gleich darauf mit den beiden anderen Insassen des Wagens zurück. Dass Alfred mir brüderlich Treue hielt und schwieg, wurde ihm von mir hoch angerechnet. Der andere aber verlangte in seiner doppelten Eigenschaft als Begünstigter der Mutter und als angehender Arzt die Patientin zu sehen. Unter dem Druck der Tante erschien diese im Familienzimmer, blass und leidend und bereit, gleich wieder einzuschlafen. Es war an meiner Unpässlichkeit nicht zu zweifeln, denn von dem anhaltenden Rasen ging der Puls in Sprüngen. Wäre aber Hartmut ein besserer Seelenkenner gewesen, so hätte er aus Annas verwirrter Miene die Wahrheit ablesen müssen. Nach allerlei Vermutungen zogen die drei sich endlich zurück und setzten ihre Lustfahrt ohne mich fort. Sobald das Rollen des Wagens verhallt war, sprang ich genesen auf und gestand den ganzen Hergang. Der gute Onkel, der eine heitere poetische Ader hatte, verfasste ein launiges Gedicht über die missglückte Entführung und sandte es Mama als Pflaster auf die Wunde.
Das schlimmste war, dass ich überhaupt nicht wusste, was ich mit mir selber wollte. Unterkriechen wie die andern, geborgen sein um jeden Preis oder als vermögensloses Mädchen allen Stürmen preisgegeben, mit lauter brotlosen Künsten ausgestattet und gar nicht für den Lebenskampf erzogen? – Kein Wunder, dass es älteren Freunden um mich bange wurde. Es gab damals für ein Mädchen keinen Weg ins Leben als durch die Ehe und – in wunderseltenen Fällen – durch die Kunst. Aber die Gabe, an deren verfrühte Äußerungen die Meinigen so feurig geglaubt hatten, schien mir wieder entzogen zu sein. Wenn ich in das Meer nebelhafter Bilder, das immer um mich wogte, hineingreifen wollte, um sie zu formen, so fasste ich in Luft. Mein Mütterlein meinte, ich hätte nur da weitermachen dürfen, wo ich nach Lilis Erscheinen stehengeblieben war. Aber damals hatte ich in kindlichem Trieb Vorhandenes nachgemacht und mit fremden Mitteln gewirtschaftet. Jetzt, wo ich aus Eigenem gestalten wollte, stand ich mit leeren Händen da. Und der unstillbare Drang nach starkem Erleben war zugleich auch der unbewusste Trieb, den Schatten Lebensblut geben zu können. Immer deutlicher fühlte ich, dass der Boden Tübingens mir überhaupt für meine Entwicklung nichts mehr zu bieten hatte. Das weibliche Geschlecht war ja damals so gestellt, dass es nur vom Leben selber lernen konnte. Meine Studien, ganz mir selber überlassen, gingen die Zickzackwege des Zufalls. Gesellige Freuden begannen schal zu schmecken, und ich war meist nur mit dem Körper anwesend. Meine ganze Anlage zog eine Scheidewand zwischen mir und der Außenwelt. Menschen und Dinge des Alltags hatten gar keine Wesenhaftigkeit für mich, wenn ich mich nicht gerade an ihren Ecken und Kanten stieß. Es quälte mich, wenn in meiner Gegenwart die bürgerlichen Umstände anderer, ihre Verwandtschaften und dergleichen erörtert wurden. Dauerte es lange, so meinte ich mich innerlich dabei aufzulösen. Ich wusste am liebsten nicht einmal genau, wo unsere Freunde wohnten, dass ihr Kommen und Gehen wie aus unbekannten Reichen war. Diesen Zug hatte seltsamerweise auch mein Vater in seiner Jugend gehabt, wie ich aus einer Niederschrift von ihm ersah. Aber es war freilich schwer, ihn dem jungen Mädchen nicht für Lieblosigkeit auszulegen, während er nur dem Triebe entsprang, die stillose Enge der Umwelt durch die Vorstellung aufzuheben.
Ich weiß kein Volk, das ein Wort für Sehnsucht hätte, außer den Deutschen. Das désir und desiderio der Romanen ist wohl stärker an Leidenschaft, aber es hat nicht das Auflösende, Halbverschmachtete unseres Sehnens. Sie alle kennen das Heimweh, aber von dem Weh nach einer ungekannten schöneren Heimat wissen sie nichts. Woher sollte den Südländern, die an Natur und Kunst besitzen, was jeden Wunsch zum voraus erfüllt, die Sehnsucht nach einem schöneren Land, nach einem Wunschland kommen? Des Deutschen ewige Sehnsucht ist nichts anderes als seine unglückliche, nie gestillte Liebe zur Form. »Du bist Orplid, mein Land, das ferne leuchtet.« Dieses Ungenügen an der Wirklichkeit ist der Ursprung aller Romantik. Wo das Leben wie ein breiter Strom zwischen schönen Ufern daherbraust, gibt es keine. Dann ist die Wirklichkeit mächtiger als jeder Traum.
Mein liebes Schwabenland, von seinen Kindern nur das »Ländle« genannt (die Neigung des Schwaben zum Verkleinerungswort hat in der Gestalt eben dieses Ländles ihre tiefe Begründung), ist ein Gebilde eigener Art, gleichsam eine Musterkarte aller Länder. Es sieht aus, als hätte der Schöpfer, bevor er die Erde entwarf, ein Modell davon im kleinen hergestellt, worauf er jede Form andeutete, die er hernach im großen ausführen wollte: Berge, Flussläufe, Ebenen, Wasserflächen, alles ist vorhanden, aber in kleinerem Maßstab und in stetem Wechsel. Immer steht man wieder vor einem anderen Bild. Diese Vielartigkeit hat nichts Zwingendes, Stilgebendes wie einfache Größe von ausgesprochener Art, die allein da ist und alles andere ausschließt. Vorstellungen werden angeregt, aber nicht erfüllt. Daher lag und liegt vielen Schwaben die Unruhe von Hause aus im Blut. Wer vom Gipfel des Hohenstaufen blickt, der meint mit einem Male ein Stück mittelalterlicher Geschichte zu verstehen: die Weite, die sich auftut, lockt über die niederen Kuppen weg in fernere südliche Weiten, die Anmut der Landschaft erregt, aber sie befriedigt nicht, sie erweckt ein unruhiges Verlangen nach höherer, ernsterer Schönheit, den Drang gen Süden. Solch ein Drang nach Ausdehnung und Erfüllung war auch in mir. Ich ersehnte mir die große Linie und die herrschende Form: statt der Alb die Alpen, statt kleiner Heidestrecken die Pußta oder die Savanne, statt dem Bodensee den Ozean. Da war ferner ein Geist bürgerlicher Nutzbarkeit über die ganze Natur verbreitet, gegen den ich mich innerlich auflehnte. Diese reichen, aber in winzige Gütchen verteilten Kornfelder, diese endlosen Fruchtbaumreihen, heute ein so rührender Anblick! ließen mich unbefriedigt. Ich war krank nach dem zwecklos Schönen, nach Wüste und Urwald oder nach der strengen monumentalen Landschaft des Südens mit architektonisch angelegten Gärten und Terrassen aufs Meer. Darum bedrängte ich meinen guten Vater, mich in der Vakanz nur bis Venedig zu führen. Ich glaubte, es müsse auch ihn glücklich machen, der doch so ganz anders geartet war, der in der Jugend ein Unrecht an der Heimat zu begehen meinte, wenn er nur ihre Grenzen verließ. Aber er konnte mir keinen Wunsch abschlagen. Es wird mir nichts übrigbleiben, als dem Kinde den Willen zu tun, sagte er ergeben zu meiner Mutter. – Doch es sollte nicht mehr so weit kommen, und schon die Geldverhältnisse hätten es verwehrt.
Auch Mama begriff meine Abneigung gegen die heimische Enge nicht, denn da sie die Schranken der Erde überhaupt nicht sah, war für sie die Weite überall. Und mein beständiges Verlangen nach edler Form begriff sie noch weniger. Sie genoss zwar den Anblick schöner Menschen aufs innigste, wie sie sich auch der eigenen adligen Leibesform, die niemals weder massig noch knöchern werden sollte, mit Behagen bewusst war, aber die Formlosigkeit war ihr nicht wie mir ein Augenschmerz.