einem Zen-Kloster). Bashō reiste aber auch, um im Sinne des Zen durch persönliches, direktes Erleben der Erkenntnis nahe zu kommen; denn, so der haiku-Meister, der Dichter müsse das »was Kiefer ist, von der Kiefer lernen« und nicht den Fußstapfen der Altvorderen folgen, sondern sich aufmachen und das suchen, wonach auch jene auf der Suche waren. Im letzten Jahrzehnt seines Lebens unternahm Bashō, begleitet von seinen Schülern, fünf große Reisen durch Japan, aus denen seine beispiellosen haibun (Reisetagebücher) hervorgingen. In diesen Aufzeichnungen, von denen Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland (Oku no hosomichi, 1689) das bedeutendste ist, hielt Bashō Begegnungen, Reflexionen und Eindrücke fest – in ausdrucksstarker Prosa, aber noch eindrucksvoller in dichten haikus, die bis heute zu den besten in japanischer Sprache gerechnet werden und lange Zeit als ideale Muster hochgehalten wurden. Bis zuletzt ließ sich Matsuo Bashō das für ihn so wichtige Reisen nicht nehmen; er starb auf seiner letzten Wanderschaft im Jahr 1964, die ihn bis nach Nagasaki führen sollte.
Nicht nur auf Reisen, sondern auch auf organisierten Dichtertreffen umgab sich Bashō mit Schülern und Freunden, mit denen zusammen er Kettengedichte (renga) verfasste und diese dann in Gedichtsammlungen herausgab. Die bekannteste dieser Anthologien ist Das Affenmäntelchen (Sarumino, 1691), so benannt nach einen haiku Bashōs, das wiederum seine scharfe Aufmerksamkeit für die Details des Alltags und die mit ihnen verwobenen Gefühlsregungen offenbart:
Erster Winterregen!
Auch das Äffchen ersehnt sich
einen Regenmantel.
Im Kreise seiner Dichterfreunde und aus seinen Erfahrungen heraus entwickelte Bashō seinen eigenen shōfū-Stil, der sich von der allzu rigiden Poetik der alten haikai-Dichtung löste und trotz strenger Vorgaben große dichterische Freiheit erlaubte. Das Ziel des shōfū, und damit des haiku, ist, wie Irmela Hijiya-Kischnereit formuliert, die »mystisch-intuitive […] Anverwandlung aller Bereiche der Erscheinungswelt«1. Das heißt, über die scharfe Beobachtung des Details und dessen poetische Verarbeitung in der festen Form des haiku soll für Dichter wie Leser ein Schritt hin zum Staunen, und so hin zur Erleuchtung, getan werden. Fugano-michi, der Weg der Eleganz, war das oberste Mittel des shōfū-Stils: eine ungewöhnliche Prägnanz der Aussage bei gleichzeitiger Geschlossenheit des Gedichtes, die doch einen Nachhall (yoin) im Leser erlaubt. Das bedeutet, das haiku soll in 17 Silben ein abgerundetes Ganzes bilden und gerade dadurch etwas anregen im Leser, das den Blick über den kleinen Ausschnitt, den das Gedicht präsentiert, hinauslenkt auf ein unbestimmtes Anderes. So soll das haiku in immer wandelbarer Gestalt (ryūkō) das Unwandelbare (fueki) offenbaren.
Zwei Menschenleben!
Und dazwischen ganz üppig –
die Kirschblütenzeit.
Ein solches haiku, das im Detail auf das Ganze verweist und damit auf die unauflösliche Verwobenheit von allem mit allem, besitzt Wahrhaftigkeit (makoto).1
Die Kunst des haiku wurde zur Volkskunst in Japan, zum Volksspiel sozusagen, das einen scharfen Blick und das Staunen der Seele ausbilden soll. Auf die Lyrik des Westens im 20. Jahrhundert wiederum – als die Dichter am Rande der Verzweiflung nach neuen Ausdrucksformen in einer fundamentalen Sprachkrise suchten – hatte diese japanische Poesie des Sehens einen ungeheueren Einfluss.
Wichtige Werke:
Kai ōi (1672)
Oku no hosomichi (Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland, 1689)
Sarumino (Das Affenmäntelchen, 1691)
1 Der Begriff entstand im 19. Jahrhunderts aus der Zusammenziehung der ursprünglichen Bezeichnung haikai no hokku (= Erstgedicht in einer Kettengedichtsequenz).
1 Besonders die Werke des ›Dichterheiligen‹ Du Fu (712–770) mit ihrer melancholisch-reflexiven Grundstimmung und die weinseligen, lebensfrohen Verse des großen Li Bai (701–762) übten Einfluss auf Bashōs eigene Lyrik aus.
1 Irmela Hijiya-Kischnereit: »Matsuo (Munefusa) Bashō«. in: Axel Ruckaberle (Hg.): Metzler Lexikon der Weltliteratur. Stuttgart/Weimar: Metzler 2006. Band 2. S. 119–20. hier: S. 120.
1 vergl. Gero von Wilpert (Hg.): Lexikon der Weltliteratur. Band I. Stuttgart: Körner 1988. S. 122.
SOR JUANA INÉS DE LA CRUZ (JUANA INÉS DE ASBAJE Y RAMÍREZ DE SANTILLANA)
(1651–1695)
Die zehnte Muse – Der Impuls moderner Poesie
Die Nonne Juana Inés de la Cruz war die herausragende intellektuelle Figur im Mexiko des 17. Jahrhunderts. Sie war Universalgelehrte, Proto-Feministin und weltliche wie mystizistische Liebespoetin und ist ohne Zweifel die bedeutendste Dichterin des kolonialen Amerikas. Aus ihren Versen spricht eine Modernität, die ihrer Zeit weit voraus war.
Ich und nur ich allein muss
mir Familie und Stammbaum sein.
Was kann sich schon messen mit dem Wissen,
dass ich von niemandem abhängig bin?
Ich wähle den Tod, um mich selbst zu gebären,
wann immer mir danach der Sinn steht.
[…]
Mein Tintenfass ist der schlichte Scheiterhaufen,
auf dem ich mich selbst in Flammen setze…
Die Poesie von Sor Juana Inés de la Cruz trage den Impuls der Moderne in sich, schrieb der mexikanische Dichtergigant und Nobelpreisträger Octavio Paz (1914–1998) in seiner monumentalen Studie/Roman Sor Juana Inés de la Cruz oder die Tücken des Glaubens (Sor Juana Inés de la Cruz o la trampa de la fe, 1982). Das obige Gedicht ist eindrucksvoller Beweis dafür, dass sich in der Dichtung der mexikanischen Nonne ein modernes, und dazu weibliches, Ich eine Stimme kreiert, wie sie zu ihrer Zeit noch nie gehört worden war – und, das zeigt das tragische Verstummen der Dichterin, aller Sprachgewalt zum Trotz auch noch nicht bereit war, gehört zu werden.
Sor Juana war in der Tat eine singuläre Erscheinung. Sie wurde unter dem Namen Juana Inés de Asbaje y Ramírez de Santillana als illegitime Tochter einer Kreolin geboren, jedoch im Haushalt ihres Großvaters erzogen, wo das hochintelligente Mädchen eine ungewöhnlich umfassende Ausbildung erhielt. Schon mit drei Jahren, so heißt es, konnte Juana lesen und verschlang von da an jedes Werk, das sie aus der Bibliothek ihres Großvaters in die Finger bekam. Besonders gern beschäftigte sie sich mit Poesie, Philosophie, Astronomie und Medizin. Im Alter von 15 Jahren galt das Mädchen als die gebildetste Frau Mexikos und wurde an den Hof des Vizekönigs geholt und in den Stand einer Hofdame der Vizekönigin erhoben. Ihre Schönheit, ihre scharfe Zunge, ihr wacher Verstand, ihr ungeheures Wissen, ihre zarte Poesie – all dies sicherte ihr die Bewunderung des gesamten Hofes. Und doch entschied sich Juana im Alter von zwanzig Jahren, den Schleier zu nehmen. Die Spekulationen über ihre Motive gehen auseinander; während manche Quellen nahelegen, dass die junge Hofdame verheiratet gewesen war und nach dem Tod ihres über alles geliebten Mannes nur noch ein Leben als Braut Christi in Betracht ziehen konnte, gehen die meisten Forscher davon aus, dass trotz des Mäzenats des Vizekönigs letztendlich das Kloster der einzige Ort war, an dem eine unverheiratete Frau sich der Gelehrsamkeit hingeben konnte. Und lange Zeit schien Sor Juana auch genau das zu gelingen: Sie verwandelte das Kloster San Geranium in einen Ort intellektueller Begegnung, schuf dort eine Bibliothek mit über 4.000 Büchern und verfasste philosophische wie theologische Abhandlungen – und natürlich Poesie. Letztere bestand nicht