die ganze Germania, schrieb sie schön ins Reine und überreichte sie meiner Mutter, die nun wieder ganz mit mir zufrieden war. Sie berichtete dem alten Freund Bacmeister in Reutlingen meine Leistung, und dieser verehrte mir in kollegialer Anerkennung je ein Druckstück seiner eben erschienenen Tacitus- und Sallustübersetzungen.
Und zur Belohnung führte mich Mama auf den ersten Ball nach Niedernau. Niedernau! Könnte ich dem Wort nur etwas von dem Zauber einhauchen, den es in Mädchenohren besaß. Man denke sich ein bescheidenes, lieblich ernstes Schwarzwaldtal, von Tannen umstanden, von einem Bächlein durchflossen; daselbst ein anspruchsloses Kurhaus mit einem großen Tanzsaal, der an sich kein Schaustück war, der sich aber zur Sommerzeit an den Nachmittagsstunden der Sonn- und Donnerstage in ein Stück Jugendparadies verwandelte. Junge Mädchen in den duftigen Sommerkleidern damaliger Mode aus Mull oder Jakonett, die den Trägerinnen das Ansehen von Wiesenblumen gaben, Studenten in Couleur, geduldige Mütter an den Wänden, Geigenschrillen, Tanzgewirbel; niemand fragte, wie hoch das Thermometer stand. Der Kotillon ging meist in ein förmliches Rasen aus, denn bei der Überzahl der Herren mussten viele ohne Tänzerinnen bleiben und hielten sich dann beim Kehraus schadlos. Jeder Tänzer hing seiner Dame einen Mooskranz um den Arm, und an der Zahl der Kränze sah man, wie oft sie aus der Tour geholt worden war. Die heimgeschleppten Kränze hing man dann zu Hause als Trophäen auf. Kontertänze wurden zuweilen im Freien auf dem Rasen getanzt, was noch hübscher war, und in der Zwischenzeit gingen die Paare auf den nahen Waldwegen spazieren. Auf der Heimfahrt schlossen sich einzelne Tänzer den Familien an, das waren solche, die im Trunk enthaltsam gewesen. Die anderen vollführten im Eisenbahnwagen ein dämonisches Singen und Grölen, was zwar nicht sehr rücksichtsvoll gegen die Damen war, aber doch nicht als gröbliche Verletzung des Anstands aufgefasst wurde, da man von der studentischen Jugend an vieles gewöhnt war. Mein erster Balltag in Niedernau fiel gerade auf Mamas Geburtstag. Als wir am Abend kränzebeladen und freudensatt – denn sie genoss meine Jugendfreuden fast mehr als ich selber – nach Hause fuhren, holten uns Ernst und Edgar am Bahnhof ab. Sie hatten zuvor das Haus mit bunten Laternen behängt und auf dem Geburtstagstisch lustige poetische Gaben eigenen Erzeugnisses ausgebreitet, in denen die kindliche Seele der Empfängerin schwelgte. Auch mir wurde ein Heldengedicht im Nibelungenstil aus Ernsts Feder überreicht, das die ungeheuerlichen Reckentaten bekannter studentischer Persönlichkeiten für ihre Ballschönen besang, eine grotesk-heroische Fortsetzung eben genossener Ballfreuden, zum Nachklang der Geigen in meinem Ohr gestimmt. Noch drolliger war ein späteres Gedicht in Makamenform, das zwei Angehörige feindlicher Korporationen, in die Namen Kampfwart der Schöne und Siegwolf durchsichtig vermummt, einen fürchterlichen Einzelkampf ausfechten ließ, wobei der unbezwingliche Siegwolf mit der blauweißroten Schärpe doch gefällt wurde und der schöne Kampfwart neben der wallenden schwarzrotgoldenen Fahne als Sieger stand. Alle diese Helden führten fortan neben ihrem wirklichen noch ein mythisches Dasein, denn der Verfasser setzte seine Gesänge eine geraume Weile fort.
Die überschwengliche Freundschaft der beiden Jünglinge erstieg allmählich einen Gipfel, auf dem sie sich nach dem Gesetz des Irdischen nicht lange halten konnte. Ihre schönsten Stunden verlebten sie noch auf einer Schwarzwaldreise, zu der sie sich in der nachfolgenden Sommervakanz zusammenfanden. Der ältere Freund, der jetzt schon Student war, hatte sich die Mittel dazu ganz insgeheim buchstäblich am Munde abgespart, sonst wäre die Genehmigung seiner Eltern nicht zu erlangen gewesen. Sie stiegen zuerst in dem uns befreundeten Hopfschen Pfarrhaus in Pfalzgrafenweiler ab und wanderten anderen Tags der Hornisgrinde zu. Bei sinkender Nacht an schwelenden Meilern vorüber, an deren Glut, die er für Irrlichter hielt, Edgar sich hineinspringend die Sohlen versengte, gerieten sie todmüde vor eine Waldherberge, die ganz dem Hexenhaus des Märchens glich. Auf ihr Klopfen zog ein altes Weib, das einsam dort hauste, nach vielen misstrauischen Fragen über ihre Zahl und Körpergröße die Falltür auf und ließ die zwei jugendlichen Wanderer eintreten. Während sie ihnen beim Schein ihrer Stallaterne einen herrlichen Pfannkuchen buk, mussten die beiden sich im Dunkeln behelfen und wurden hernach ohne Umstände in eine unheimliche Rumpelkammer hinaufgeführt, wo ein großes Bett stand, und dort wieder im Dunkeln gelassen. Gerade über dem Bett befand sich eine breite offene Luke, von der man nicht wusste, wohin sie ging: sie konnte Räubern zum Einlass dienen. Die Fantasie der beiden war so aufgeregt von dem sonderbaren Empfang, dass sie mit jeder Möglichkeit rechneten. Edgar, der unter dem Eindruck des Walthariliedes stand, sagte: Jetzt sind wir in derselben Lage wie Walther und Hildegund am Wasgenstein. Wir wollen es machen wie sie und uns in die Nachtwachen teilen, damit uns kein Feind überrasche. Übernimm du die erste Nachtwache und wecke mich, wenn es Zeit ist, damit ich die zweite halte. Der andere versprach’s. Dann umschlangen sie sich kampf- und todbereit und entschliefen beide auf der Stelle. Als der Morgen mit Vogelgesang und Tannenduft durchs Fenster sah, erwachten sie ungemordet und rüsteten sich zum Weitermarsch. Die Hexe labte sie mit köstlicher Milch und Schwarzbrot. Den Tee, den mein besorgtes Mütterlein ihnen zum Frühstück mitgegeben hatte, stellte die Alte als Salat zubereitet daneben mit der verwunderten Bemerkung: Dass ihr schon am frühen Morgen dürres Gras essen mögt! – Dann brachen sie auf, erreichten unter großen Strapazen am anderen Abend Kehl, wo sie nüchtern, wie sie noch vom Morgen her waren, sich nicht einmal die Zeit ließen, zu rasten und sich zu stärken, so unaufhaltsam zog sie’s nach Straßburg, der »wunderschönen Stadt«. Allein beide hatten noch gar nicht gelernt, mit Nutzen zu reisen, so durchrannten sie nur planlos die Straßen, staunten zum Münster hinauf, erhielten auf ihr mühsam zusammengeleimtes Französisch allenthalben zu ihrer Verwunderung deutsche Antworten und trugen von dem kurzen Besuche nichts davon als das Bedauern, diese urdeutsche Stadt in fremden Händen zu wissen. In der Dunkelheit kehrten sie über die lange Rheinbrücke, die jetzt endlos schien, nach Kehl zurück; der Rheinstrom rauschte dumpf, die Müdigkeit wurde entnervend, jeder Begegnende, dessen Schritte ihnen im Finstern entgegenhallten, schien Böses im Schilde zu führen, und der zarte Knabe sagte zu dem starken Freund: Wenn man nicht ein Mann wäre, könnte man sich fürchten.
Auf dem Heimweg machten sie noch in Renchen Halt und erkundigten sich im Auftrag unseres Vaters, der sich um jene Zeit wieder mit Studien zum Simplizissimus beschäftigte, auf dem dortigen Friedhof nach dem Grabe des Verfassers. Allein der Name Grimmelshausen war dort gänzlich unbekannt. Sie waren aber trotz der geringen Ausbeute, die sie von der