wirkliche Wahrheit ist. Aber ich kenne sehr gut die Lüge. Wenn ich die Sache aufgebe und der Schlumpf wird frei, und das Gericht legt den Fall zu den Akten, wie man sagt, dann ist alles ganz gut und schön. Und schließlich bin ich kein Richter und Ihr müßt mit Eurer Tat allein fertigwerden.« Immer langsamer sprach Studer. Er sah nicht auf, er wollte den Blicken Aeschbachers nicht begegnen, verzweifelt starrte er auf ein kleines Muster im Teppich: ein schwarzes Rechteck, das von roten Fäden durchzogen war und das ihn, weiß der Himmel warum, an Witschis Hinterkopf erinnerte. Genauer: an die spärlichen Haare, durch die sich Blutfäden zogen.
»Allein fertigwerden, das ist es. Und ich weiß nicht, ob Ihr das könnt. Ihr spielt gerne, Aeschbacher, spielt mit Menschen, spielt an der Börse, spielt mit Politik. Ich habe manches über Euch gehört. Ich würd' Euch gern laufen lassen… Aber da ist die Geschichte mit der Sonja. Lueget, Aeschbacher, die Sonja! Das Meitschi hat's nicht schön gehabt. Ihr habt es einmal auf die Knie genommen, der Vater ist dann dazu gekommen… Hat der Wendelin Witschi damals wirklich unrecht gehabt mit seiner Behauptung? Nein, schweigt jetzt. Ihr könnt nachher reden. Ihr müßt nicht meinen, ich sei ein Stündeler. Ich versteh auch Spaß, Aeschbacher; aber irgendwo muß der Spaß aufhören. Ihr habt vieles auf dem Gewissen, nicht nur den Wendelin Witschi. Und ich möcht nicht, daß Ihr auch die Sonja auf dem Gewissen habt. Versteht Ihr?«
Die Wolken draußen sanken immer tiefer, es wurde düster im Zimmer. Aeschbacher saß vergraben in seinem Stuhl, Studer konnte nur seine Knie sehen. Ein heiseres Krächzen war hörbar, man wußte nicht, war es ein Räuspern oder ein unterdrücktes Lachen.
Was er sonst noch von Euch gewußt hat, der Wendelin Witschi, hab' ich nicht erfahren…« Das Reden ging jetzt leichter. Aber immer noch sprach Studer langsam, und was das Merkwürdigste war, es war wie eine Spaltung seiner Persönlichkeit: er sah das Zimmer von oben, sah sich selbst, nach vorne gebeugt, mit gefalteten Händen, im Stuhle sitzen und dachte dabei: »Studer, du siehst sicher aus, wie ein Pfarrer, wenn er eine Kondolenzvisite macht.« Aber auch das verging wieder, und er sah plötzlich das Zimmer des Untersuchungsrichters und den Schlumpf, der seinen Kopf auf den Schoß des Mädchens gelegt hatte.
»Wenn's darauf ankommt«, sagte Studer, »wird auch das noch zu ermitteln sein. Ich habe mir sagen lassen, daß Ihr mit Mündelgeldern spekuliert habt, Aeschbacher; Ihr seid doch hier in der Vormundschaftsbehörde… und daß Ihr das Geld wieder zurückgezahlt habt, aber, daß der Witschi davon gewußt hat. Er ist doch mit Euch in der Fürsorgekommission gesessen? Oder? Ihr braucht nicht zu antworten. Ich erzähl' Euch das nur, damit Ihr den Studer nicht für einen Löli haltet. Der Wachtmeister Studer weiß auch einiges…«
Schweigen. Studer stand auf, aber immer noch ohne auf Aeschbacher zu schauen, griff nach einer Flasche, schenkte sich ein, leerte das scharfe Zeug, setzte sich wieder und zog eine Brissago aus dem Etui. Merkwürdig, aber sie schmeckte. Sein Herz machte zwar noch immer Seitensprünge; – aber, dachte er, heut' nachmittag werd' ich ins Spital fahren. Dort hat man Ruhe.
»Soll ich Euch erzählen, wie die ganze Geschichte gegangen ist, Aeschbacher? Ihr braucht gar nicht zu sprechen.
Ihr braucht weder ja noch nein zu sagen. Ich erzähl' sie so mehr für mich.«
Und Studer faltete wieder die Hände und starrte auf das Muster im Teppich, das ein schwarzes Rechteck darstellte mit roten Fäden darin.
»Eure Base hat Euch erzählt, was der Witschi vorhatte. Von ihr habt Ihr auch erfahren, wann der Witschi seinen Plan ausführen wollte. Aber Ihr trautet dem Witschi nicht. Ihr wußtet, daß er feig war – mein Gott, ein Erpresser ist immer feig – und Ihr dachtet, daß er es nicht einmal wagen würde, sich selbst zu verwunden. Darum seid Ihr mit Eurem Auto an jenen Platz gefahren. Und den Platz habt Ihr ja ganz genau gewußt. Der Augsburger hat damals schon bei Euch gewohnt. Warum habt Ihr den Mann bei Euch aufgenommen? Waret Ihr etwa eifersüchtig auf den Ellenberger? Wolltet Ihr auch Euren entlassenen Sträfling haben? Nun, das ist ja gleich. Ihr seid also mit Eurem Auto zu jenem Platz gefahren und habt darauf gerechnet, daß der Armin sich verdrücken würde, wenn er Euer Auto höre. Das hat er gemacht. Dann habt Ihr schön Zeit gehabt, die Brieftasche des Witschi zu durchsuchen. Das Dokument, mit dem er Euch erpreßt hat, war wohl in der Brieftasche? Und dann seid Ihr weiter in den Wald gegangen. Dem Witschi konnte man leicht folgen, er hat wohl genug Lärm gemacht. Dann ist es still geworden, Ihr habt gewartet. Ihr habt einen Schuß gehört, seid näher gekommen. Der Witschi ist dagestanden, den Browning noch in der Hand – unverletzt. Was Ihr dann mit ihm gesprochen habt, weiß ich nicht. Ich bin sicher, Ihr habt Eure Rolle gut gespielt. Arm um die Schultern gelegt, wahrscheinlich, ihn getröstet, ihn ein wenig weitergeführt.
Und Eure Pistole habt Ihr wohl in der Tasche gehabt. Dann habt Ihr Euch von ihm verabschiedet, seid ein paar Schritte von ihm weg, einen Meter vielleicht, und habt ihn von hinten erschossen.«
Pause. Studer nahm noch einen Schluck. Merkwürdig, daß er gar keine Betrunkenheit spürte, im Gegenteil, er wurde nüchterner, es schien ihm, als werde sein Kopf immer klarer, der unangenehme Stich war verschwunden. Er zündete umständlich seine Brissago wieder an, die während des Redens ausgegangen war.
»Zwei Fehler, Aeschbacher, zwei große Fehler!« sagte Studer, wie ein Lehrer, der einen begabten Schüler nicht tadeln, sondern im Gegenteil fördern will.
»Der erste: Warum nicht Witschis Revolver nehmen? Armin hätte ihn gefunden; die ganze Geschichte hätte reibungslos geklappt. Ich wäre höchstens bis zum Selbstmord vorgedrungen, nie weiter. Und der zweite Fehler, aus dem alle übrigen sich dann ergeben haben: Warum den Browning in jener Automobiltasche lassen? Irgendwer hat ihn doch finden müssen. Und daß ihn gerade der Augsburger, der kleine Einbrecherdilettant, hat finden müssen, das war Pech… Pech? Vielleicht habt Ihr das gerade gewollt?«
Studers Augen hatten sich endlich von dem schwarzen Muster losgerissen. Er starrte nun auf ein anderes, das wie ein Haus aussah, dachte an einen Spruch, der in blauer Farbe an eine Wand gemalt war, und die Farbe begann abzubröckeln: ›Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein.‹
»Es ist merkwürdig mit uns Menschen«, fuhr Studer fort, »wir tun manchmal gerade das, was wir vermeiden möchten, das, wovor unser Verstand uns warnt. Ein Bekannter von mir, der nun tot ist, sprach immer von Unterbewußtsein. Als ob das Unterbewußte einen eigenen Willen hätte. Und bei Euch, Aeschbacher, muß ich immer an so etwas denken. Denn Ihr habt doch alles getan, damit man auf Euch aufmerksam wird. Und das kann man nicht nur mit Eurer Spielleidenschaft erklären, es steckt wohl etwas anderes dahinter. Im Grunde habt Ihr doch gewollt, daß der Mord auskommt. Sonst hättet Ihr doch nicht den Gerber und den Armin mit Eurem Auto ausgeschickt, um den Ellenberger und den alten Cottereau zu überfahren. Wer hat Euch erzählt, daß der Cottereau Euch gesehen hatte? Der Augsburger?«
»Ich hab den Augsburger damals mitgenommen, wie ich den Witschi hab treffen wollen…« Ganz ruhig kam die Stimme von drüben. Keine Aufregung brachte sie zum Zittern. Sie klang genau wie die Stimme des Ansagers, wenn er verkündete: »Die Überschwemmungen im unteren Rhonegebiet haben große Ausmaße angenommen.«
»Und Ihr habt nicht Angst gehabt, daß er Euch verraten würde?«
»Er war ein treuer Bursch. Später hätt ich ihn ins Ausland geschickt…«
»Aber er wurde gesucht. Und der Autodiebstahl…«
»Mein Gott«, sagte Aeschbacher, »solche Leute gehen nicht so sparsam mit den Jahren um, wie wir.«
Studer nickte. Das stimmte.
»Und«, fuhr Aeschbacher fort, »den beiden anderen Burschen hab' ich angegeben, ein Tschucker wolle sich in unsere Angelegenheiten mischen… Sie haben viel Kriminalromane gelesen, die Burschen, sie haben es gerne gemacht. Sie wollten John Kling spielen.«
Einen Augenblick übermannte den Wachtmeister schier der Stolz. Er hatte den Aeschbacher dazu gebracht, zu sprechen; er hatte ihn gezwungen, zuzugeben. Da blickte er zum erstenmal auf und der Stolz verging ihm. Ihm gegenüber, im tiefen Stuhl, saß ein zusammengesunkener Mann, der schwer atmete. Das Gesicht war rot angelaufen, die Hände zitterten, der Mund stand ein wenig offen. Aber nur einen Augenblick verblieb der Mann so. Dann schloß sich der Mund, die Augen blickten wieder gerade