Friedhofstor zuschritten, machte sich Studer von seinem Begleiter los, holte den Gemeindepräsidenten ein und sagte:
»Herr Gemeindepräsident, ich sollt' mit Euch reden.«
»Mit mir, Wachtmeister?«
»Ja«, sagte Studer.
»So kommt!«
Aeschbachers Auto stand auf der Straße. Der Gemeindepräsident öffnete den Schlag, zwängte sich auf den Sitz vor das Steuerrad, winkte Studer. Der Wachtmeister stieg ein. Er schüttelte dem Arzte zum Abschied die Hand, dann schlug er selbst den Schlag zu.
Es war wenig Platz vorhanden, denn beide waren sie nicht gerade mager. Aeschbacher drückte auf den Anlasser. Studer starrte auf die Tasche, die am Wagenschlag angebracht war.
Aeschbacher schwieg. Das Auto kehrte, fuhr ins Dorf zurück, fuhr vorbei an den vielen, vielen Ladenschildern. Gerzenstein, das Dorf der Läden und Lautsprecher! – Wann hatte Studer das Dorf so genannt? War das lange her? Am Samstag. Und heute war Dienstag. Zwei Tage nur lagen dazwischen!
Die Lautsprecher waren nicht zu hören. Entweder war es noch zu früh, oder der Lärm des Autos übertönte ihre Musik, ihre Reden.
Das Dorf Gerzenstein! Ein Dorf? Wo waren die Bauern in diesem Dorfe? Man sah nichts von ihnen. Sie wohnten wohl hinter der Fassade der Läden , irgendwo, in den Hintergründen.
Aeschbacher schnaufte. Den Mann mußte viel bedrücken.
Und während der Wagen in die Bahnhofstraße einbog, auf dem kleinen Stück Weges, der von der Hauptstraße bis zur Druckerei des ›Gerzensteiner Anzeigers‹ führte, erlebte Studer noch einmal den gestrigen Abend.
Der Cottereau, der sich endlich entschlossen hatte zu sprechen. Der Cottereau, der gesehen hatte, wie Aeschbacher den Browning in eine jener Taschen versorgt hatte, die an den Türen der Autos angebracht sind. Cottereau erinnerte sich gut. Er war an jenem Abend spazierengegangen, an jenem Dienstagabend. Übrigens hatte er alle Personen des Dramas gesehen, den Lehrer Schwomm, der mit einer Schülerin aus der dritten Sekundarschulklasse spazierengegangen war (darum das verdächtige Schweigen des Lehrers!), den Wendelin Witschi, der von seinem ›Zehnderli‹ abgestiegen und im Wald verschwunden war, er hatte Aeschbachers Auto wiedererkannt, er hatte den Gemeindepräsidenten gesehen, wie er Witschi gefolgt war…
»Ich glaube, wir gehen zu mir in die Wohnung«, sagte Aeschbacher. Das Auto stand still vor einem eisernen Tor, dessen Spitzen vergoldet waren. Da war die Bogenlampe mit den steifen, roten Blumen um ihren Sockel, dort war der Bahnhof mit dem Kiosk, in dem sonst Anastasia Witschi Romane las, während sie auf Kunden wartete. Frau Anastasia Witschi, die mit dem Gemeindepräsidenten verwandt war…
Und als sie damals erfahren hatte, daß ihr Mann tot war, was hatte sie da gesagt?
»Zweiundzwanzig Jahre!«
Und war im Zimmer hin und hergelaufen.
»Wie Ihr wollt«, sagte Studer auf die Frage Aeschbachers, die eigentlich gar keine Frage, sondern eine Aufforderung gewesen war. Der Wachtmeister betrachtete den dicken Mann unauffällig von der Seite.
Bureaux. Mädchen saßen vor Schreibmaschinen und begannen wie wild auf die Tasten loszuhämmern, als Aeschbacher in der Tür auftauchte.
»Guten Tag, Herr Direktor, grüeß-ech, Herr Gemeindepräsident…«
Ein alter Mann, fast ein Zwerg, trat Aeschbacher in den Weg. Er hielt Druckbogen in der Hand. Der Zeigefinger, mit dem er den Linien des Gedruckten folgte, während er eifrig auf Aeschbacher einsprach, hatte eine verkrüppelte Spitze. Studer sah dies alles überdeutlich. Dabei fühlte er sich recht elend. Es war ihm, als bestünden seine Beine aus zusammengenähten Flanellappen, und als seien sie mit Sägespänen gefüllt.
Auf die weitschweifigen Bemerkungen des weißen Zwerges antwortete Aeschbacher nur zerstreut. Er drängte vorwärts, weiter, weiter. Den Hut hatte er abgenommen, die braune Locke klebte noch immer auf seiner Stirn.
Eine kleine Türe. Das Stiegenhaus. Im ersten Stock die Wohnungstür. Neben der Tür ein Messingschild, darauf in schwarzen Buchstaben: Aeschbacher. Kein Vorname, kein Titel, nichts. Es paßte zu dem Manne.
»Tretet ein, Wachtmeister«, sagte der Gemeindepräsident. War nicht ein ganz leichter Sprung in Aeschbachers Stimme? Sie klang zwar noch immer wie die Stimme des Ansagers vom Radio Bern, aber etwas hatte sich an ihr geändert. Oder, dachte Studer, bin ich auf einmal hellhörig geworden? Das Fieber? –
Er stand im Gang der Wohnung. Die Küchentüre stand offen. Es roch nach Suurchabis und Speck. Studer wurde es übel. Er hatte seit gestern Mittag keinen Bissen gegessen. Sein Magen hatte Generalstreik proklamiert. Mußte man noch lange in diesem Gang stehen?
Aus der Küche trat eine Frau. Sie war klein und mager und ihre Haare waren weiß wie Flieder. Ja, wie Flieder. Sie hatte graue Augen, die sehr still blickten. Es war wohl nicht immer einfach die Frau des Gemeindepräsidenten Aeschbacher zu sein.
»Meine Frau«, sagte Aeschbacher. Und: »Wachtmeister Studer.«
Ein leichtes Erstaunen in den grauen Augen. Dann wechselte der Ausdruck, wurde ängstlich.
»Es ist doch nichts Böses passiert?« fragte sie leise.
»Nein, nein«, sagte Aeschbacher beruhigend. Dabei legte er seine große dicke Hand auf die schmale Schulter seiner Frau, und die Bewegung war so zart, daß es Studer plötzlich vorkam, als kenne er jetzt den Gemeindepräsidenten viel besser als früher. Es war im Leben eben immer ganz anders, als man meinte. Ein Mensch war nicht nur ein brutaler Kerl, er konnte scheinbar auch anders…
Ein großes Zimmer, wahrscheinlich als Rauchsalon gedacht. Ein paar Bilder an der Wand, Studer kannte sich in der Malerei nicht aus, aber die Bilder schienen ihm schön. Große Reproduktionen, farbig, Sonnenblumen, eine südfranzösische Landschaft, ein paar Radierungen. Die Tapete war grau, auf dem Boden lag ein weißer Teppich, der mit einem schwarzroten Muster durchsetzt war.
»Meine Frau hat das eingerichtet«, sagte Aeschbacher. »Sitzet ab, Wachtmeister. Was trinket Ihr?«
»Was Ihr wollt«, antwortete Studer, »nur nicht Himbeersirup oder Bier.«
»Kognak? Ja? Ihr seht nicht gut aus, Wachtmeister. Wo fehlt's? Sollt Euch meine Frau einen Grog machen? Ich glaub Ihr trinkt Grog gerne?«
Eine unangenehme Situation. Warum war dieser Aeschbacher so höflich? Was steckte dahinter?
Der Gemeindepräsident ging hinaus, nachdem er Studer einen Stumpen angeboten hatte. Es war ein guter Zehner-Stumpen, aber er schmeckte wie verbrannter Kautschuk. Studer zog mit Todesverachtung.
Aeschbacher kam zurück. Er trug drei Flaschen: Kognak, Gin, Whisky. Hinter ihm kam seine Frau. Sie stellte ein Tablett auf den Tisch: Zucker, Zitronenscheiben, eine Kanne mit heißem Wasser, zwei Gläser.
»Wir müssen unsern Wachtmeister kurieren«, sagte Aeschbacher und lächelte mit gesträubtem Katerschnurrbart, er hat sich erkältet. Und ein erkälteter Fahnder kann nur schwer eine Verhaftung vornehmen; nicht wahr, Wachtmeister?«
Und Aeschbacher