Isolde Kurz

Gesammelte Werke


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zu­sam­men; man hielt den »Volks­staat«, woll­te die so­zia­le Fra­ge lö­sen und sang in den feuch­teren Abend­stun­den die Mar­seil­lai­se oder den Gi­ron­dis­ten­chor. Es dau­er­te bei den meis­ten nicht lan­ge, denn die deut­sche So­zi­al­de­mo­kra­tie hat­te da­mals noch nicht so viel Geist, Ta­lent und Bil­dung in sich auf­ge­so­gen, dass es fei­ne­ren oder viel­sei­ti­ge­ren Na­tu­ren leicht auf die Dau­er da­bei wohl sein konn­te. Aber einen mit­tel­ba­ren Ein­fluss auf die spä­te­re Ge­stal­tung der Par­tei hat Vail­lants Tü­bin­ger Auf­ent­halt doch aus­ge­übt, da in­fol­ge per­sön­li­cher Be­zie­hun­gen, die letz­ten En­des auf ihn zu­rück­ge­hen, Al­bert Dulk der Vor­kämp­fer der so­zia­lis­ti­schen Ge­dan­ken in Würt­tem­berg wur­de. Sei­ne Toch­ter Anna lern­te näm­lich in dem Tü­bin­ger Krei­se einen jun­gen ös­ter­rei­chi­schen So­zia­lis­ten aus dem bes­se­ren Ar­bei­ter­stand ken­nen, der in den Wie­ner Hoch­ver­ratspro­zess von Ober­win­der und Ge­nos­sen ver­wi­ckelt ge­we­sen, und ver­lob­te sich heim­lich mit ihm. Ich kann sie noch se­hen, wie sie ei­nes Ta­ges mit ih­ren wal­len­den Lo­cken und schwär­me­ri­schen Blau­au­gen vor mich trat, in je­der Hand eine bren­nen­de Ker­ze, viel­leicht um mich bes­ser zu er­leuch­ten, und mir ih­res Her­zens Will’ und Mei­nung kund­tat. Sie be­gann auch als­bald mit ih­rer hö­he­ren Bil­dung an dem jun­gen Mann zu mo­deln und zu schlei­fen und hat­te das be­weg­li­che Wie­ner Blut schnell so weit, dass sie ihn ih­rem Va­ter zu­füh­ren konn­te. Die­ser sträub­te sich ge­wal­tig, so­wohl ge­gen die Hei­rat wie ge­gen die Par­tei, aber der künf­ti­ge Schwie­ger­sohn über­schüt­te­te ihn mit so­zia­lis­ti­scher Li­te­ra­tur, und un­ter ih­ren end­lo­sen Re­de­kämp­fen er­eig­ne­te sich der selt­sa­me Fall, dass die bei­den Strei­ter sich ge­gen­sei­tig be­kehr­ten: der jun­ge mä­ßig­te sei­ne An­schau­un­gen und zog sich mehr von der Be­we­gung zu­rück, der alte trat ihr mit dem gan­zen Feu­er sei­ner Na­tur bei und wur­de der Pau­lus der neu­en Ge­mein­de, der er bis an sein Le­bens­en­de durch alle Nöte, An­fech­tun­gen und Ver­fol­gun­gen treu blieb. An ei­ner Block­hüt­te im Schur­wald bei Ess­lin­gen, wo er in sei­nen letz­ten Le­bens­jah­ren wo­chen­lang tiefein­sam zu hau­sen pfleg­te, hat ihm die dank­ba­re Par­tei sein Denk­mal er­rich­tet.

      In dem klei­nen Tü­bin­ger Krei­se wur­den jetzt an Stel­le der bis­he­ri­gen hu­ma­nis­ti­schen Fra­gen mit Lei­den­schaft die Schrif­ten von Proud­hon, Marx, Las­sal­le und Be­bel er­ör­tert. Als es ein­mal bei ei­ner sol­chen Sit­zung ganz be­son­ders ja­ko­bi­nisch zu­ging, frag­te ich: Wer­den in dem neu­en So­zi­al­staat auch Frau­en hin­ge­rich­tet, wenn sie an­de­rer Mei­nung sind? Worauf die deut­sche Ju­gend ein­stim­mig ant­wor­te­te: Die Frau­en wer­den stets ver­ehrt, sie mö­gen den­ken, wie sie wol­len. Vail­lant da­ge­gen er­klär­te mit un­er­schüt­ter­li­chem Ernst: Frei­lich müs­sen Frau­en hin­ge­rich­tet wer­den; sie sind von al­len Geg­nern die ge­fähr­lichs­ten, – was die mit­an­we­sen­de Hed­wig Wil­hel­mi zu stür­mi­schem Bei­fall hin­riss, weil er un­ser Ge­schlecht doch hö­her zu stel­len schei­ne als die an­dern. Man fühl­te ihm an, dass er im­stan­de war, blu­ti­gen Ernst zu ma­chen.

      In­zwi­schen wur­de trotz der Welt­ka­ta­stro­phe, die ich täg­lich mit Feu­er­zun­gen an­kün­di­gen hör­te, wei­ter ge­tanzt und Schlitt­schuh ge­lau­fen und das Recht der Ju­gend auf Ge­dan­ken­lo­sig­keit aus­genützt. Den Ball­staat sand­te Lili oder viel­mehr ihre Mut­ter fix und fer­tig aus dem ge­schmack­vol­le­ren Mainz. Da ka­men in großen Papp­schach­teln Din­ge, die in Tü­bin­gen nicht zu ha­ben wa­ren: ein rosa Tar­la­tan­kleid von solch hauch­ar­ti­ger Leich­tig­keit, dass erst sechs Spinn­we­brö­cke über­ein­an­der den ge­wünsch­ten Far­ben­ton er­ga­ben, der da­von die durch­sich­tigs­te Zart­heit er­hielt; dazu ein vol­ler Ro­sen­kranz für die Haa­re. Ein an­der­mal war es ein Kleid aus wei­ßen Tar­la­t­an­wol­ken mit schma­lem grü­nem At­las­band durch­zo­gen nebst ei­nem Schilf­zweig und Was­ser­ro­sen. Die­se Herr­lich­kei­ten konn­ten nur eine Nacht le­ben und kos­te­ten so gut wie gar nichts. An den An­sprü­chen des 20. Jahr­hun­derts ge­mes­sen wä­ren sie be­schei­den bis zur Arm­se­lig­keit, sie klei­de­ten aber ju­gend­li­che Ge­stal­ten feen­haft, und wenn man am Abend an­ge­zo­gen da­stand, lief die gan­ze Nach­bar­schaft zu­sam­men, um das Wun­der an­zu­stau­nen. Für min­der fei­er­li­che An­läs­se trug man wei­ße Mull­klei­der mit Fal­beln oder den so gern ge­se­he­nen blu­mi­gen Ja­ko­nett, der gleich­falls der Ju­gend rei­zend stand. Der Schnitt war der heu­ti­gen Mode sehr ähn­lich, in­dem man den Um­fang der nun­mehr ver­ewig­ten Kri­no­li­ne durch Wei­te des Rockes und Fül­le der Fal­ten er­setz­te.

      Man muss das Le­ben in ei­ner klei­nen Uni­ver­si­täts­stadt ken­nen, um zu ver­ste­hen, un­ter wel­chen Him­mels­zei­chen dort ein jun­ges Mäd­chen her­an­wuchs und was sol­che Fest­lich­kei­ten für sie be­deu­te­ten. Kei­ne Prin­zes­sin kann mehr ver­wöhnt wer­den. Tü­bin­gen be­saß ge­gen tau­send Stu­den­ten, lau­ter jun­ge Leu­te in der Le­bens­zeit, für die das an­de­re Ge­schlecht die größ­te Rol­le spielt. Und all die in der klei­nen Stadt zu­sam­men­ge­sperr­ten Ju­gend­ge­füh­le hat­ten sich auf we­ni­ge Dut­zend jun­ger Mäd­chen zu ver­tei­len, un­ter de­nen sich wie­der eine klei­ne Zahl Au­ser­wähl­ter be­fand. Die­se leb­ten wie jun­ge Göt­tin­nen in ei­nem be­stän­di­gen Ge­wöl­ke zu ih­nen auf­stei­gen­der Weih­rauch­düf­te: Blu­men­sen­dun­gen, Se­re­na­den, ge­schrie­be­ne Hul­di­gun­gen in Vers und Pro­sa bil­de­ten das Se­mes­ter hin­durch eine lan­ge Ket­te und wie­der­hol­ten sich im nächs­ten von an­de­rer Hand. Es brauch­te ent­we­der einen sehr fes­ten oder einen ganz all­täg­li­chen Kopf, um nicht ein we­nig aus dem Gleich­ge­wicht zu kom­men, oder Brü­der, die durch ihre Spott­lust die Ei­tel­keit nie­der­hiel­ten. Ne­ben den we­ni­gen be­freun­de­ten Ge­sich­tern, die man im­mer gern wie­der­fand, dräng­te sich auf je­dem Ball ein Hau­fe neu­er Er­schei­nun­gen her­an, die oft gar nicht mehr als ein­zel­ne, son­dern nur als Zahl wirk­ten. Die leich­ten wei­ßen oder rosa Ball­schüh­chen wa­ren meist schon zer­tanzt, be­vor der Ko­til­lon be­gann, dass man zu dem mit­ge­brach­ten Er­satz­paar grei­fen muss­te. So be­rau­schend sol­che Ball­aben­de wa­ren, dar­in auf­ge­hen wie an­de­re Mäd­chen konn­te ich nicht. Ich war ja stets die Jüngs­te, da mei­ne Jah­re mir ei­gent­lich den Ball­be­such noch gar nicht ge­stat­tet hät­ten. Gleich­wohl war im­mer ei­ner in mir, der ganz ge­las­sen zu­sah und die Sa­che als blo­ßes Schau­spiel be­trach­te­te. Und mein Va­ter, der nie­mals mit­ging, aber al­les rich­tig sah, brach­te die Ge­dan­ken die­ses einen in Wor­te, in­dem er war­nen­den Freun­den sag­te: Lasst sie, je frü­her sie die Tor­hei­ten mit­macht, je eher wird sie da­mit fer­tig sein. Er be­hielt recht, denn als ich in das ei­gent­li­che ball­fä­hi­ge Al­ter trat, lag die gan­ze süße Ju­gen­dese­lei schon hin­ter mir.

      Von ir­gend­ei­nen. Zu­kunfts­plan war kei­ne Rede. Oft wur­de ich von Be­kann­ten ge­fragt, warum ich nicht zur Büh­ne gin­ge, wo­hin mich äu­ße­re An­la­gen zu wei­sen schie­nen. Es war dies mein liebs­ter, heim­lichs­ter Traum. Aber alle Hilfs­mit­tel fehl­ten; ich hat­te noch nicht ein­mal Ge­le­gen­heit ge­habt, ein bes­se­res Thea­ter zu se­hen als die Tü­bin­ger Som­mer­schmie­re. Und die ängst­li­chen Ab­mah­nun­gen welter­fah­re­ner Freun­de fie­len mei­nem Va­ter schwer aufs Herz, der wohl wuss­te, dass ich nicht die hür­ne­ne Haut be­saß, die stich­fest macht im Rän­ke­spiel des Künst­ler­le­bens. Ei­nes Ta­ges fand mich Ed­gar, wie ich auf den Rat ei­ner thea­ter­kun­di­gen Freun­din