wie sie ihn nannte, war verbannt und zum Tode verurteilt, mit ihrer Tochter war sie zerfallen, weil diese sich von dem Bruder seiner politischen Haltung wegen losgesagt hatte. Unter solchen Umständen mochte mein Vater der einsamen Frau ihren alten Wunsch nicht abschlagen. Ich selber war begierig, eine neue Welt kennen zu lernen, das Land der schönen Form und der verfeinerten Sitte. So überwand er seine Bedenken und gab mir Urlaub. Unterwegs brachte ich einen Tag in Straßburg bei der jung verheirateten Lili zu, mit der ich das Münster bestieg und den Rhein begrüßte. Dass man zu einer Zeit, wo noch ein deutsches Heer auf französischem Boden stand, ein blutjunges deutsches Mädchen ohne Sorge allein in die Mitte Frankreichs reisen lassen konnte, ist, in heutige französische Empfindung übersetzt, nicht mehr vorstellbar. Damals ging alles glatt. War es Zufall oder gab es zu jener Zeit wirklich eine französische Ritterlichkeit – ich bekam weder in Paris noch in der Provinz, noch auf der Reise selbst je ein unfreundliches Gesicht zu sehen noch ein verletzendes Wort zu hören. Die furchtbare Erbitterung des Bürgerkriegs schien den Groll gegen den fremden Sieger verlöscht zu haben. Aber so viele Franzosen mit mir über den Krieg sprachen, alle schlossen mit dem unausweichlichen Kehrreim: Nous ne sommes pax vaincus, nous sommes vendus. Dass vor allem Bazaine sie für ein Blutgeld verkauft habe, lag als tröstlicher Balsam auf der Wunde des Selbstgefühls, deren Schmerz dem Durchschnittsfranzosen noch gar nicht so tief ins Bewusstsein gedrungen war.
In Paris wurde ich im Hause eines französischen Offiziers a. D., der mit einer Stuttgarterin, einer Jugendfreundin meiner Mutter, verheiratet war, mit offenen Armen aufgenommen. Die schon ältere Frau flog mir auf der Treppe mit einem Freudenruf um den Hals, so sehr überwältigte sie meine Ähnlichkeit mit der von ihr verehrten Großmutter Brunnow. Die Familie lebte bescheiden in einer Art von Puppenstuben mit Tapetentüren unter Möbeln, die der Hausherr selbst geschreinert hatte, alles von der putzigsten Nettigkeit; das Orangeblütenwasser, das mir jeden Abend ans Bett gestellt wurde, ist mir in duftender Erinnerung. Der Herr des Hauses mit seinem Bändchen im Knopfloch führte mich nach der Sitte des französischen Militärs ritterlich am linken Arm spazieren. Er glich nach Aussehen und Denkart ganz dem Bilde, das man sich von dem alten napoleonischen Soldaten macht, und da ich mich im Invalidendom für Napoleon begeisterte, war er sehr zufrieden mit mir. Ich besah mir die »Ruinen von Paris«, zusammengekehrte Trümmerhaufen des Stadthauses, der Tuilerien, der Finanz usw., die den letzten Verzweiflungskämpfen der Kommune zum Opfer gefallen waren. Man erzählte mir von den Petroleusen, die wahrscheinlich als historisches Seitenstück zu den Trikoteusen hexenartig im Hirn der Pariser spukten. Diese Furien sollten die Häuser entlang gehuscht sein und blitzschnell in jede Kellerluke ihr Petroleum gegossen und Zündhölzer nachgeworfen haben, wodurch ganze Straßen ein Raub der Flammen geworden seien. Wie viele unglückliche Frauen, die kein anderes Verbrechen begangen hatten, als ihre Petroleumkanne heimzutragen, mögen bei den Treibjagden der blinden Rachewut zum Opfer gefallen sein! Greuel waren von der einen und von der anderen Seite geschehen, vor denen die Bartholomäusnacht verbleicht, aber die Stadt strahlte von Lebenslust, und auf den Boulevards flutete eine heitere Menge in dem eigenen leichten Schritt, der dort alles beflügelt; nur wenn bei nichtigem Anlass ein Zusammenrennen entstand, so war’s wie Nachzittern vulkanischen Bodens. Als ich einmal fragte, wohin ein Trupp Soldaten mit Trommelschlag so eilig marschiere, wurde mir geantwortet: Nach der Ebene von Satory, es ist das Exekutionspeloton. Die Hinrichtungen waren längst vorüber, aber in der Fantasie der Bevölkerung dauerten sie noch fort. Von Deutschenhass erlebte ich in Paris nur ein einziges Beispiel an einem Halbdeutschen, dem vierzehnjährigen Kadetten, Sohn meiner Gastfreunde, der mir mit funkelnden Augen ankündigte, er werde bald in Berlin einziehen, um Rache für Sedan zu nehmen. Als er den üblen Eindruck seiner Rede sah, versprach er großmütig, die Frauen und Kinder zu schonen. Man zeigte mir einen Laib Belagerungsbrot, der zu drei Vierteln aus gemahlenem Stroh und Sand bestehen sollte und der sich anfühlte wie eine Versteinerung. Auch wurde davon gesprochen, wie fein man in gewissen Garküchen verstanden habe die Ratten zuzubereiten. Das alles war nun längst Geschichte geworden bei dem schnell lebenden Volke. Über die deutschen Soldaten hörte ich kaum eine Klage; nur auf Mr. de Bismarck war man schlecht zu sprechen. Liest man die französischen Schriftsteller der späteren Jahrzehnte, etwa die feingemeißelten Geschichten Guy de Maupassants, so sieht man, mit welch hoher Kunst dem französischen Volke das Gift des Hasses nachträglich eingeimpft worden ist.
Mein erster Tag in Vierzon bleibt mir unvergesslich. Ein Diener des Hauses Vaillant, der alte Père Réguillard, holte mich mit meinem Gepäck am Bahnhof ab. Ich war zwischen Paris und Vierzon, wo kein Schnellzug ging, zweiter Klasse gefahren, und freute mich, mir für das ersparte Reisegeld ein anderes Vergnügen zu gönnen. Nun erfuhr ich durch Frau Vaillant, die der Diener gleich davon in Kenntnis setzte, dass dies ein Missgriff gewesen, der in Vierzon keinenfalls bekannt werden durfte, und sie bat mich, über den dunklen Punkt Schweigen zu bewahren. Ich versprach’s, denn ich nahm an, dass niemand so töricht sein werde, mich zu fragen. Die dem Hause Vaillant befreundeten Damen hatten das junge deutsche Mädchen mit brennender Neugier erwartet. So früh es der Anstand erlaubte, erschienen Mesdames Poupardin, Mutter und Tochter, mit einer Freundin, um mich in Augenschein zu nehmen; sie drehten mich hin und her, schoben mich eine der anderen zu, prüften Haltung, Haartracht und Anzug und entschieden über mich weg mit Verwunderung: Mais elle est bien; elle est très bien – bis doch schließlich eine entdeckte, die Falbel meines Rockes könnte besser gezogen sein. Das schmeichelhafte Endergebnis war, dass ich nichts Deutsches an mir hätte und dass ich würdig wäre eine Französin zu sein! Es war gut gemeint und die höchste Ehre, die sie zu vergeben hatten. Als das vorüber war, erfolgte die verhängnisvolle Frage: Vous êtes venue en première? Da ich weder lügen noch der mütterlichen Freundin einen Schmerz antun wollte, fiel ich darauf, mich zu stellen, als ob mein Französisch auf diesem Punkt versage, und überließ es ihr zu antworten, dass ich selbstverständlich Erster gereist sei.
Diesem Einstand entsprachen alle ferneren Eindrücke, die ich von dem Leben in der französischen Provinz bekam.
Frau Vaillant bewohnte ein Landhaus mit schöngepflegtem Garten und einem Anwesen, das der Küche Hühner, Kaninchen, Gemüse, Salat und ein Obst von unerhörter Güte und Größe lieferte. Ihr die Riesenbirnen für den Winter aufhängen zu helfen, war eine wahre Lust. Sie enthüllte sich als eine vortreffliche und peinlich genaue Hausfrau, deren ganzes Streben in der Wirtschaftlichkeit aufging, ohne