wolle. Er fahre sowieso nach Bern…«
»Wo ist die Sichlete gefeiert worden?«
»Geht dort zur hintern Tür hinaus. Dann ist grad vor euch das Kasino. Die Tür ist offen. Ihr werdet ungestört sein…«
Das Kasino! Wie in Nizza oder Monte Carlo! Und dabei war man in der Heil- und Pflegeanstalt Randlingen…
Es sah aus wie nach einem Vereinsfest: Asche am Boden, zerrissene Papiergirlanden an den Wänden, weiße Tischtücher, auf denen Brotreste herumlagen. Die Luft roch nach erkaltetem Rauch. Im Hintergrund eine Bühne, ein Tisch darauf, Weingläser… Die Honoratioren, wie Dr. Laduner sagte, hatten keinen Tee getrunken… Spitzbogenfenster mit billigen farbigen Butzenscheiben gaben dem Raum etwas Kirchenähnliches. Eine Kanzel, die an der Seitenwand hing, etwas über dem Boden, verstärkte noch den Eindruck. Vielleicht hatten die Kirchen während der Französischen Revolution so ausgesehen, wenn man in ihnen das Fest der Vernunft gefeiert hatte…
Studer nahm einen Stuhl und setzte sich der Bühne gegenüber. Er zündete eine Brissago an, und dann begann er kleine Bewegungen mit seiner rechten Hand zu machen, wie ein Regisseur, der zu Beginn einer Szene den Schauspielern die Plätze anweist…
Auf der Bühne der Direktor… Wahrscheinlich saß er in der Mitte des Tisches, auf jenem Armstuhl, der ein wenig schief dastand, so, als sei einer hastig aufgesprungen. Rechts von ihm Dr. Laduner, links von ihm der Verwalter… Die Assistenzärzte.
Der vierte Arzt, dessen Frau die Schwester der zweiten Frau des Direktors war… Komplizierte Familiengeschichten. Der vierte Arzt war also sozusagen ein Schwager des Direktors. Wie hieß dieser Herr? Eigentlich hätte man sich gleich nach seinem Namen erkundigen können, auch wenn es das Namensregister verlängerte.
Dort in der Ecke stand ein altes Klavier… Wer hatte den Patienten Pieterlen, der die Handharfe spielte, begleitet? – Und dann hatte man getanzt… Hier im freien Raum zwischen den Tischen. Männlein und Weiblein zusammen, Pfleger und Pflegerinnen. Und die Patienten hatten – wie hatte Dr. Laduner das ausgedrückt? – ah ja, ›erotische Spannungen abreagiert‹…
Item. Um zehn Uhr wurde der Direktor ans Telephon gerufen. Vom Abteiliger – wie hieß er? – Jutzeler. Wurde vom Abteiliger Jutzeler ans Telephon gerufen. – Schreiben wir in unser Notizbuch, der Abteiliger Jutzeler sei zu fragen, ob eine männliche oder weibliche Stimme den Direktor verlangt habe… Das Telephon… Wo war das Telephon?…
Studer stand auf, er ging zum Klavier hinüber, schlug einige Tasten an… Arg verstimmt, der Kasten!… Dann stieg er auf die Bühne – es kostete Mühe – und begann gebückt den Tisch zu umkreisen. In seinem dunklen Anzug, tief gebeugt, sah er aus wie ein riesiger Neufundländer, der eifrig eine Spur sucht. Er hob einen Zipfel des Tischtuches, bückte sich: Ein Kärtchen, blau, arg beschmutzt. Hulligerschrift… Eine brave Schülerinnenschrift… »Ich läut Dir dann um zehn Uhr an, Ueli. Wir gehn dann spaziren.« Spaziren ohne e… – Keine Unterschrift.
Keine Unterschrift. Wenn das Kärtchen auch nicht gerade unter dem Armstuhl gelegen wäre, so wäre es dennoch nicht schwer zu erraten gewesen, für wen es bestimmt war.
Wo war das Telephon? Studer stieg von der Bühne herab, sah sich um, und da entdeckte er in einer Nebenkammer den Apparat.
Er war schwarz und hatte eine weiße Scheibe mit einstelligen Ziffern, von eins bis neun. Wie ein gewöhnlicher Apparat in der Stadt. In der Mitte der Scheibe stand die Nummer 49. Neben dem Telephon hing an der Wand eine Tabelle. In kleiner Druckschrift war an ihrem Fuße angegeben: »Alle rot gedruckten Nummern haben direkten Anschluß nach auswärts.«
›12 Direktor‹ war natürlich rot gedruckt, ›13 zweiter Arzt‹ auch, Verwaltungsbüro und so weiter. Aber die Nummern der Abteilungen waren schwarz. Wachsaal B (Männerseite) hatte Nummer 44. Und das Kasino mit Nummer 49 war auch schwarz gedruckt.
Also – logische Feststellung: Der Herr Direktor Borstli war vom Innern der Anstalt aus ans Telephon gerufen worden. Wäre er von auswärts verlangt worden, hätte ihn der Portier Dreyer holen müssen und der Direktor hätte vom Direktionsbüro aus sprechen müssen oder von seiner Wohnung.
Ein Meitschi hatte ihm angeläutet… »Ich läut Dir dann um zehn Uhr an, Ueli…« Um zehn Uhr geht man mit einem Meitschi spazieren. Vielleicht war der Spaziergang ausgedehnter gewesen, als er zuerst vorgesehen war, man war nicht zurückgekehrt, hatte einen Frühzug genommen nach Thun, nach Interlaken, auch im Tessin war es sicher jetzt ganz schön, jetzt, wo der Herbst begann.
Und das verwüstete Büro hatte keine verbrecherische Bedeutung; das Verschwinden des Patienten Pieterlen war ein Zufall, und es bestand kein ›Konnex‹, um mit Dr. Laduner zu reden, von ›Imponderabilien‹ ganz zu schweigen.
Vielleicht war man vom kantonalen Polizeidirektor ganz umsonst zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett geschellt worden. Blieb immerhin die merkwürdige Forderung Dr. Laduners, die Forderung, »behördlich gedeckt zu werden…«
Da konnte vielleicht etwas dahinterstecken. Besonders, wenn man berücksichtigte, daß der berüchtigte Oberst Caplaun noch in die Geschichte hineinspielte. Sein Sohn… Angstneurose… Gut und recht. Aber gebrannte Kinder scheuen das Feuer, und Wachtmeister Studer scheute den Obersten Caplaun…
›Hulligerschrift!‹ dachte er. ›Das Meitschi ist noch nicht lange aus der Schule.‹ – Und Studer lächelte ein wenig einfältig, weil er sich den alten Direktor Borstli in Pelerine und schwarzem, breitrandigem Hut vorstellte, Arm in Arm mit einem Mädchen. Der junge Totsch blickte voll Verehrung zu dem Manne auf, der ihm etwas ganz Großes schien, und träumte sicher davon, in nächster Zeit Frau Direktor zu werden…
Dr. Laduner würde einen auf die ›große Visite‹ mitnehmen wollen. Wahrscheinlich. Dann traf man wohl den Abteiliger Jutzeler und konnte ihn fragen, wie die Stimme am Telephon geklungen hatte… Man konnte den Nachtwärter Bohnenblust ins Kreuzverhör nehmen und herausbringen, auf welche Art der Patient Pieterlen entwichen war. Dann war alles im Blei, man konnte beruhigten Gemütes zusammen mit dem Dr. Laduner nach Bern zurückfahren, heim in die Wohnung auf dem Kirchenfeld…
Studer zog noch einmal sein Notizbuch, versorgte die blaue Karte mit der Hulligerschrift darin und begann dann, leise und mit viel künstlerischem Empfinden, das Lied vom Brienzer Buurli zu pfeifen. Er pfiff den Beginn der zweiten Strophe, als er aus der Tür des Kasinos trat, aber dann unterbrach er sein Pfeifen…
Denn ein sonderbares Gefährt fuhr vorbei. Ein Zweiräderkarren, eine Benne, und zwischen den Stangen tanzte ein Mann. Am anderen Ende der Benne aber war eine lange Kette befestigt, mit vier Querhölzern. Jedes dieser Querhölzer wurde von zwei Mannen gehalten, so daß also acht Mann an der Kette die zweirädrige Benne zogen. Neben dem sonderbaren Gefährt schritt ein Mann in blauem Überkleid. Er grüßte lächelnd, rief: »Ahalten! Ahalten han i gseit!« Der Mann zwischen den Stangen hörte auf zu tanzen, die acht Mann an der Kette standen still. Studer fragte mit einer Stimme, die vor Verwunderung ganz heiser war:
»Was isch denn das?«
»Der Randlinger Blitzzug!« lachte der Mann. Und erklärte dann zutraulich, das gehöre zur Arbeitstherapie, das sei, damit die Patienten mehr Bewegung hätten… Natürlich, nur die ganz Verblödeten brauche man dazu. Aber sie seien dann viel ruhiger… Und adjö woll!
»Hü, mitenand!« rief er. Und gehorsam fuhr der Blitzzug davon… Arbeitstherapie!… dachte Studer und konnte nicht aufhören mit Kopfschütteln. Heilung durch Arbeit!… Bei den Zugtieren war doch nichts mehr zu heilen!… Aber: Man war ja nicht Psychiater, sondern nur ein einfacher Fahnderwachtmeister… Gott sei Dank, übrigens…
Die weiße Eminenz
Die Türe neben dem Direktionsbüro flog auf, prallte gegen die Holzfüllung, und dann erfüllte dumpfes Stimmengemurmel die Parterrehalle des Mittelbaues. Aus dem Gemurmel sonderte sich eine quäkende und hüpfende Stimme