Friedrich Glauser

Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten


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bei der Kantonspolizei, und in sechs Jahren würde man in Pension gehen. Eigentlich war alles noch gnädig verlaufen… Aber seit jener Bankaffäre lief einem der Ruf nach, man spinne ein wenig, und so war eigentlich der Oberst Caplaun daran schuld, daß man zusammen mit einem Dr. Laduner in die Heil- und Pflegeanstalt Randlingen fuhr, um das mysteriöse Verschwinden des Herrn Direktor Borstli und das Entweichen des Patienten Pieterlen aufzuklären…

      »Besinnen Sie sich wirklich nicht, Studer? Damals in Wien?« Studer schüttelte den Kopf. Wien? Er sah immer nur die Hofburg und die Favoritenstraße und das Polizeipräsidium und einen alten Hofrat, der den berühmten Professor Groß gekannt hatte, die Leuchte der Kriminalistik… Aber er sah den Dr. Laduner nicht.

      Da sagte der Arzt, und seine Augen blickten angestrengt auf die Landstraße:

      »An Eichhorn erinnern Sie sich nicht mehr, Studer?«

      »Exakt, Herr Doktor!« sagte Studer, und er war geradezu erleichtert. Darum legte er auch seine Hand auf den Arm seines Begleiters. »Eichhorn! Natürlich! Und Ihr seid jetzt bei der Psychiatrie? Ihr wolltet doch damals die Jugendfürsorge in der Schweiz reformieren?«

      »Ach, Studer!« Dr. Laduner bremste ein wenig, denn ein Lastauto kam ihnen entgegen und hielt die Mitte der Straße. »In der Schweiz treffen sie nur Maßnahmen, und was das Traurigste ist, sie treffen sie gewöhnlich nicht einmal, sondern schießen daneben…«

      Studer lachte; sein Lachen war tief. Dr. Laduner stimmte ein: das seine war ein klein wenig höher…

      Eichhorn !…

      Studer sah eine kleine Stube vor sich, darin acht Buben, zwölf- bis vierzehnjährig. Das Zimmer war ein Schlachtfeld. Der Tisch demoliert, die Bänke zu Brennholz zerkleinert, die Scheiben der Fenster zersplittert. Er stand unter der Tür und sah, wie gerade ein Bub auf einen andern mit dem Messer losging. »Ich mach dich hin!« sagte der Bub. Und in einer Ecke stand Dr. Laduner und sah zu. Als er Studer in der Türe bemerkte, winkte er ganz sanft mit der Hand ab – Machen lassen! Und der Bub warf plötzlich das Messer von sich, begann zu heulen, traurig und langgezogen, wie ein geprügelter Hund, während Dr. Laduner aus seiner Ecke hervorkam und mit ruhiger, sachlicher Stimme sagte: »Bis morgen ist dann das Zimmer in Ordnung und die Scheibe eingesetzt… Ja?« Und der Knabenchor sagte: »Ja!«

      Das war in der Anstalt für Schwererziehbare in Oberhollabrunn gewesen, sieben Jahre nach dem Krieg. Eine Anstalt ohne Zwangsmittel. Und ein gewisser Eichhorn, ein unscheinbarer, hagerer Mann mit braunem, schlichtem Haar hatte es sich in den Kopf gesetzt, einmal ohne Pfarrer, ohne Sentimentalität, ohne Prügel zu versuchen, ob nicht aus der sogenannten verwahrlosten Jugend etwas herauszuholen sei. Und es war ihm gelungen. Das Erziehungswesen hatte damals gerade ein Mann unter sich, der zufälligerweise Grütze im Kopf hatte. So etwas kommt vor. In diesem besondern Falle war es also ein Mann gewesen, dem die höchst einfache Idee des Herrn Eichhorn eingeleuchtet hatte. Diese Idee war folgende: Die kleinen Vaganten kennen nur einen ewigen Kreislauf: Verfehlung, Strafe, Verfehlung, Strafe. Durch Strafe wird der Protest gereizt, und der Protest macht sich Luft, indem er zu neuen ›Schandtaten‹ treibt. Wie nun aber, wenn man die Strafe ausschaltet? Muß sich da der Protest nicht einmal leerlaufen? Vielleicht kann man dann von neuem beginnen, vielleicht aufbauen, ohne moralischen Schwindel oder, wie Dr. Laduner damals gesagt hatte: ›ohne religiösen Lebertran…‹

      In Fachkreisen hatte man von den Eichhornschen Versuchen viel gesprochen, und als Studer damals nach Wien gefahren war, hatte man ihm empfohlen, sich die Sache einmal anzusehen.

      Er war gerade in dem Moment erschienen, als der Protest bei der bösesten Bande ›am Ablaufen war‹. Und das hatte ihm Eindruck gemacht. Am Abend war noch etwas hinzugekommen. Als Landsmann hatte ihn Dr. Laduner, der bei Eichhorn als Volontär arbeitete, zu dem Direktor mitgenommen. Man hatte gesprochen, langsam, bedächtig. Studer hatte von Tessenberg erzählt, der Erziehungsanstalt im Kanton Bern, und wie bös es eine Zeitlang dort zugegangen sei… Da war es zehn Uhr, und es läutete an der Haustür. Eichhorn ging öffnen und kam mit einem Knaben zurück, sagte zu ihm: »Setzen Sie sich. Haben Sie Hunger?«, ging dann selbst in die Küche und brachte belegte Brote. Der Knabe war ausgehungert… Bis elf Uhr war er mit den drei Männern zusammen, dann führte ihn Eichhorns Frau ins Gastzimmer. Nachher erzählte Dr. Laduner, der Junge sei schon zum dritten Male durchgebrannt. Diesmal sei er freiwillig zurückgekommen. Darum der freundliche Empfang. Und Studer hatte für die beiden Männer, den Dr. Laduner und den Herrn Eichhorn, ehrliche Hochachtung empfunden…

      »Was macht der Herr Eichhorn jetzt?« fragte Studer.

      »Verschollen.«

      So war das immer! Einer versuchte etwas Neues, Nützliches, etwas Vernünftiges, das ging zwei, drei Jahre… Dann war er plötzlich verschwunden, untergegangen. Nun, Dr. Laduner hatte zur Psychiatrie hinübergewechselt… Fragte sich nur, wie er mit dem alten Ulrich Borstli ausgekommen war, mit dem Direktor, der verschwunden war.

      Einen Augenblick dachte Studer daran, nach den nähern Umständen des Verschwindens zu fragen, ließ es aber sein, denn das Bild des jungen Dr. Laduner in der Ecke des demolierten Zimmers vor dem Buben, der auf seinen Kameraden mit gezogenem Messer losging, wollte ihn nicht loslassen… Den psychologischen Moment erfassen, an dem eine Situation reif ist!… Er hatte damals schon allerhand verstanden, der Dr. Laduner!… Und Wachtmeister Studer fühlte sich geschmeichelt, daß er angefordert worden war, und daß er Dr. Laduners Gast sein sollte…

      Eins war immerhin merkwürdig: Damals in Wien hatte der Arzt noch nicht das Maskenlächeln getragen, das Lächeln, das aussah, als sei es vor einem Spiegel aufgeklebt worden… Und dann: vielleicht war der Eindruck falsch, kontrollieren ließ er sich nicht, aber es schien doch, als hocke Angst in den Augen des Dr. Laduner.

      »Da ist die Anstalt«, sagte der Arzt und zeigte mit der rechten Hand durch ein Seitenfenster. Ein roter Ziegelbau, soviel man sehen konnte in U-Form, mit vielen Türmen und Türmchen. Tannen umgaben ihn, viele dunkle Tannen… Nun war der Bau verschwunden, er tauchte wieder auf, da war das Hauptportal, und zum Eingangstor führten abgerundete Stiegen empor. Der Wagen hielt. Die beiden stiegen aus.

      Brot und Salz

       Inhaltsverzeichnis

      Auf das erste Fenster rechts vom Eingang wies Dr. Laduner und sagte:

      »Das Büro des Direktors…«

      Ein faustgroßes Loch in der untern Scheibe links… Glassplitter lagen auf dem Fenstersims und auf dem Beet verstreut, das die Einfahrt von der roten Mauer trennte.

      »Drinnen sieht es ziemlich grausig aus. Blut am Boden, die Schreibmaschine neben dem Fenster streckt alle Tasten von sich, der Bürostuhl ist in Ohnmacht gefallen… Wir können uns die Bescherung später ansehen, es pressiert nicht, und dann können Sie ja Ihre kriminologischen Fachstudien in Ruhe betreiben…«

      Warum klang nur das Witzeln so gezwungen?… Gekünstelt?… Studer blickte auf Dr. Laduner, so, als müsse er ein Bild festhalten, das im nächsten Augenblick ganz anders aussehen würde… Der graue Anzug, das leuchtende Kornblumenblau der Krawatte und die Strähne, die abstand wie der Federschmuck vom Kopfe eines Reihers… Das Lächeln – die Zähne des Oberkiefers waren breit, wohlgeformt, elfenbeingelb… Sicher rauchte Dr. Laduner viele Zigaretten…

      »Kommen Sie, Studer, wir wollen nicht anwachsen. Eins will ich Ihnen sagen, bevor wir eintreten durch dieses Tor: Sie kommen zum Unbewußten zu Besuch, zum nackten Unbewußten, oder wie es mein Freund Schül poetischer ausdrückt: Sie werden eingeführt ins dunkle Reich, in welchem Matto regiert. Matto!… So hat Schül den Geist des Irrsinns getauft. Poetisch, gewiß…« – Dr. Laduner betonte das Wort auf der ersten Silbe. – »Wenn Sie aus der ganzen Sache klug werden wollen, und ich habe eine dunkle Ahnung, daß sie komplizierter ist, als wir jetzt meinen, wenn Sie klug werden wollen, so werden Sie in viele Häute schlüfen müssen…« (›schlüfen‹ sprach der Arzt wie ein schriftdeutsches Wort aus)… »in meine Haut zum Beispiel, in die vieler Pfleger, diverser Patienten… ›Patienten‹