Empfehlung Ludwig Pfaus, der ihn von Paris her kannte, bei uns eingeführt. Er war damals siebenundzwanzig Jahre alt und hatte bereits promoviert. Schon Vaillants Äußeres bezeichnete den ganzen Menschen: mittelgroße, hagere Gestalt, bleiches Gesicht mit buschigem, schwarzem Haar, Züge, die bis zur Verzerrung unharmonisch waren, und dunkle, flackernde Augen, in denen der Fanatismus brannte. Im Betragen jedoch gewinnend durch Bescheidenheit, seine Erziehung und persönliches Wohlwollen. Keine Spur von gallischer Eitelkeit, aber auch nichts von der vielgerühmten Grazie seiner Landsleute. Das Sprechen leidenschaftlich, aber abstrakt und farblos. Ich ging ja noch in Kinderschuhen, als Vaillant unser Haus zum ersten Mal betrat, aber auch für Kinderaugen war diese Erscheinung völlig durchsichtig, und ich glaube nicht, dass sein späteres Leben an dem Bild, das ich von ihm bewahre, viel geändert hat. Aus dem Städtchen Vierzon im Departement Cher gebürtig und selber jener besitzenden Bourgeoisie, die er so sehr hasste, entstammend, widmete Vaillant von früher Jugend seine Kräfte und Mittel der Sache des Proletariats. Er gehörte der Blanquistischen Richtung an und hatte schon im Jahre 1864 in London die erste Internationale mitbegründen helfen. Vom Staatssozialismus, der nach Reformen strebt, wollte er nichts wissen; sein A und O war der soziale Umsturz. Die Revolution von 1793 hatte nach ihm ihr Werk nur halb getan: sie sollte durch das Proletariat erneuert und mit Niederhaltung der bevorrechteten Klassen zum republikanischen Sozialstaat durchgeführt werden. Der Proletarier war für ihn der einzig wahre Mensch; ich besitze noch ein Jugendbild von ihm, worauf er selbst in der Arbeiterbluse dargestellt ist. Auch die ausgebreiteten Kenntnisse, die er sich erwarb – er trieb neben seinem Fach noch deutsche Philosophie, besonders Hegel, und sozialwirtschaftliche Studien –, hatten vor allem den Zweck, der Partei zu dienen.
Meine Mutter nahm bei ihrer Hinneigung zu französischem Wesen und ihrem feurigen Glauben an die drei magischen Formeln der Revolution den stillen, ernsten Vaillant mit großer Herzlichkeit auf, und dieser verbrachte manche Stunde in unserem Hause. Zumeist in Gesellschaft seines Gesinnungs- und Studiengenossen, des geistig strebsamen, charaktervollen Artur Mülberger, der zum eisernen Bestand unseres kleinen Kreises mitgehörte. Es war ein äußerlich und innerlich sehr ungleiches Freundespaar. Dem blonden, seelenruhigen Schwaben war der Sozialismus eine wissenschaftliche Aufgabe, der heißblütige Franzose, zu jedem Äußersten bereit, wartete nur auf den Augenblick zur Tat. Mein Vater, dem sein Amt und die literarische Arbeit ohnehin wenig Zeit für Geselligkeit ließen, schätzte in dem französischen Hausfreund die Reinheit und geradezu katonische Ehrenhaftigkeit des Charakters, aber innere Berührungspunkte hatte er keine mit ihm. Denn es gebrach Vaillant bei völliger Abwesenheit der Fantasie an jeder Spur einer künstlerischen Ader, die Welt des Schönen war ihm verschlossen, er sah alle Dinge durch die Brille seiner radikalen Dogmatik an. Überhaupt hing ein Schleier zwischen ihm und dem Leben. Einmal begegnete er auf der Straße meinem Vater, als dieser gerade zu seinem herzkranken Jüngsten heimging, und schüttelte ihm erfreut die Hand mit der Mitteilung, dass er unmittelbar von einem Pockenkranken komme …
Für Deutschland hegte Vaillant damals eine Bewunderung ähnlich der des Tacitus für unsere Voreltern. Die Einfachheit des äußeren Lebens hatte es dem Bedürfnislosen angetan. Dass die Geselligkeit sich zumeist in der freien Natur abspielte, gab ihm einen Schmack Rousseauscher Ursprünglichkeit. Aber Jugendfreuden kannte er nicht. Auch auf den Ausflügen blieb er immer ernst und gemessen. Er philosophierte mit meiner Mutter oder spielte aus Gefälligkeit mit meinen jüngeren Brüdern, doch er lachte nie. Einmal traf ihn bei solcher Gelegenheit im Schwarzwaldbad Imnau der Balken einer Drehschaukel so schwer an die Stirn, dass er ohnmächtig wurde und mit vielen Nadeln genäht werden musste. Da war der Röteste aller Jakobiner voller Zartheit nur bemüht, meiner Mutter und mir den Anblick der Wunde zu entziehen. Ganz besonders sagte ihm der freie und unschuldige Verkehr der Geschlechter zu. Dass ein junges Mädchen ohne schützende Korridortür in einem Hause wohnen konnte, dessen Unterstock ein die halbe Nacht hindurch belebtes Studentencafé war, setzte ihn in das größte Erstaunen. Er sprach mit bitterem Schmerz von der sittlichen Verkommenheit des Empire, und auch über die Rasseeigenschaften seiner Landsleute äußerte er sich ganz unumwunden. Ich erinnere mich, wie er einmal von ihrer sinnlich-grausamen Anlage sagte, der Gallier habe statt des Blutes Vitriol in den Adern.
Die große Verehrung, die er für meine Eltern empfand, gab ihm sogar den Wunsch ein, sich der Familie noch näher zu verbinden, denn er übertrug mit der Zeit sein Freundschaftsgefühl für die Mutter auch auf die heranwachsende Tochter. Aber dem Kinde war seine düstere Einseitigkeit zu fremd und unheimlich, auch hatte er bei aller Vorliebe für das deutsche Leben nicht begriffen, dass in Deutschland der Weg ins Herz der Tochter nicht über die Eltern geht. Seine humorlose Überzeugungstreue, die ganz barocke Formen annehmen konnte, gab steten Anlass zu einem kleinen scherzhaften Kriege. So erheiterte er mich einmal durch den Rat, nicht auf dem Pferd sondern lieber auf dem Esel zu reiten, weil das Pferd das Aristokratentier sei. Aber er hielt es meiner Jugend zugute, dass ich für seine Theorien nicht zu gewinnen war, und versicherte, ich sei dennoch très révolutionnaire, weil er sah, wie mich das Spießbürgertum meiner freien Erziehung wegen aufs Korn genommen hatte. Révolutionnaire war in seinem Munde das höchste Lob. Er hetzte das arme Wort zu Tode, indem er es auf alle möglichen und unmöglichen Dinge anwandte, daher wurde es für uns Jüngere ein Neckwort, und sein Ringen mit der deutschen Sprache nannte ich la grammaire révolutionnaire. Er beherrschte das Deutsche vollkommen, nur Artikel und Aussprache blieben ihm unerringbar. Meinen so leichten Vornamen lernte er niemals sprechen, sondern nannte mich immer auf altfranzösisch: Mademoiselle Yseult.
Im folgenden Jahre kam auch seine Mutter nach Tübingen und schloss einen Freundschaftsbund mit der meinigen trotz der Grundverschiedenheit der Lebensauffassungen, die beiden nicht ins Bewusstsein trat. Die treffliche Dame wurzelte mit all ihren Neigungen und Gewohnheiten in dem wohlhabenden Bourgeoistum, dem der Sohn den Untergang geschworen hatte. Aber aus vergötternder Mutterliebe zwang sie sich so zu denken wie er dachte und alles zu bewundern, was ihm gefiel. Auch dem einfachen Tübinger Leben suchte die an alle Verfeinerungen gewöhnte Frau Geschmack abzugewinnen, so fern ihrem wahren Wesen die Rousseauschen Ideale standen. Mir brachte sie die größte Herzlichkeit entgegen und wollte mich gleich ganz unter ihre Fittiche nehmen. Bei der Abreise