Wir sahen des Vaters Größe unverstanden oder halbvergessen und litten selbst für die Ideale unserer Eltern, ehe wir diese Ideale verstehen konnten. Und da nicht nur die äußeren Verhältnisse an uns hämmerten, sondern sich die Geschwister auch noch gegenseitig diesen Dienst erwiesen, wurde die mütterliche Verwöhnung reichlich aufgewogen.
Als ich sah, dass meine Heimlichkeiten immer aufs neue entweiht wurden, beschloss ich aus Zorn und Gram, die Eingebungen, die mir kamen, künftig lieber gar nicht mehr aufzuschreiben, und nun versiegten sie allmählich ganz. Ich war’s zufrieden, denn ich hoffte, durch dieses Opfer mit dem Leben besser in Einklang zu kommen. Eine Vorstellung wirkte dabei besonders mit: Mamas Jugendgenosse Alfred von Thumb sagte mir zuweilen, wenn er von seinem Unterboihingen herüberkam, warnend: Nur kein Blaustrumpf werden! Ich stellte mir darunter ein unschönes, körperlich vernachlässigtes und geistig verdrehtes Wesen mit kurzem Haar und Brille vor und bäumte mich gegen den Gedanken auf, eine ebensolche Vogelscheuche werden zu sollen. Das »Wunderkind« machte also die übereilten Erwartungen wie auch Besorgnisse zuschanden, denn der verfrühte Trieb, der noch gar keinen Lebensstoff zum Gestalten hatte, legte sich zu einem langen Gesundheitsschlaf nieder und ließ sich durch keine mütterliche Ungeduld mehr aufrütteln.
Vorfrühling
Noch in meinem elften Jahre war eine Gestalt in unseren Familienkreis getreten, durch die allmählich mein inneres Leben ganz umgeschaltet wurde und die am meisten dazu beitrug, dass die treibhausartige geistige Entwicklung zum Stillstand kam. Eines Tages erschienen da zwei unangemeldete Gäste, Mutter und Tochter, aus Mainz. Die hübsche, sehr lebenslustige Mutter, eine Freundin der meinigen, stand im Begriff zu Frau Wilhelmi nach Spanien zu reisen; ihr Töchterlein Lili sollte unterdessen im Schutze meiner Eltern in Tübingen bleiben und an meinen Unterricht teilnehmen. Lili war zwei Jahre älter als ich, nicht größer, aber viel entwickelter und trug auch schon halblange Kleider, während die meinen nur bis an die Knie gingen. Sie war ebenso wie ihre Mutter mit Geschmack und einer gewissen Koketterie gekleidet, und die leichte rheinische Mundart stand ihr allerliebst. Beim ersten Eintritt war sie, aus einer stillen, zierlichen Damenwohnung kommend, ein wenig bestürzt über den wilden Umtrieb in unserem Hause und zerdrückte, wie sie mir später gestand, heimlich ein paar Tränen. Aber sie wusste sich taktvoll zu schicken. Ihr munteres Mainzer Naturell fand schnell den rechten Ton, und als man uns beide nach dem Nachtessen zu Bette schickte, war schon eine Freundschaft fürs Leben geschlossen, deren Herzlichkeit niemals im Lauf der Jahre durch einen Hauch getrübt werden sollte. Es ist etwas Eigenes und Heiliges um solche Jugendfreundschaften, auch wenn sie gar nicht auf der Grundlage des geistigen Verstehens aufgebaut sind. Wären wir uns zehn Jahre später zum ersten Mal begegnet, so hätten wir schwerlich eine Brücke zueinander gefunden, aber jenes empfängliche Alter vermag auch das Ungleichartigste aufzunehmen und festzuhalten, ja dies ist ihm recht eigentlich zur Erweiterung des Gesichtskreises ein Bedürfnis. Solche Jugendfreundschaften nehmen mit den Jahren ganz das Wesen der Blutsverwandtschaft an: man fährt fort sich zu lieben und fragt nicht nach den abweichenden Lebensanschauungen, die bei neuen Bekanntschaften ein so großes Hindernis bilden.
Der junge Gast teilte für diese Nacht mein Bett. Ich sah mit scheuer Ehrfurcht auf die knospende Jungfräulichkeit, die aus den halbkindlichen Hüllen stieg, und drückte mich nach der Wand, um der Anmutvollen so viel Raum wie möglich zu lassen. Aber zugleich befiel mich ein bohrender Schmerz, denn ich dachte an gewisse garstige Kinder aus dem Hinterhof, die mich, wenn ich auf den großen aufgeschichteten Zimmermannsbalken am Steinlachufer schaukelte, hinterrücks herunterstießen, dass ich auf die Nase fiel, und mir Schimpfworte nachriefen. An diese rohen Geschöpfe fürchtete ich meine angestaunte Lili verlieren zu müssen, denn ich hatte schon die Erfahrung gemacht, dass befreundeten Kindern, wenn es sich ums Spielen handelte, nicht zu trauen war; sie liefen charakterlos der Unterhaltung nach, wo sie sich zeigte. Ich fasste mir ein Herz und teilte Lili mit, in welchem Kriegszustand ich mich mit dem Hinterhofe befand und dass man nicht zugleich mit mir und jenen Freundschaft haben konnte.
Lili antwortete mit einer Bestimmtheit, die mich bei ihrem weichen Wesen überraschte: Du kannst ganz ruhig sein, ich spiele nicht mit den rohen Kindern. Ich spiele überhaupt nicht mehr mit Kindern – und nun lüftete sie vor meinem staunenden Geiste den Zipfel eines Vorhangs, durch den ich in ein neues Wunderland blickte, das Land der Tanzstunden, der langen Kleider, der Verehrer! Ich wusste ja von Herzensangelegenheiten weit mehr als sonst Kinder zu wissen pflegten, da die Verhältnisse der Großen von jeher vor meinen Ohren verhandelt worden waren, aber ich wusste es nur mit dem Verstand, es ging mich in meinem Kinderlande nichts an, sondern lag weltenfern in einer vierten Dimension! Durch Lilis Worte rückte das alles auf einmal ganz nahe heran, dass es mir fast den Atem nahm. Aber es gefiel mir außerordentlich, und ich entschlief unter dem Eindruck, plötzlich einen großen Schritt im Leben vorwärts getan zu haben.
Des anderen Tages wurde Lili, weil bei uns kein Platz war, in einer benachbarten Familie in Pension gegeben. Sie verbrachte aber die meiste Zeit bei uns und gewöhnte sich schnell an unser Hauswesen. Sie war ein ungemein liebliches Stück Natur, dessen Anmut nichts bloß Äußerliches war, sondern aus einer anmutigen Seele floss. Es gab niemand, der an ihrem gefälligen, schmiegsamen Wesen keine Freude gehabt hätte. Eine gewisse Willenlosigkeit und Lässigkeit, die man an ihr bemerkte, taten ihrem Liebreiz keinen Eintrag. Ich konnte mir später Goethes bezaubernde Lili nie anders als unter dem Bilde der meinigen denken. Wenn meine Lili auch keine so glänzende Schönheit und keine so große verwöhnte Dame war, so erinnerte sie doch durch ihre spielerische Schalkheit und natürliche Anziehungskraft an jene strahlendere Gestalt. Die sehr wohlgeformten, obschon etwas großen Züge ihres immer lächelnden Gesichts, die dunklen, entgegenkommenden Augen voll Gutherzigkeit und Schelmerei unter dem reichen aschblonden Haar, ihre mittelgroße, graziöse Gestalt hatten einen Reiz, den manche größere Schönheit entbehrt. Wenn sie mit dem koketten Pelzmützchen auf ihren immer schöngeordneten Haaren in der wippenden Krinoline daherkam, war es unmöglich, ihr nicht gut zu sein.
Die Krinoline! Es sei mir gestattet, auch dieser Freundin und Feindin meiner Kindheit einen kleinen Nachruf zu widmen. Wie wurde sie verhöhnt, verlästert, selbst von denen, die sie trugen, und doch konnte niemand sich ihrer Macht entziehen, denn der herrschende Kleiderschnitt erforderte diese Stütze. Auch Kinder