So scheint, wie Zhong Jian anmerkt, auf die Song-Zeit das alte chinesische Sprichwort zuzutreffen: »Wenn das Elend im Land herrscht, gedeihen die Dichter«1 – unter ihnen die große Li Qingzhao.
Das klassische Genre der Song-Zeit war das ci, das Lied, das sich während der Tang-Dynastie (618–907) zunächst als Medium der Hof- und später auch der Volksunterhaltung etablierte, sich jedoch schon in der Frühzeit der auf Diesseitigkeit und Subjektivität ausgerichtete Song zu einer ›hohen‹ literarischen Gattung entwickelte. Die Poetik des ci beinhaltet strikte Regeln – allein die obligatorische Einschränkung auf einen Kanon bereits existenter Melodien bedeutete über die Titel derselben eine Begrenzung der zu poetisierenden Themen, die die Dichter jedoch kreativ zu umgehen wussten. Nichtsdestotrotz ließ die ci-Dichtung den Poeten größere Freiheit als das formstrenge klassische shi-Gedicht, das nun eher zum Ausdruck politischer, sozialkritischer und allgemein intellektueller Thematiken verwendet wurde, während das ci besser zur Manifestation von Emotionen geeignet erschien. Li Qingzhao übte sich in beiden Gattungen, doch es waren ihre gefühlsstarken, individualistischen Lieder, die sie zu einer der überragenden Gestalten der chinesischen Poesie werden ließen2. Sie verfasste sogar ein literaturtheoretisches Fragment über das ci als eigene literarische Gattung und etablierte die heute klassische Einteilung der ci-Dichter in haofang pai (›Schule des heroischen Verzichts‹) und wanyue pai (›Schule der zartfühlenden Zurückhaltung‹), wobei die Meisterin selbst der letzteren Schule zugeordnet wird. Dies verwundert bei so intensiven Versen wie den folgenden kaum:
Sag nicht, ich könnte nicht überwältigt sein:
Wenn der Westwind den Vorhang bewegt,
Bin ich zarter als die gelbe Chrysantheme.
Selbst in einer Zeit des Schöngeists fällt Li Qingzhaos immense Bildung auf – umso mehr, da sie eine Frau war. Die Lieddichterin, deren Name ›klarer Gedanke‹ bedeutet, war die älteste Tochter einer Literatenfamilie: Ihr Vater Li Kefei war Politiker und Prosaschriftsteller, und ihre Mutter genoss als Lyrikerin großes Ansehen. Im kulturellen Zentrum der kaiserlichen Hauptstadt Kaifeng aufgewachsen, erhielt Li Qingzhao eine ausgesprochen gute Ausbildung, interessierte sich von jungen Jahren an für die alte chinesische Literatur und verfasste angeblich bereits im Alter von zehn Jahren Gedichte, denen die Kollegen ihres Vater eine ›männliche Reife‹ (das heißt Klarheit des Ausdrucks und der Form) bescheinigten. Im Jahr 1101 verheiratete sich Li Qingzhao mit dem kunstbegeisterten Würdenträger Zhao Mingcheng (1081–1129). Die Ehe erwies sich als eine kongeniale Partnerschaft. Zusammen ging das wohlhabende Paar der beiderseitigen Sammlerleidenschaft nach und häufte eine beeindruckende und viel beneidete Kollektion alter Bücher, Kalligraphien und Steininschriften an. Aus dieser entstand die Sammlung von Bronze und Steininschriften (Jinshilu), von der leider nur noch Li Qingzhaos Vor-/Nachwort erhalten ist, in dem sie in verdichteter Form das Lebenswerk ihres Mannes würdigt und ihre Autobiographie zu Papier bringt. Eine kleine Anekdote veranschaulicht die legendäre Sammlerleidenschaft des Paares: Als ein gieriger Händler für eine Kalligraphie des Meisters Wang Xizhi (307–365) noch einen Zuschlag auf die goldene Haarspange verlangte, die ihm Li Qingzhao als Entgelt anbot, zog die Dichterin kurzerhand ihr wertvolles Außengewand aus und übergab es dem Verkäufer als Dreingabe.
Die Jahre an der Seite ihres Mannes waren die glücklichste Zeit im Leben Li Qingzhaos. Sie genoss die Existenz einer wohlhabenden, gebildeten und sensualistischen Frau der Oberschicht, wie viele ihrer Verse zeigen:
Sogar der Himmel teilt unsere Freude,
lässt den vollen Mond auf deinen geschwungenen Körper scheinen.
Feiern wir mit schwerem grünen Wein in goldenen Bechern.
Ich habe nichts dagegen, berauscht zu werden,
denn diese Blüte ist unvergleichlich.
Zeilen wie diese, voller Lebenslust, Sinnlichkeit und Witz, werden traditionellerweise der glücklichen Ehefrau und ›Patrizierin‹ Li Qingzhao zugeschrieben. Der große Einschnitt im Leben der Lieddichterin erfolgte mit dem Einfall der Jurchen in Nordchina, denen auch die Hauptstadt Kaifeng in die Hände fiel, und vor allem mit dem Tod ihres Mannes. Die folgenden Jahre waren für Li Qingzhao durch Heimatlosigkeit geprägt und durch den vergeblichen Versuch, die wertvolle und geliebte Kunstsammlung zusammenzuhalten, die sie im Zuge der Kriegswirren und einer Folge von Unglücksfällen – nicht zuletzt eine zweite desaströse Ehe – nach und nach verlor. Dieser dreifache Verlust schlägt sich in Li Qingzhaos Klageliedern nieder, die dieser zweiten, unglücklichen Phase ihres Lebens zuzuordnen sind und die ihren Ruf als ideale, ihren Mann und ihr Land liebende Frau und Dichterin begründeten. Auch ihr berühmtestes und vielleicht ausdrucksstärkstes Lied zu der Melodie Sheng sheng man wird dieser Lebensphase zugeordnet. Die Verse, von denen Hans von Ess als »einem stilistischen Wagnis ohne Vorläufer« spricht1, gehören sicher zu den schönsten und wehmütigsten Gedichten der chinesischen, ja, der Weltliteratur:
Suchen, suchen, spähen, spähen,
einsam, einsam, Stille, Stille,
frieren, frieren, Kummer, Kummer, Leid, Leid.
Bald warm, dann wieder kalt zur Zeit,
wahrhaft schwer ist’s Ruh zu finden.
Drei Becher, zwei Schalen faden Weins,
wie sollt er spät noch kommen, eilig wie der Wind?
Wildgänse ziehn,
wirklich, tut weh im Herz.
Denn von früher her kannt ich sie noch.
Die Erde voll gelber Blüten, aufgetürmt,
ausgezehrt, verwelkt.
Wer wollte sie jetzt noch pflücken?
So wach ich am Fenster,
einsam und allein, wie kann es da dunkel werden?
Im Wutong-Baum hängt feinster Regen,
bis zur gelben Dämmerung fallen, fallen Tropfen um Tropfen.
Dieser Zustand
ist durch ein Wort nur zu begreifen: Gram.
Wichtige Werke:
Sheng sheng man
1 Zhong Jian. Die Dichterin Li Qingzhao. unter: China Heute, www.chinatoday.com. Juli 2004.
2 Von Li Quinzhaos Hand sind 17 shi-Gedichte und etwa 60 ci-Lieder erhalten.
1 Hans von Ess. »Die Literatur der Dynastien Song und Yaan«. in: Reinhard Emmerich (Hg.): Chinesische Literaturgeschichte. Stutt gart/Weimar: Metzler 2004. S. 187–224. hier: S. 205.
HĀFEZ (CHÂDĒ SHANSÒ D-DĪN MOHAMMAD)
(1326–1390)
Die Zunge der unsichtbaren Welt – Liebe und Wein in vollendeter Form
Hāfez gilt bis heute als der größte Lyriker, den die persische Sprache je gesehen hat. Sein Diwan1 gehört nicht nur zur Grundausstattung eines jeden iranischen Haushalts und wird – wie der Koran – zur Auslegung von Omen eingesetzt, sondern wird auch in der Türkei, in Afghanistan, Pakistan, Indien und Zentralasien hochverehrt. Die Gedichte des persischen Poeten, der etwa Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) zutiefst beeindruckte2, feiern bildstark und formvollendet den Wein und die Liebe und gehören unzweifelhaft zu den größten Texten der Weltliteratur.