angehören, weil sie einen anderen liebe, was er als Sühne für seine früheren Verschuldungen hinnehmen musste. Eigentlich war jedoch die Stunde des Kämmens zugleich die des Unterrichts, zu dem die Briefe nur ein schmackhaftes Beigericht bildeten. Mama hatte frühzeitig begonnen, mich in fremde Literaturen einzuführen, aber nicht an der Hand eines Lehrbuchs – eine Literaturgeschichte gab es im ganzen Hause nicht –, sondern indem sie französische und italienische Dichter mit mir in der Ursprache las. Von den Franzosen genoss Voltaire ihre große Vorliebe, er gehörte zu ihrem täglichen Umgang, denn der Geist der französischen Aufklärung war ja der Mutterboden der Revolutionsideale. Kritisch waren wir alle beide nicht, so genossen wir zunächst die Voltaireschen Dramen der Reihe nach. Wir freuten uns, die geliebten Züge der griechischen Mythe hier wiederzufinden und nahmen den schematischen Aufbau, die schattenhaften Gestalten und die gestelzten Alexandriner als das Gegebene in den Kauf. Nachdem die Tragödien Voltaires erledigt waren, ging es unter beiderseitigem Ergötzen an seine Romane. Wiederum ein etwas fragwürdiger Lesestoff für eine Zwölfjährige, der mit anderen Fragwürdigkeiten so hinuntergeschlungen wurde. Als ich einmal erwachsen den Candide wieder las, besann ich mich vergeblich, wie sich wohl damals die Abenteuer der Mademoiselle Cunégonde und die Betrachtungen des Doktors Pangloß in meinem Kinderkopfe dargestellt haben mögen. Wodurch hatte es dieser Schriftsteller, der dem großen Friedrich der schönste Geist aller Zeiten deuchte, auch meiner Mutter so sehr angetan? Sie muss wohl in der erhabenen Einfalt seines Candide, seines Ingénu ein Stück von sich selber wiedergefunden haben. Dass die Anstößigkeiten nicht plump und deutlich im Raume stehen, sondern nur als sprachliche Schöpfungen vorhanden sind, nahm ihnen für sie alles Bedenkliche. Sie gab sich aber von ihrem literarischen Geschmack keine Rechenschaft, sie folgte nur ihrer angeborenen feinen Witterung. Voltaires unerreichter Prosastil, die geniale Art, wie er das Zeitwort verwendet, diesen springenden Muskel der Sprache, der so viel sinnfälliges Leben gibt, die feine Komik seiner homerischen Wiederholungen und der drollige Gebrauch, den er von der französischen Vorliebe für die Antithese macht, das alles genoss ich dann doch erst in späteren Jahren beim Wiederlesen mit vollem Bewusstsein. Man beschäftigte sich übrigens nicht allein mit französischer Literatur, auch die Komödien Goldonis wurden auf diese Weise durchgenommen, die freilich beim Lesen nicht zu ihrem Rechte kommen. Ein andermal verlegten wir uns auf Huttens Epistolae virorum obscurorum, denn von irgendeinem geregelten Lehrplan war gar keine Rede. Während ich las, bearbeitete Mama mit einem großzahnigen Striegel meine Mähne, wobei sie mit ihrem gewohnten Ungestüm verfuhr und mir manchen Schmerzensschrei entlockte. Wenn zufällig mein Vater ins Zimmer trat, so suchte er ihr klarzumachen, wie man den Schopf mit der einen Hand fassen und mit der anderen schonend den Kamm durchziehen müsse. Aber die Ungeduld lief immer gleich wieder mit ihr davon.
Zur Begütigung erlaubte sie mir zuweilen, ihre schöne messingbeschlagene Schatulle herbeizuholen und in den alten Liebesbriefen zu wühlen, die ihr in Jugendtagen geschrieben worden waren. Da erbauten mich vor allem die Episteln eines 48er Flüchtlings Namens Elias, dessen leidenschaftliche Überspanntheit ganz nahe an Geistesstörung grenzte. Einmal schrieb er, wenn sie je der Sache der Freiheit untreu würde, um einen Standesgenossen zu heiraten, so würde er das Exil brechen, um sie mit eigener Hand zu erdolchen. Dieser arme Elias mit dem so gut zu dem Namen passenden Prophetenton wurde zu einer heiteren Märchengestalt meiner Jugend, und oft schilderte ich ihn meiner Mutter, wie er auf feurigem Wagen rotdurchleuchtet und flammenhaarig daherkam, um sie zu holen. Einer seiner letzten Briefe schloss mit den Worten: Legt’s Haupt heldenhaft hin, Ehre gibt’s nur drüben überm Tode. Hinweg den Blick! Wenn ich diese Stelle mit possenhaftem Pathos vorlas, so riss mich mein Mütterlein wohl entrüstet am Zopf, den sie eben flocht, aber sie konnte sich doch nicht erwehren, mitzulachen.
Besagte Schatulle verbarg außer den Briefen noch andere Kostbarkeiten, wovon uns Kindern keine so merkwürdig war wie das Rote Album, der tollste Nachklang des Jahres 1848.
Ludwig Bamberger weist in seiner Einleitung zu der Reimchronik des Pfaffen Maurizius darauf hin, dass das »tolle Jahr« sich in der überlebenden Vorstellung als ein Zeitpunkt lustigen Wahns festgesetzt habe und dass diese falsche Auffassung aus dem geraden Gegenteil einer heiteren Täuschung, aus der hoffnungslosen Selbstironie der besten und tapfersten Achtundvierziger entsprungen sei. Von diesem Galgenhumor der Revolution gab es vielleicht kein schlagenderes Beweisstück als das Rote Album meiner Mutter. Mit seinem grellroten Einband und noch röteren Inhalt, mit roter Tinte auf rotes Papier beschrieben, war es der »Bürgerin Brunnow« im Jahre 1849 als ein Angebinde der Demokratie überreicht worden. Die verschiedenen Handschriften und die zum Teil ganz unorthografische Schreibweise sollten den Eindruck erwecken, als ob Parteigenossen von allen Bildungsstufen sich an der Widmung beteiligt hätten. In Wahrheit hatte das Büchlein nur einen Verfasser, den begabten Philologen Adolf Bacmeister, denselben, dem einst mein fünfjähriges Herz gehört hatte. Er war einer von den tiefgründigen Schwabensöhnen, die anderwärts als Zierde eines Stammes geehrt würden, für die aber das enge Heimatland keine Verwendung fand. Seine achtundvierziger Vergangenheit verschloss ihm die akademische Laufbahn, zu der er geboren war, und er konnte lange Zeit nicht einmal die bescheidenste Anstellung im Schulfach finden. Nahe an den Dreißigen erhielt er endlich das armselige Amt eines »Kollaborators« (vom Volke Kohlenbrater benannt) in einer Kleinstadt, schleppte sich dann zehn Jahre lang mit einem Präzeptorat, bis ihn ein Ruf an die Augsburger Allgemeine Zeitung aus der Acht erlöste. Durch seine Übersetzungen mittelhochdeutscher Dichtungen und seine Allemannischen Wanderungen, eine geistreiche Studie über die Herkunft deutscher Ortsnamen, hat er sich auch literarisch bekannt gemacht.
In dem Roten Album nun war die fantastische Zeitstimmung mit den Einzelheiten und den Anspielungen, die damals jedermann verstand, in Vers und Prosa niedergeschlagen. Da tönte die alte, in unseren Jugendtagen schon verschollene Weise:
Wenn die Fürsten fragen:
Lebt der Hecker noch?
Sollt ihr ihnen sagen:
Hecker, der lebt hoch!
Aber nicht am Galgen,
Nicht an einem Strick,
Sondern an der Spitze